EuGH verkündet Grundsatzentscheidung im Asylrecht

(Christopher Hörster)

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am 21. Dezember 2011 eine zentrale Entscheidung zum Gemeinsamen Asylsystem der Europäischen Union (EU) verkündet (C-411/10). Erwartungsgemäß urteilte der Gerichtshof, dass die Überstellung von Asylsuchenden in Mitgliedstaaten, in denen sie aufgrund von systemischen Mängeln im Asylverfahren einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären, gegen die Charta der Grundrechte der EU (Charta) verstoße und daher nicht erfolgen dürfe.

Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 21. Januar 2011 Belgien und Griechenland wegen Verstößen gegen die EMRK im Zusammenhang mit Asylverfahren verurteilt hatte (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 136), war nun auch der EuGH berufen, über die Überstellung von Asylsuchenden in andere EU-Mitgliedstaaten zu entscheiden.

Eine solche Überstellung von Asylsuchenden erfolgt in der EU auf Basis der Dublin-II-Verordnung. Der Mitgliedstaat, den der Asylsuchende zuerst betritt, ist nach dieser Verordnung für die Prüfung des Asylgesuches grundsätzlich zuständig. Stellt beispielsweise ein durch Griechenland eingereister Asylsuchender einen Asylantrag in Deutschland, so kann er ohne jegliche Prüfung des Asylantrags nach Griechenland überstellt werden. Die Dublin-II-Verordnung sieht allerdings eine Möglichkeit für Mitgliedstaaten vor, einen eingereichten Asylantrag freiwillig selbst zu prüfen, auch wenn eigentlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig wäre (sog. Selbsteintrittsrecht, Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung).

Zunächst stellten die Richter klar, dass eine Überstellung nach der Dublin-II-Verordnung in einen anderen Mitgliedstaat nicht erfolgen dürfe, wenn "nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens (…) für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden." Die Mitgliedstaaten dürften zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass andere Mitgliedstaaten die Grundrechte achteten, diese Vermutung dürfe aber eben nicht unwiderlegbar sein. Gerade in diesem Verbot der unwiderlegbaren Vermutung, dass in anderen Mitgliedstaaten die Grundrechte eingehalten würden, liegt der Fortschritt des Urteils. Vor systemischen Mängeln im Asylverfahren, die zu einer unmenschlichen Behandlung der Flüchtlinge führen, dürfen die Mitgliedstaaten die Augen nicht länger verschließen.

Diese somit im Grundsatz zu begrüßende Entscheidung bleibt allerdings in anderen wesentlichen Punkten hinter dem von Generalanwältin Trstenjak Geforderten zurück. Die Gefahr einer erniedrigenden Behandlung muss zunächst so evident sein, dass sie dem überstellenden Mitgliedstaat "nicht unbekannt sein kann", was eine hohe Hürde darzustellen scheint. Ferner muss die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung aus systemischen Mängeln des Asylverfahrens resultieren, was dem Wortlaut nach einer Überstellung in einer Situation, in der lediglich im Einzelfall eine unmenschliche Behandlung droht, nicht entgegensteht.

Des Weiteren beschränkt der EuGH das Überstellungsverbot auf Fälle, in denen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, also eine Verletzung des Art. 4 der Charta, droht. Trstenjak hatte in ihrem Schlussantrag dagegen gefordert, dass jede drohende Verletzung der in der Charta verbürgten Grundrechte zu einem Überstellungsverbot führen solle.

Eine weitere zentrale Abweichung stellt die Interpretation des Selbsteintrittsrechts (siehe oben) dar. Trstenjak hatte in ihrem Schlussantrag die Meinung vertreten, dass, im Fall einer wegen drohender Grundrechtsverletzung nicht möglichen Überstellung, der Aufenthaltsstaat selber gezwungen sei, das Asylgesuch zu prüfen, den Selbsteintritt also auszuüben. Der EuGH verneinte diesen Automatismus. Sollte eine Überstellung wegen drohender unmenschlicher Behandlung nicht möglich sein, solle erst anhand der anderen Kriterien der Verordnung versucht werden, den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen. Nur falls dies "unangemessen lange" dauern sollte, müsse der Aufenthaltsstaat den Asylantrag selbst prüfen. Dies erscheint problematisch, weil insofern keine direkte rechtliche Verpflichtung zum Selbsteintritt besteht und der Terminus "unangemessen lange", gerade im Bezug auf ein Verwaltungsverfahren, relativ unbestimmt erscheint.

Die richterliche Klarstellung bezüglich der Grundrechtsbindung im Asylbereich ist zwar erfreulich, doch bleibt abzuwarten, ob das Urteil in der Praxis den erhofften, durchschlagenden Effekt erreichen wird. Da auf politischer Seite der Wille, die gravierenden Mängel im europäischen Asylverfahren zu beheben, nicht ersichtlich ist, bleibt ungewiss, ob eine umfassende und nachhaltige Besserung in naher Zukunft erfolgt.

Das Urteil finden Sie unter:



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