Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 131

Türkei: Eine sehr gemischte Bilanz

(Patrick Roger Schnabel)

Am 14. Oktober 2009 legte die Europäische Kommission (KOM) ihre jährlichen Fortschrittsberichte über die Beitrittsverhandlungen mit den Kandidatenländern vor, darunter auch den Bericht über die Türkei. Nach Einschätzung der KOM erfüllt das Land „die politischen Kriterien nach wie vor in ausreichendem Maße“. Zudem habe es den Verhandlungen mit der Ernennung eines Chef-Unterhändlers und der Einsetzung eines Nationalen Programmes für die Einführung des gemeinschaftsrechtliche Besitzstandes (acquis communautaire) wieder höhere Priorität eingeräumt.

Gleichwohl lässt die Regierung in Ankara in einigen entscheidenden Punkten die Reformanstrengungen vermissen, die nötig wären. Dies trifft insbesondere für die Bereiche Meinungs- und Pressefreiheit, Bekämpfung von Folter und Misshandlungen, sowie – aus kirchlicher Sicht besonders bedeutsam – die Religionsfreiheit zu.

So bleibt das Hauptproblem vieler nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften bestehen, keine Rechtspersönlichkeit erlangen und damit nicht am Rechts- und Geschäftsleben teilnehmen zu können. Erwerb oder Erhalt von Liegenschaften, Anstellung von Mitarbeitern etc. werden so erschwert oder unmöglich. Die Ausbildung der Geistlichen ist ebenfalls immer noch nicht möglich; das theologische Seminar in Halki bleibt geschlossen. Allerdings gab es im letzten Jahr Diskussionen über eine Wiedereröffnung. Das Ökumenische Patriarchat ist weiter unter Druck: Der ekklesiastische Titel des Patriarchen darf nicht öffentlich geführt werden, die Ämter sind nur türkischen Staatsbürgern zugänglich, was 2007 noch einmal gerichtlich bestätigt wurde. Der verpflichtende muslimische Religionsunterricht ist - trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) - weiter auch für Minderheiten wie die Aleviten verpflichtend. Massive Probleme treten weiterhin vor allem beim Erwerb und Erhalt von Liegenschaften auf – wofür die politischen Prozesse um den Besitz des syrischen Klosters Mor Gabriel nur ein Beispiel ist. Der EGMR hat die Türkei in drei Fällen verurteilt, Eigentumsrechte christlicher Kirchen verletzt zu haben.

Trotz dieser bleibenden Probleme gibt es auch ermutigende Zeichen, insbesondere von Seiten der Regierungspartei AKP und ihrer Vertreter. Aber auch in Justiz und Verwaltung zeigen sich in einigen Bereichen Fortschritte – mehr Respekt vor den Eigenarten und den Rechten religiöser und ethnischer Minderheiten. So wurden dem Ökumenischen Patriarchat Arbeitserlaubnisse für ausländische Priester genehmigt. Es gab Gespräche der Regierung mit Vertretern der Minderheiten über ihre Probleme. Besonders ist man auf die Aleviten zugangen: Der Kulturminister hat sich sogar öffentlich für erfolgte Benachteiligungen entschuldigt. In drei Städten wurden die Cem-Häuser als Gebetsstätten anerkannt und den Moscheen gleichgestellt – in anderen bleiben sie jedoch nicht anerkannt.

Die Umsetzung des neuen Stiftungsgesetzes hat begonnen und erfolgt ohne erkennbare Schwierigkeiten. Allerdings endete die Frist zur Einreichung von Anträgen auf Wiedererstattung konfiszierten Eigentums der nicht-muslischen Gemeinschaftsstiftungen erst am 27. August. Daher lässt sich über das – in der Vergangenheit schon mehrfach gescheiterte – Registrierungs- und Rückerstattungsverfahren noch keine Aussage treffen. Das neue Gesetz hat allerdings keine Vorschrift für Eigentum getroffen, das nach der Enteignung weiter verkauft oder mit anderem konfiszierten Stiftungseigentum verschmolzen wurde.

Ermutigend ist auch das Zugehen der Regierung auf die kurdische Minderheit. Das seit 1982 bestehende Verbot der Sprache ist aufgehoben. Ein öffentlicher kurdischer Fernsehsender wurde eingerichtet, Straßenschilder werden zweisprachig bedruckt. Auch der langjährige Konflikt mit Armenien ist formell beigelegt (s. Kurze Meldungen).

Für die schleppende Umsetzung der Reformen gibt es mehrere Gründe. Die wichtigsten sind die Zerstrittenheit der Parteien im Parlament und der Widerstand der alten kemalistischen Verwaltung gegen viele der Reformen, die den Bosporusstaat näher an die EU und die Gewährleistung von Menschenrechten, insbesondere der Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit bringen sollen. Oft braucht es daher mehrere Instanzen, bis dubiose Urteile aufgehoben werden. Die Regierung steht für die anderen politischen Kräfte im Verdacht, nationale Interessen zu verraten. Die überwundene Verfassungskrise und die erfolgreichen Schläge gegen die Geheimorganisation Ergenekon sind Anzeichen, dass sie trotz des Widerstands eine zunehmend gefestigte Position einnimmt.

Haupthindernis für die Verhandlungen mit der EU ist daher die Zypernfrage. Solange die Türkei das Zollabkommen mit der EU nicht auch für Zypern gelten lässt, wird die EU den Abschluss begonnener Verhandlungskapitel aufschieben und die acht ganz blockierten Kapitel nicht eröffnen.

Die Fortschrittsberichte finden Sie unter:
http://ec.europa.eu/enlargement/press_corner/key-documents/reports_oct_2009_en.htm



erweiterte Suche