Keine Hürde auf dem Weg nach Straßburg - Bundesverfassungsgericht kippt Sperrklausel bei Europawahlen

(Martin Kasperek)

Am 26. Februar 2014 hat das Bundesverfassungsgericht die im deutschen Europawahlgesetz festgeschriebene Drei-Prozent-Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt, da diese den Prinzipien der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlrechtsgleichheit entgegenstehe. Mit einer ähnlichen Argumentation hatten die Karlsruher Richter bereits im November 2011 die noch bei den letzten Europawahlen 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel gekippt (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 138).

Drei Monate vor den Europawahlen wurde damit der Klage von mehr als 1000 Einzelpersonen sowie 19 kleineren Parteien stattgegeben. Zu den klagenden Parteien gehörten auch die rechtsextreme NPD, die eurokritische „Alternative für Deutschland" (AfD), die Freien Wähler und die Piratenpartei. Durch die Aufhebung der Sperrklausel haben diese nun eine reelle Chance, im nächsten Europaparlament vertreten zu sein, denn es genügt bereits etwa ein Prozent der Stimmen, um einen Sitz zu erlangen.

Die Verfassungsrichter argumentieren, dass das Europaparlament - im Gegensatz zum Deutschen Bundestag - die Sperrklausel nicht benötige, um seine Funktionsfähigkeit zu sichern. Während sich auf nationaler Ebene eine stabile Regierungsmehrheit gegenüber der Opposition formieren müsse, sei diese Situation im Europaparlament vielleicht politisch angestrebt, liege aber tatsächlich noch nicht vor. Der im parlamentarischen System klassische Antagonismus von Regierung und Opposition stecke in Straßburg laut den Richtern noch „in den Anfängen". Die Richter erkennen zwar die politischen Bestrebungen nach mehr Demokratisierung, unter anderem durch die erstmalige Benennung von Spitzenkandidaten (siehe voranstehender Artikel), sehen aber auch ohne Sperrklausel die Mehrheitsfindung im Parlament nicht gefährdet. Betont wird, dass die Entscheidung lediglich den aktuellen Verhältnissen geschuldet sei. Der Gesetzgeber könne zukünftig auf neue politische Entwicklungen reagieren und die verfassungsrechtliche Beurteilung sei dann möglicherweise anders.

Die Kläger zeigten sich erfreut darüber, dass nun keine Wählerstimme mehr „verschenkt" werde. Die Diskussion über „verschenkte" Stimmen und die Notwendigkeit einer Sperrklausel bei Wahlen in Deutschland war schon vor dem jüngsten Karlsruher Urteil laut geworden: Bei den Bundestagswahlen 2013 konnten ganze 15,7 Prozent der Stimmen (2009: 6,0 Prozent) nicht berücksichtigt werden, da die gewählten Parteien wegen der Sperrklausel nicht ins Parlament einziehen konnten.

Vertreter von CDU/CSU und SPD verteidigten aber die Sperrklausel und übten Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Gerade in der Bundesrepublik habe man gute Erfahrungen gemacht mit der Sperrklausel, die 1949 als Reaktion auf die Parteienzersplitterung in der Weimarer Republik eingeführt wurde. Eine ähnliche Zersplitterung des Parlaments und der weitere Einzug kleiner Parteien seien nun in Straßburg zu befürchten.

Europaabgeordnete von CDU und CSU warfen den Verfassungsrichtern zudem vor, das Europaparlament gering zu schätzen und seine Arbeit nicht gut genug zu kennen. Vor allem seit dem Vertrag von Lissabon habe dieses an Bedeutung gewonnen und benötige sehr wohl stabile Mehrheiten, nicht nur für die Wahl des Kommissionspräsidenten und der Kommissionsmitglieder, sondern auch für die tägliche Arbeit der Gesetzgebung. Diese Realität habe Karlsruhe nach Ansicht der Abgeordneten nicht erkannt. Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach sogar von einem „Europa-Skeptizismus" in den Reihen des Verfassungsgerichts. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, dass Karlsruhe nicht verstanden habe, „wie die Demokratie auf europäischer Ebene funktioniert".

Fest steht: Nach dem Urteil könnten Vertreter ex-tremistischer, populistischer, europaskeptischer und europafeindlicher Parteien als Abgeordnete ohne Fraktionsbindung stärker als bisher die Arbeit des Europaparlaments behindern und stören, indem sie Fundamentalopposition betreiben. Um dies zu vermeiden, gilt es vor allem, diese Parteien im Wahlkampf durch inhaltliche Auseinandersetzung zu stellen - dies ist noch viel wichtiger, als mit den Instrumenten des Wahlrechts ihren Einzug ins Parlament zu verhindern.

Die demokratischen Parteien, die Europa zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger nach vorne bringen wollen, sollten nun noch besser erklären, warum eine hohe Wahlbeteiligung notwendig ist und diese Europawahlen nicht als Protestwahlen missbraucht werden dürfen. Denn je höher die Wahlbeteiligung ist, desto höher liegt auch die Anzahl der Stimmen, die zum Erreichen eines Sitzes gebraucht würde.



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