„Europa gemeinsam gestalten“

(Katrin Hatzinger)

Am 25. Mai 2014 finden in Deutschland die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Von diesen Wahlen hängt in hohem Maße die Europapolitik der nächsten Jahre, aber auch das Bild Europas in der Öffentlichkeit ab. Noch stärker als in den Jahren zuvor machen sich populistische und extremistische Parteien bereit, einen Sitz im Europäischen Parlament zu erringen, um von dort gegen die europäische Idee Stimmung zu machen.

Die andauernde Staatsschulden- und Finanzkrise hat das Vertrauen vieler Menschen in das europäische Projekt geschwächt. Die Spar- und Reformpolitik in der EU verlangt besonders den Schwächsten große Opfer ab. Armut und Arbeitslosigkeit sind in einigen Mitgliedstaaten der EU weiterhin erschreckend hoch. Die Perspektivlosigkeit junger Menschen in verschiedenen europäischen Ländern ist Nährboden für Radikalisierung und Instabilität. Nationale Stereotypen erleben Wiederauferstehung und eine Rückkehr in die Geborgenheit des Nationalstaats erscheint manch einem verheißungsvoll. Europaskepsis und Politikverdrossenheit nehmen zu.

Doch neben den wirtschaftlichen und politischen Baustellen gibt es meines Erachtens noch ein viel grundlegenderes Problem. Es fehlt Europa an Tiefgang, an Seele, an Vision und an einer jungen Generation überzeugter Europäerinnen und Europäer, die bereit sind, für die europäische Sache engagiert einzustehen und sich mit europäischer Politik differenziert auseinandersetzen. Dazu kommt, dass es in Deutschland oft an dem Bewusstsein mangelt, Europapolitik als Innenpolitik zu betrachten, mit der Folge, dass man meint, sie deshalb in einen Spezialausschuss des Bundestags abschieben zu können. Die Gesetzesvorhaben, die in Brüssel auf den Weg gebracht und dann vom Europäischen Parlament in Straßburg verabschiedet werden, gehen uns aber alle an und sind mindestens so relevant wie die Gesetze aus dem Bundestag, beruhen doch viele der „deutschen" Gesetze auf Vorgaben aus Brüssel. Deshalb hat Deutschland im Ministerrat ja auch eine gewichtige Rolle mitzureden, was aber gern in der Öffentlichkeit unerwähnt gelassen wird.

Diese Bestandsaufnahme macht nachdenklich und stimmt im Hinblick auf die Zukunft pessimistisch. Nur wenn sich die Europäer nicht auseinander dividieren lassen, kann die Europäische Union gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Das Jahr 2014 ist ein Jahr des europäischen Gedenkens: an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 und den des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren sowie an 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Aus dem Impetus „Nie wieder Krieg" ist 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl entstanden. Ohne das vereinte Europa wäre der Fall der Mauer 1989 undenkbar gewesen. Europa hat in den letzten 100 Jahren viel dazu gelernt. Auf diesem kollektiven Lernprozess gilt es aufzubauen.

Wie kostbar der Frieden in Europa und wie wertvoll die Errungenschaften der EU bei der Bewahrung von Frieden, Wohlstand und Freiheit durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit sind, wird uns angesichts der Entwicklungen in der Ukraine vor Augen geführt. Zudem sind seit Ausbruch der Staatsschulden- und Finanzkrise auch viele Reformen auf den Weg gebracht worden, die gemeinsame europäische Antworten in den Vordergrund stellen: So wird die Regulierung der Finanzmärke in Europa vorangetrieben, die Weichen für die Wirtschafts- und Währungsunion werden in Brüssel gestellt. Langsam, aber sicher erholt sich die Wirtschaft in den Krisenländern und es zeigen sich Erfolge bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Positiv lässt sich festhalten, dass Europa durch die Krise wieder ein Stück enger politisch und institutionell zusammengewachsen ist. Seit 2008 hat die Aufmerksamkeit für europäische Themen in den nationalen Medien merklich zugenommen, auch interessieren wir uns mehr für die Politik unserer Nachbarn.

Der Wahlkampf für die anstehenden Europawahlen soll dieses Mal ein wirklich europäischer sein. Deshalb stellen die Parteien erstmals europäische Spitzenkandidaten auf, die um die Gunst der Wähler in den 28 Mitgliedstaaten werben und ihre Ideen für das Europa von morgen diskutieren.

Kandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) ist der frühere luxemburgische Ministerpräsident und langjährige Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker. Für die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) kandidiert der jetzige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. Die deutsche Europaabgeordnete Ska Keller und der Franzose José Bové wurden in einer für alle offenen Vorwahl zum Spitzenduo der Europäischen Grünen Partei bestimmt. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) hat den früheren belgischen Premierminister Guy Verhofstadt als Spitzenkandidaten aufgestellt. Für die Europäische Linke tritt Alexis Tsipras (derzeit griechischer Oppositionsführer) an. Sie alle konkurrieren um den Posten des Kommissionspräsidenten. Er wird vom Europäischen Parlament auf Vorschlag des Rates der EU, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, gewählt. Die Mitgliedstaaten sollen bei ihrem Vorschlag das Ergebnis der Europawahlen „berücksichtigen" - hierbei handelt es sich um eine Neuerung durch den Vertrag von Lissabon. Die oder der Nominierte soll also aus der Parteienfamilie stammen, die die meisten Stimmen erhalten hat. Ob das im Ergebnis auch so eintreten wird, bleibt abzuwarten, allerdings verspricht das Rennen um den Posten an der Spitze der EU-Kommission endlich ein wenig Schwung in den oft drögen Europawahlkampf zu bringen. Mit Schulz und Juncker haben die Parteien zwei erfahrene Politiker ausgewählt, denen es gelingt, Europa zu kommunizieren und mit eigener Programmatik Akzente zu setzen.

Im Europawahlkampf haben in der Vergangenheit vor allem nationale oder regionale Themen dominiert, die leichter zu vermitteln sind. Die Europawahlen wurden dann als willkommene Gelegenheit gesehen, den etablierten Parteien einmal einen Denkzettel zu verpassen. Die Europawahl 2014 erneut als Protestwahl - das wäre eine verpasste Chance. Dazu sind die Herausforderungen in den nächsten Jahren zu groß, ob es nun um einen Durchbruch in den internationalen Klimaverhandlungen, eine menschenwürdige Asylpolitik, ein europäisches Datenschutzregime oder eine gemeinsame europäische Stimme in der Außenpolitik geht. Die Aufstellung europäischer Spitzenkandidaten, die sich in einen politischen Wettstreit um europäische Themen begeben, ist daher ein erster Schritt hin zu mehr Transparenz und Öffentlichkeit.

Es ist äußerst bedauerlich, dass Europa immer noch als Thema für elitäre Zirkel von Wirtschafts- oder Politikexperten gilt und der europäische Gedanke oft auf den Euro reduziert wird. Es bedürfte eines größeren Einsatzes aus der Zivilgesellschaft, Europa in Denkschriften, auf Podien, an Akademien, in Jugendverbänden, in Kirchengemeinden etc. zu thematisieren und im Bewusstsein zu verankern.

Europa - das sind wir nämlich alle, von Zagreb bis Helsinki. Die EU besteht aus der Summe ihrer Teile. Europa und Brüssel gleichzusetzen, ist ein Kurzschluss, der in die Sackgasse führt. Insofern ist es ein wichtiger Bildungsauftrag, Interesse an EU-Themen zu wecken, damit sich die Menscheninformiert einmischen können. Hier sehe ich auch die Kirchen und die Vielfalt ihrer Einrichtungen und Verbände noch stärker in der Pflicht, Europa zu ihrer Sache zu machen. Zwar gibt es in der vielfältigen kirchlichen Landschaft und den evangelischen Einrichtungen schon eine Reihe von Initiativen,
z. B. bei der Diakonie Deutschland, der aej, der Evangelischen Frauen oder dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, aber insgesamt könnte noch viel mehr passieren.

Oft schreckt die Komplexität europäischer Entscheidungsprozesse gepaart mit Halbwahrheiten und Fehlinformationen sowie kolportierten Beispielen für unsinnige Brüsseler Bürokratie viele Menschen davon ab, sich vertiefter mit europäischen Fragen zu befassen. Auch der Ruf nach „mehr Europa" löst vielfach eher Unbehagen als Zustimmung aus. Hier gilt es, Klarheit zu schaffen und Politikbereiche und politische Verantwortung klar zuzuordnen. Nicht alles muss europäisch geregelt werden. Es gibt aber Politikfelder, die können in einer globalisierten Welt vernünftigerweise nur gemeinsam gestaltet werden. Wie wir uns das Europa der Zukunft vorstellen, wie Partizipation gestärkt werden könnte, wie Subsidiarität und Solidarität versöhnt werden können, was uns an Europa stört - alle diese Fragen sollten nicht allein in interessierten Fachkreisen, sondern auch in der Zivilgesellschaft debattiert werden. Auch dort gehören sie hin.

Unter der Überschrift „Europa zu unserer Sache machen" heißt es im Wort der EKD „Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa": „Als EKD wollen wir Europa gemeinsam mit den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften so mitgestalten, dass es auch ‚unser‘ Europa ist und bleibt, ein Europa aller Bürgerinnen und Bürger, ein Europa, mit dessen Politik wir uns identifizieren können. Wir wollen es mitgestalten - nicht nur über unsere Mitgliedstaaten und die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern direkt als christliche Bürgerinnen und Bürger, in unseren Verbänden und Gemeinden, in sozialen Initiativen, ökumenischen Partnerschaften und Kooperationsprojekten, als Christinnen und Christen mit unserem Handeln wie mit unserem Gebet. Wir leben Europa schon heute auf vielerlei Weise, vom Gemeindeaustausch bis zur Kooperation in den ökumenischen Institutionen Europas. Darin liegt die Zukunft: Europa leben, damit Europa leben kann!"

Dazu gehört auch, auf europäischer Ebene „Politik möglich zu machen", nicht durch überzogenes Pathos, sondern durch kritisches Nachfragen. Sich für Europa zu engagieren, kann durchaus auch heißen, über den Kurs Europas zu streiten. Gleichgültigkeit und Desinteresse gilt es zu überwinden, dafür steht zu viel auf dem Spiel.

In jedem Fall sollten wir uns am 25. Mai beteiligen und durch unsere Stimme mitentscheiden, damit nicht Extremisten und Rechtspopulisten von einer geringen Wahlbeteiligung profitieren. Deshalb werden der Vorsitzende des Rates der EKD, Dr. Nikolaus Schneider, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, auch dieses Mal wieder ihren traditionellen Aufruf zu den Europawahlen veröffentlichen.

Wer sich im Vorfeld der Wahlen noch einmal grundsätzlich mit der Arbeit des Europäischen Parlaments, seinen Zuständigkeiten und dem Wahlverfahren beschäftigen möchte, dem sei die Lektüre des Leitfadens zu den Europawahlen empfohlen, den Sie auf der Website des EKD-Büros Brüssel finden:



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