Umsetzung vor Gestaltung / Sicherheit vor Schutz: Die Zukunft der europäischen Innenpolitik?

(Susanne Herkommer / Katrin Hatzinger)

In diesem Jahr läuft das Stockholmer Programm aus, das Mehrjahresprogramm der EU im Bereich Innenpolitik von 2009 bis 2014. Die Festlegung der Politik für die nächsten fünf Jahre steht an. Am 11. März 2014 hat die Europäische Kommission ihre Mitteilung mit Vorschlägen zur Zukunft der EU-Innenpolitik präsentiert. Zuvor hatte sie hierzu eine öffentliche Konsultation durchgeführt, an der sich auch das EKD-Büro Brüssel beteiligt hat. Im Juni 2014 werden die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat strategische Richtlinien beschließen und damit die Entscheidung über die Ausrichtung der EU-Innenpolitik der nächsten Jahre treffen. Ein neues Mehrjahresprogramm mit politischem Aktionsplan wird es damit also nicht geben.

In ihrer Mitteilung betont die Kommission die Erfolge und Fortschritte der Gesetzgebung im Bereich EU-Innenpolitik in den letzten fünf Jahren und verweist insbesondere auf die Verabschiedung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im letzten Jahr. Für die kommenden fünf Jahre will sie den Schwerpunkt im Wesentlichen auf Konsolidierung, Umsetzung und Durchsetzung des Erreichten legen. Das Europäische Asyl- und Unterstützungsbüro (EASO) soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Überwachung und Evaluierung der Implementierung in den einzelnen Mitgliedstaaten müsse entscheidender Teil des anstehenden Planungszeitraums sein.

Beim Umgang mit Asylsuchenden mahnt die Kommission mehr Verantwortung und Solidarität an. Dabei solle unter anderem die Umsiedlung („relocation") von Flüchtlingen z. B. aus Malta in andere Mitgliedstaaten der EU gefördert werden. Die Kommission regt auch eine Reflektion über weitere Maßnahmen zur Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten an, ohne jedoch konkrete (Gesetzgebungs-)Vorschläge vorzulegen. Sie nennt die gemeinsame Bearbeitung von Asylanträgen oder die Zusammenlegung von Aufnahmekapazitäten im Fall von Notsituationen. Die Vorschläge bleiben aber extrem interpretationsbedürftig. Eine Reform des Dublin-Systems, wie etwa in der Stellungnahme des EKD-Büros vorgeschlagen, kommt in der Mitteilung nicht zur Sprache. Es gibt allerdings einen Verweis auf die in der Praxis niemals zur Anwendung gelangte Richtlinie zur Gewährung von vorübergehendem Schutz im Fall eines Massenzustroms (2011/55/EG). Der Rechtsrahmen sollte evaluiert und ggf. praktischer und flexibler gehandhabt werden.

Im Hinblick auf legale Zugangsmöglichkeiten für Schutzsuchende in die EU legt die Kommission den Schwerpunkt auf Regionale Schutzprogramme und die Neuansiedlung von Flüchtlingen (Resettlement) und betont, wie bescheiden der bisherige Beitrag der EU in diesem Bereich sei. Im Hinblick auf geschützte Einreiseverfahren könnte eine koordinierte Herangehensweise an humanitäre Visumsvergabe und gemeinsame Leitlinien ein weiterer Schritt sein, um Resettlement zu ergänzen. Auch hier bleibt die Mitteilung allerdings sehr vage. Die Kommission betont zudem, es müssten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, um weitere Tragödien auf dem Mittelmeer zu verhindern. Sie verweist im Folgenden jedoch im Wesentlichen auf das Grenzüberwachungssystem Eurosur, das die Kooperation zwischen Frontex und den Mitgliedstaaten verbessern und damit zur Rettung von Leben auf dem Mittelmeer beitragen werde. Im Bereich Zuwanderung zeigt die Mitteilung die Notwendigkeit der Konsolidierung des bestehenden Rechtsrahmens hin zu einem kohärenteren gemeinsamen System auf. Das könnte als ein vorsichtiges Abschiednehmen vom sektorspezifischen Regelungsansatz hin zu einer umfassenden Regelung interpretiert werden, wie sie Kirchen und NGOs seit Langem fordern. Der Abschnitt ist jedoch recht verklausuliert gehalten.

Wie zu erwarten sind die Ausführungen der EU-Kommission insgesamt wenig ambitioniert und enthalten keine konkreten Vorschläge für Gesetzesinitiativen. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf Umsetzung und Evaluierung. Dies ist eine verpasste Chance, in den nächsten fünf Jahren Mängel im Rechtsrahmen zu beheben und Schutzlücken zu schließen. In seinem Beitrag zur öffentlichen Konsultation zur Zukunft der EU-Innenpolitik hat zwar auch das EKD-Büro Brüssel eine stringente Umsetzung der bestehenden Rechtsinstrumente gefordert, aber dabei betont, dass die Umsetzung des Erreichten allein nicht ausreichen kann.

Das Drama vor der Mittelmeerinsel Lampedusa im Herbst 2013 hat erneut verdeutlicht, wie wichtig eine Reform der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik ist. Menschenrechte und Menschenwürde müssen dabei Richtschnur sein. Das Dublin-System muss dringend reformiert werden. Mehr Solidarität unter den Mitgliedstaaten und eine gerechte Teilung der Verantwortung wären angebracht. Ein Vorschlag, den man genauer untersuchen sollte, wäre dabei, den Asylsuchenden die Entscheidung für das Aufnahmeland zu überlassen, wobei Sprache, familiäre Bindungen und berufliche Qualifikationen einbezogen würden, sowie eine entsprechende finanzieller Kompensation unter den Mitgliedstaaten. Hier will die Kommission immerhin einen Reflektionsprozess über eine verbesserte Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten anstoßen.

Bei den legalen Zugangsmöglichkeiten zur EU wäre ein konkreterer Ansatz wünschenswert gewesen. Das EKD-Büro hatte die Kommission in seiner Stellungnahme aufgefordert, kreativ zu sein und alle denkbaren Optionen für geschützte Einreiseverfahren und Visaerleichterungen für Flüchtlinge zu prüfen, um zu verhindern, dass Menschen sich Schleppern anvertrauen und gefährliche illegale Einreisewege nach Europa in Kauf nehmen. Zu begrüßen ist allerdings das Bekenntnis der Kommission zu einem Ausbau des europäischen Resettlement-Programms. Eine Konkretisierung der Vorstellungen der Kommission zur Zukunft der EU-Einwanderungspolitik bleibt in der Mitteilung leider aus. Die EU bräuchte dringend ein einheitliches und zukunftsfähiges Einwanderungssystem, das verbesserte Zugänge für Arbeitsmigranten bietet. Beim Grenzmanagement und im Rahmen von Frontex-Einsätzen müssen der Schutz von Menschenleben und die Achtung der Menschenrechte absoluten Vorrang haben. Es ist enttäuschend, dass die Kommission im Hinblick auf die Seenotrettung im Wesentlichen auf Eurosur baut. Dieses ist lediglich ein System zum Datenaustausch, trifft aber keinerlei Regelungen zur Zuständigkeit für die konkrete Rettung Schiffbrüchiger.

Schließlich ist zu begrüßen, dass die Kommission sich im Einklang mit Kirchen und NGOs dafür ausspricht, die Debatte über innenpolitische Maßnahmen auf der Grundlage von Fakten zu führen. Die zum Teil populistische und fremdenfeindliche Debatte um die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Vorfeld der Europawahlen hat dies besonders deutlich gemacht (siehe nachfolgender Artikel).



erweiterte Suche