Recht auf Familie - Leitlinien der Kommission zur Familienzusammenführungsrichtlinie

(Susanne Herkommer)

Am 3. April 2014 hat die Europäische Kommission eine Mitteilung mit Leitlinien zur Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie veröffentlicht.

Die Familienzusammenführungsrichtlinie aus dem Jahr 2003 (Richtlinie 2003/86/EG) regelt die Bedingungen für den Nachzug der Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der EU aufhalten. Dabei behalten die Mitgliedstaaten jedoch einen gewissen Gestaltungsspielraum und können über die Anwendung gewisser Anforderungen entscheiden.

Schon in ihrem Bericht aus dem Jahr 2008 hatte die Kommission festgestellt, dass einige Bereiche der Richtlinie von den Mitgliedstaaten nicht ordnungsgemäß umgesetzt werden (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 142). Die Zivilgesellschaft hat sich daraufhin gegenüber der Kommission für die Erarbeitung von Leitlinien zu den problematischen Aspekten der Familienzusammenführungsrichtlinie eingesetzt, um auf diese Weise Fehlentwicklungen zu korrigieren. In dem nun veröffentlichten Papier macht die Kommission deutlich, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung nach dem Gesetzestext die Regel ist und Ausnahmeregelungen eng ausgelegt werden müssen. Die Familienzusammenführungsrichtlinie solle den Familiennachzug erleichtern und nicht etwa erschweren oder verhindern, so die Kommission. Der den Mitgliedstaaten zustehende Ermessenspielraum dürfe nicht zur Aushöhlung des Ziels der Richtlinie führen. Die rechtlich nicht verbindlichen Leitlinien sollen den Mitgliedstaaten dabei unter anderem mit praktischen Fallbeispielen eine Orientierungshilfe geben.

Als übergeordnetes Prinzip bei der Familienzusammenführung weist die Kommission unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf die erforderliche Einzelfallbewertung hin. „Kein Faktor darf für sich genommen automatisch zu einer Entscheidung führen; jeder Faktor muss als einer der relevanten Faktoren Teil der Gleichung sein." Dies gelte auch für das von einigen Mitgliedstaaten festgelegte Mindestalter für den nachziehenden Ehepartner. Dieses dürfe nicht als genereller Grenzwert verwendet werden, dessen Unterschreitung eine automatische Ablehnung des Gesuches zur Folge habe. Die Kommission weist darauf hin, dass Zweck des Mindestalters allein die Ermöglichung einer besseren Integration und die Verhinderung von Zwangsehen sein dürfe. Ergebe die Einzelfallprüfung, dass insoweit keine Bedenken bestehen, müsse die Familienzusammenführung auch bei Unterschreitung des Mindestalters genehmigt werden. Auch von Mitgliedstaaten festgelegte Referenzbeträge für die vom Antragssteller nachzuweisenden ausreichenden Einkünfte dürften eine Einzelfallprüfung nicht ersetzen. Auch hier dürfe keine automatische Ablehnung bei darunter liegenden Einkünften erfolgen. Die Kommission geht im Weiteren auf eine Vielzahl von Aspekten ein, die von der Definition der Berechtigten, über das Antragsverfahren, die Genehmigungsvoraussetzungen, die Einreise und den Zugang zu Erwerbstätigkeit und eigenem Aufenthaltstitel für die Familienangehörigen bis hin zum Vorgehen gegen Missbrauch reichen.

Ein für Deutschland besonders relevanter Aspekt ist die Zulässigkeit von obligatorischen Integrationsmaßnahmen vor dem Zuzug der Familienangehörigen. Diese dürfen ausschließlich der Erleichterung des Integrationsprozesses dienen und keinesfalls zur Begrenzung der Familienzusammenführung genutzt werden, so die Leitlinien. Die Integrationsmaßnahmen könnten daher keine absolute Bedingung für die Genehmigung der Familienzusammenführung darstellen. Sie müssten mit der erforderlichen Flexibilität angewandt werden und Ausnahmeregelungen vorsehen, um auf die Besonderheiten des einzelnen Falls reagieren zu können. Die Kommission betont dabei, dass Integrationsmaßnahmen nach Ankunft im Aufnahmeland häufig wirksamer sind, als Maßnahmen, die schon vor Einreise verlangt werden. Derzeit läuft ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Seit 2007 macht das deutsche Recht die Genehmigung des Familiennachzugs davon abhängig, dass sich der nachziehende Ehegatte zumindest auf einfache Art und Weise auf Deutsch verständigen kann. Diese Anforderung stellt häufig eine unüberwindbare Hürde dar, da nicht in jedem Land deutsche Sprachkurse zugänglich sind und nicht alle potentiellen Nachziehenden über die erforderliche Lese- und Schreibkompetenz verfügen. Nahezu jeder Dritte fällt durch den geforderten Sprachtest und kann deshalb nicht zu seinem Ehegatten nach Deutschland nachziehen. Die Kommission ist der Auffassung, dass die deutsche Regelung gegen die Familienzusammenführungsrichtlinie verstößt, da sie eine unverhältnismäßige Behinderung des Familiennachzugs bewirkt. Die Leitlinien bekräftigen diese Rechtsauffassung. Sollte Deutschland nicht einlenken, ist mit einem Verfahren vor dem EuGH zu rechnen.

Den Rechten von Flüchtlingen und Menschen, die vorübergehenden oder subsidiären Schutz genießen, ist in den Leitlinien ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin führt die Kommission die den Flüchtlingen gemäß der Familienzusammenführungsrichtlinie zustehenden günstigeren Bedingungen näher aus. So dürfe beispielsweise die Ablehnung der Familienzusammenführung hier nicht ausschließlich mit dem Fehlen von amtlichen Unterlagen zur Feststellung familiärer Bindungen begründet werden, da es Flüchtlingen aufgrund ihrer besonderen Situation oftmals nicht möglich ist, diese zu beschaffen. Hinsichtlich der Menschen, die vorübergehenden oder subsidiären Schutz genießen und daher von der Familienzusammenführungsrichtlinie anders als Flüchtlinge nicht erfasst sind, fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, ihnen vergleichbare Rechte zuzuerkennen.

Abschließend ruft die Kommission die Mitgliedstaaten auf, allen Antragstellern detaillierte und verständliche Informationen über das Antragsverfahren zur Verfügung zu stellen. Sie regt dabei an, praktische Leitfäden zu erstellen, die auch in die Sprache des Landes übersetzt werden sollen, in dem der Antrag gestellt wird.

Die Leitlinien zur Familienzusammenführung sind sehr zu begrüßen. Viele Forderungen der Zivilgesellschaft und der Kirchen sind von der Kommission aufgegriffen worden. Auch wenn die Leitlinien keine rechtliche Bindungswirkung entfalten, stellen sie eine wertvolle Auslegungshilfe dar, die künftig von den befassten Gerichten für die europarechtkonforme Auslegung des nationalen Rechts herangezogen werden kann. Das Recht auf Familienleben ist ein Grundrecht, das in der EU Menschenrechtscharta, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in den nationalen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten geschützt wird. Die Kommission macht dies in ihren Leitlinien deutlich und hebt die praktischen Auswirkungen dieses Grundrechts im Rahmen der Familienzusammenführung hervor. Sie erteilt Praktiken der Mitgliedstaaten, die durch unverhältnismäßige Anforderungen den Nachzug von Familienangehörigen zu begrenzen versuchen, eine klare Absage. Es ist zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten auf die Leitlinien reagieren und ihre nationale Rechtslage und Praxis entsprechend anpassen. Ansonsten wird es weiterhin Aufgabe der nationalen und europäischen Gerichte sein, nunmehr auch unter Zuhilfenahme der von der Kommission bereitgestellten Auslegungshilfe, die Europarechtswidrigkeit nationaler Regelungen und Verfahrensweisen festzustellen.



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