Wer betrügt, der fliegt? - Vorschläge der deutschen Staatssekretäre zur EU-Binnenmigration

(Susanne Herkommer)

Am 26. März 2014 wurde in Berlin der Zwischenbericht des Staatssekretärsausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten" vorgestellt. Der Ausschuss war per Kabinettsbeschluss vom 8. Januar 2014 durch die Bundesregierung eingesetzt worden. Hintergrund ist die Debatte über die sogenannte „Zuwanderung in die Sozialsysteme", ausgelöst durch Hilferufe einiger Kommunen, die sich mit der Zuwanderung einer Vielzahl bedürftiger EU-Bürger, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, überfordert sehen. Der abschließende Bericht des Ausschusses soll im Juni 2014 vorgelegt werden.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit erlaubt es EU-Bürgern, in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten oder eine Arbeit zu suchen (siehe EKD-Europa-Informationen Nr. 144). Nicht erwerbstätige EU-Bürger können sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Die aktuelle Diskussion dreht sich im Kern allerdings weniger um die Frage des Aufenthaltsrechts von EU-Bürgern sondern vielmehr um den Zugang zu den Sozialsystemen. EU-Bürger, die im Aufnahmemitgliedstaat arbeiten, haben den gleichen Anspruch auf Sozialhilfe und Leistungen der sozialen Sicherheit wie Inländer. Also auch auf die sogenannte „Aufstockung" ihres Einkommens, falls dieses für die Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht ausreichen sollte. Für arbeitsuchende Unionsbürger können die Mitgliedstaaten den Anspruch auf Sozialhilfe ausschließen. Deutschland hat auch die Leistung von Arbeitslosengeld II („Hartz IV") für arbeitsuchende EU-Bürger pauschal ausgeschlossen. Ob dies zulässig ist, wird derzeit vom Europäischen Gerichtshof entschieden. Sonstige nicht erwerbstätige EU-Bürger können in ihrem Gastland Sozialhilfe beantragen. Bei einer „unverhältnismäßigen Belastung" für das Sozialsystem kann das Gastland in diesem Fall die betreffenden EU-Bürger jedoch nach einer Einzelfallprüfung ausweisen. Familienleistungen, wie beispielsweise Kindergeld, können erwerbstätige EU-Bürger sowie nichterwerbstätige EU-Bürger beziehen. Letztere jedoch nur, sofern sie ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat haben. Am 13. Januar 2014 hat die Europäische Kommission einen Leitfaden zur Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts für die Zwecke der sozialen Sicherheit veröffentlicht, um den Mitgliedsstaaten die Beurteilung zu erleichtern.

Der Zwischenbericht des Staatssekretärsausschusses nimmt eine umfassende Bestandsaufnahme der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten vor. Der größte Teil der Zugewanderten bestreite seinen Lebensunterhalt als Arbeitnehmer selbst und übe das Freizügigkeitsrecht im Einklang mit den europäischen und nationalen Regelungen aus, stellt der Bericht zunächst fest. „Wir müssen jedoch auch anerkennen, dass mit der Zuwanderung auch erhebliche Probleme verbunden sein können", heißt es weiter in dem Papier. Der Missbrauch durch eine Minderheit müsse auf Grundlage des geltenden EU-Rechts wirksam bekämpft werden. Der Bericht schlägt einen Katalog an Hilfen für besonders betroffene Kommunen und Maßnahmen zur Verhinderung eines Missbrauchs des Freizügigkeitsrechts vor. Insbesondere sollen in Missbrauchsfällen befristete Wiedereinreisesperren verhängt werden können. Gemäß der Freizügigkeitsrichtlinie dürfen EU-Bürger im Falle von Betrug ausgewiesen werden. Die Verhängung einer Wiedereinreisesperre ist jedoch nicht vorgesehen. In dem Staatssekretärsbericht wird jedoch davon ausgegangen, dass eine Sperre dennoch zulässig wäre, da die in der Richtlinie vorgesehene Ausweisung ansonsten nicht effektiv umgesetzt werden könne. Den Mitgliedstaaten stünde insofern ein Gestaltungsspielraum zu. Ausdrücklich geregelt ist eine Wiedereinreissperre in der Freizügigkeitsrichtlinie allerdings nur für Fälle, in denen das persönliche Verhalten des EU-Bürgers eine wirkliche, andauernde und hinreichend ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Diese Anforderungen stellen eine hohe Hürde dar. Selbst strafrechtliche Verurteilungen können für sich genommen eine Wiedereinreisesperre nicht ohne Weiteres begründen.

Daneben schlägt das Papier die gesetzliche Befristung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche vor. Arbeitsuchende dürfen nach der EU-Freizügigkeitsrichtlinie nicht ausgewiesen werden, wenn sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. „Nach einer gewissen Zeit stellt sich die Frage, ob die Arbeitssuche Aussicht auf Erfolg haben kann.", so der Zwischenbericht. Daher solle eine Befristung eingeführt werden, allerdings mit der Möglichkeit, den Gegenbeweis zu führen. Ein konkreter Zeitraum, auf den die Arbeitsuche beschränkt werden soll, wird in dem Bericht nicht genannt.

Zudem soll verstärkt gegen Scheinselbständigkeit und vorgetäuschte Erwerbstätigkeit sowie gegen missbräuchlichen Bezug von Familienleistungen (Kindergeld) vorgegangen werden. Dies soll vor allem durch verstärkte Prüfpflichten der Behörden, schärfere Strafnormen und Behördenzusammenarbeit geschehen.

Um die betroffenen Kommunen zu unterstützen, wird im Zwischenbericht vorgeschlagen, das Programm „Soziale Stadt" sowie Programme aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen (FEAD) zielgerichtet auf die kommunalen Probleme zuzuschneiden und entsprechend finanziell auszustatten.

Die Europäische Kommission will die endgültigen Vorschläge des Staatsekretärsausschusses abwarten, bevor sie ihre Bewertung abgibt. Tatsächlich wird erst dann zu beurteilen sein, ob sich die Vorschläge im Rahmen des EU-Rechts halten oder das Freizügigkeitsrecht unzulässig einschränken.

Die Freizügigkeit ist eine Grundfreiheit und ein Grundpfeiler der Europäischen Union. Beschränkungen unterliegen zu Recht hohen Anforderungen. Ob eine Wiedereinreisesperre auch in Fällen, in denen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit festgestellt wird, diesen Anforderungen genügen kann, ist fraglich. Bei der Beschränkung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche wird es auf einen angemessenen Befristungszeitraum ankommen. Eine Befristung auf unter sechs Monate dürfte europarechtlich kaum haltbar sein. Gegen Missbrauch und Betrug im Rahmen der EU-Freizügigkeit vorzugehen, ist wichtig und ein berechtigtes Anliegen der Bundesregierung. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass die Bundesregierung dabei nicht über das Ziel hinaus schießt und tatsächlich, wie es in dem Zwischenbericht heißt, zur EU-Freizügigkeit steht. Schließlich ist festzuhalten, dass mobile EU-Bürger Sozialleistungen grundsätzlich nicht intensiver in Anspruch nehmen als Inländer, wie eine unabhängige Studie im Auftrag der Europäischen Kommission ergeben hat. Die große Mehrheit der EU-Bürger, die von der Freizügigkeit Gebrauch machen, tut dies, um im Aufnahmemitgliedstaat eine Arbeit aufzunehmen.



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