Gewalt gegen Frauen - Jede dritte Frau in der Europäischen Union ist betroffen

(Anne M. Müller)

Am 5. März 2014 hat die Europäische Grundrechteagentur (European Union Agency for Fundamental Rights, FRA) einen Bericht mit dem Titel „Gewalt gegen Frauen: Eine EU-weite Erhebung" veröffentlicht. Er beinhaltet die Ergebnisse einer in diesem Umfang noch nicht dagewesenen Erhebung über Gewalt gegen Frauen. Die Initiative zu dieser Erhebung geht auf eine Anfrage des Europäischen Parlaments (EP) nach Daten zu Gewalt gegen Frauen zurück, die auch von den EU-Mitgliedstaaten unterstützt wurde.

Im Rahmen von persönlichen Interviews, die bei den zufällig ausgesuchten Frauen zuhause geführt wurden, wurden Daten zu körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt erhoben. Die Fragen zielten sowohl auf Erfahrungen seit dem 15. Lebensjahr, insbesondere innerhalb der letzten zwölf Monate, als auch auf Kindheitserlebnisse. Ebenfalls berücksichtigt wurden Erfahrungen von sexueller Belästigung und Stalking am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und im Internet. Damit deckt diese Erhebung ein sehr großes Spektrum an Erfahrungsbereichen ab. Insgesamt wurden 42.000 Frauen in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten befragt, wobei in jedem Mitgliedsstaat durchschnittlich 1.500 Interviews geführt wurden. Die Antworten können als repräsentativ für in der EU lebende Frauen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren gelten.

Vertreter der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission sowie Mitglieder des EPs und von Nichtregierungsorganisationen bezeichneten die Ergebnisse der Erhebung als erschütternd: 33 Prozent der Frauen in der EU haben seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, das heißt jede dritte Frau ist betroffen. Dies entspricht etwa 62 Millionen Frauen in der EU. Deutschland liegt mit 35 Prozent knapp über dem europäischen Mittelwert. In irgendeiner Form sexuell belästigt - in einem Drittel der Fälle vom Vorgesetzten, Kollegen oder Kunden - wurden sogar mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent). Auch hier liegt Deutschland mit 60 Prozent über dem Durchschnitt. Des Weiteren hat jede zehnte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form der sexuellen Gewalt erfahren, und jede zwanzigste wurde vergewaltigt. Etwas mehr als jede fünfte Frau hat körperliche und/oder sexuelle Gewalt entweder von dem/der derzeitigen oder früheren PartnerIn erfahren und etwas mehr als jede zehnte Frau hat angegeben, dass sie vor ihrem 15. Lebensjahr eine Form der sexuellen Gewalt durch Erwachsene erfahren hat. Dennoch meldeten lediglich 14 Prozent bzw. 13 Prozent der Frauen der Polizei ihre schwerwiegendsten Gewalterfahrung. Von sog. Stalking, also von wiederholter Kontaktaufnahme durch Anrufe, soziale Medien, Auflauern vor der Wohnung oder am Arbeitsplatz sind 18 Prozent der Befragten schon einmal betroffen gewesen. In der Gruppe der berufs- und in Führungspositionen tätigen Frauen geben sogar 75 Prozent an, mindestens einmal sexuell belästigt worden zu sein.

Mit Vorsicht zu betrachten sind Vergleiche der Ergebnisse zwischen den Mitgliedsstaaten. Zwar sprechen die puren Zahlen dafür, dass die meisten Fälle körperlicher und/oder sexueller Gewalt in Skandinavien vorkommen (Dänemark 52 Prozent, Finnland 47 Prozent, Schweden 46 Prozent), während der Süden Europas vergleichsweise gut abschneidet (Italien, Portugal, Spanien u. a. zwischen 10 und 19 Prozent). Diese Befunde verwundern in Anbetracht der Tatsache, dass die nordischen Staaten im Vergleich zum Süden im Allgemeinen als vorbildlich bei Gleichberechtigung und Frauenrechten gelten.

Die Autoren der Studie warnen deshalb auch vor voreiligen Schlüssen in die eine oder andere Richtung und nennen mögliche Gründe für regionale Unterschiede: Man müsse berücksichtigen, wie weit in einem Land die Gleichberechtigung der Geschlechter insgesamt voran geschritten ist. Das beeinflusse nämlich die gesellschaftliche Akzeptanz über Gewalterfahrungen zu sprechen, bzw. unerwünschte Annäherungen als Gewaltakt bzw. als sexuelle Belästigung zu bezeichnen. „Fälle von Gewalt gegen Frauen werden in Gesellschaften mit besserer Gleichstellung mit größerer Wahrscheinlichkeit offen angesprochen und hinterfragt", so die Studie. Weitere Zusammenhänge zu gewalttätigen Übergriffen sieht die Studie im nationalen Ausgeh- und Trinkverhalten von Männern und Frauen sowie im Urbanisierungsgrad und der damit zusammen hängenden Kriminalitätsrate eines Landes.

Gewalt gegen Frauen ist, wie die FRA-Erhebung hinreichend dokumentiert, ein weit verbreiteter Verstoß gegen die Menschenrechte, über den weder die EU-Institutionen noch die EU-Mitgliedsstaaten hinwegsehen dürfen. Morten Kjaerum, FRA-Direktor, fordert daher zu Recht: „Die Zeit ist reif, eine breit angelegte Strategie zur wirksamen Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf den Weg zu bringen." Als Konsequenz sollten beispielsweise alle Mitgliedsstaaten der EU die sog. Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt unterzeichnen und ratifizieren. Die Konvention wurde im Mai 2011 vom Europarat verabschiedet und ist das erste rechtsverbindliche regionale Instrument in Europa, das sich umfassend mit Gewalt und Belästigung gegen Frauen beschäftigt. Bislang haben jedoch lediglich drei Staaten (Österreich, Italien, Portugal) das Übereinkommen ratifiziert. 20 EU-Mitgliedsstaaten haben es unterzeichnet. Außerdem sollten groß angelegte Präventions-, Aufklärungs-, Beratungs- und Schutzmaßnahmen ergriffen und Sensibilisierungskampagnen angestoßen werden, die speziell Opfer bzw. potentielle Opfer unterstützen sollen. Des Weiteren verlangen Mitglieder des EP, dass die EU-Kommission geschlechtsbezogene Gewalt stärker rechtlich berücksichtigt und regelmäßig Datenerhebungen vornehmen lässt. Von der Kommission wird zu bedenken gegeben, dass die EU keine gesetzgeberische Kompetenz in diesem Bereich habe, weil Kriminalstatistiken und Präventionsmaßnahmen in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fielen.

Die Berichterstatterin der interparlamentarischen FEMM-Gruppe (EP-Ausschuss „Rechte der Frau und Gleichstellung der Geschlechter) „Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen", Antonyia Parvanova (MEP, Bulgarien, ALDE), forderte die Kommission zudem auf, drei Jahre lang ein EU-Jahr zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen zu etablieren, mit dem Ziel, ein größeres Bewusstsein für dieses Thema unter den EU-Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen. Der griechische Ratsvorsitz will das Thema auf die Agenda des nächsten Rates für Justiz und Inneres im Juni 2014 setzen.

Der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) gibt in Bezug auf die Auswahl der Interviewpartnerinnen zu bedenken, dass Migrantinnen nur teilweise und asylsuchende Frauen bzw. Flüchtlinge nahezu gar nicht von der Studie berücksichtigt werden konnten, da die Gesprächspartnerinnen nachvollziehbarer Weise mindestens eine Amtssprache ihres Wohnsitzlandes beherrschen mussten. Der UNHCR fordert die EU-Institutionen seinerseits ebenfalls nachdrücklich dazu auf, geschlechterbezogene Gesetzesrahmen zu schaffen, die auch diese Personengruppen berücksichtigen.

Auch Kirchen und kirchliche Einrichtungen stehen in der Verantwortung, Maßnahmen zur Prävention jeglicher Art von Übergriffen gegenüber Frauen und Kindern vorzuhalten sowie Beratung und Aufklärung anzubieten. Die Broschüre „Hinschauen - Helfen - Handeln" der EKD aus dem Jahr 2012 ist ein gutes Beispiele für solche Maßnahmen.



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