"Dialog mit Europa" - Der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag auf europäischer Ebene

Leitartikel

(OKR´in Katrin Hatzinger)

Neben der Rolle als kirchendiplomatische Vertretung bei den europäischen Institutionen erfüllt das EKD-Büro seit nunmehr 20 Jahren die klassischen Aufgaben eines (kirchen-)politischen Verbindungsbüros. Es informiert als Teil der Dienststelle des Bevollmächtigten die EKD, ihre Gliedkirchen und Werke über aktuelle politische Entwicklungen und speist umgekehrt in enger Abstimmung mit dem Kirchenamt in Hannover und der Berliner Dienststelle kirchliche Positionen in den europäischen Diskussions- und Entscheidungsfindungsprozess ein.

Im Frühjahr 1990 nahm das EKD-Büro unter der Leitung des Juristen OKR Hans-Joachim Kiderlen seine Arbeit auf. Davor wurden die Belange der EKD auf der europäischen Bühne von der Europäischen Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS) wahrgenommen. Jedoch verstärkte sich mehr und mehr der Eindruck, dass die spezifischen Gegebenheiten der deutschen staatskirchenrechtlichen Situation in dieser Form nicht genügend berücksichtigt und gegenüber den Institutionen nicht energisch genug vorgetragen werden konnten. Auch das ist ein Grund dafür, warum sich die Tradition etablierte, dass die Leitung des Büros künftig stets in juristischer Hand lag, um die institutionellen Anliegen der EKD vor Ort wahrzunehmen. Herrn Kiderlen folgte im Herbst 1994 Frau OKR´in Heidrun Tempel nach. Von November 2000 bis März 2008 fungierte OKR´in Sabine von Zanthier als Leiterin.

Das 20-jährige Bestehen der Dienststelle bietet eine gute Gelegenheit, grundsätzlich über unseren Auftrag als kirchliche Vertretung bei der EU nachzudenken. Kirchliches Handeln geschieht grundsätzlich in der Öffentlichkeit: seelsorgerliches Handeln ausgenommen. Das Christentum hat die Religion aus dem Arkanum geholt und so in gewisser Weise demokratisiert. Dabei folgt es dem Öffentlichkeitsauftrag Jesu an seine Jünger: "Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Matthäus 10,7).

Auch Wahrnehmung öffentlicher, ja politischer Verantwortung ergibt sich aus evangelischer Sicht aus diesem Verkündigungsauftrag. Die Verkündigung des Evangeliums soll nicht still und heimlich oder allein im Raum der Kirche stattfinden, sondern deutlich und klar für alle vernehmbar erfolgen. Zwar wenden sich die Kirchen in ihrem öffentlichen Wirken vornehmlich an ihre Mitglieder, doch Adressat des kirchlichen Handels ist die Gesellschaft als Ganze. Das lässt sich bereits aus dem Alten Testament ableiten. Dort heißt es beim Propheten Jeremia in der Handlungsanweisung Gottes an das Volk Israel im Exil: „Suchet der Stadt Bestes (…,) und betet für sie zum Herrn; denn wenn´s ihr wohlgeht, so geht´s auch euch wohl.“ (Jeremia 29, 7). Was für Israel schon im Exil galt, gilt erst recht dort, wo die Kirchen sich frei entfalten können. Sie sind aufgefordert, sich für das Wohl aller einzusetzen und das gemeinsame Beste zu fördern. Sie tragen zu den Voraussetzungen bei, auf die jedes politische Gemeinwesen angewiesen ist, ohne sie selber hervorbringen zu können. Gleichzeitig wollen sie sich aber nicht zu einem bloßen Funktionsträger reduzieren lassen, sondern stehen für eine kritisch-konstruktive Begleitung politischen Handelns.

Mit dem Vertrag des Landes Niedersachsen mit den evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen vom 19. März 1955, dem sog. Loccumer Vertrag, wurde die gemeinsame Verantwortung von Staat und Kirche in ein Regelwerk gegossen, das zum Vorbild zahlreicher nachfolgender Staatskirchenverträge geworden ist. In der Präambel des Vertrages ist die „Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihre Eigenständigkeit“ niedergelegt. Damit respektiert der Loccumer Vertrag das Selbstverständnis der Kirchen in seiner Auswirkung auf den gemeinsamen Verantwortungsraum von Kirche und Staat. Die Kirche sieht diesen Staat nicht als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches an, sondern als Chance der Freiheit, die zu erhalten und mit Leben zu erfüllen ihre Aufgabe ist. Der säkulare Staat lässt sich auf die Kooperation mit einer Kraft ein, die von ihm zwar getrennt ist – er ist selbst nicht religiös -, die er aber kennt und mit der er sich, wenn auch freilich in unterschiedlicher Perspektive, in gemeinsamer Verantwortung für die Menschen weiß, die Staatsbürger und Christen sind.

Die Evangelische Kirche in Deutschland mischt sich jedoch nicht nur im Wege von Denkschriften, Vorträgen, Pressemitteilungen und Stellungnahmen politisch ein, sondern ist über ihre politischen Büros in Berlin und Brüssel auch ganz unmittelbar im Raum der Politik vertreten. Dabei ist es kein Anliegen der EKD, Politik zu machen, sondern um es mit Richard von Weizsäcker zu sagen, Politik möglich zu machen.

Ein wichtiges Element der Arbeit besteht darin, die politischen Entscheidungsträger auf die kirchlichen Anliegen in der Politikgestaltung und im Gesetzgebungsprozess aufmerksam zu machen. Dazu verfasst die Dienststelle Stellungnahmen für die offiziellen Konsultationen der Europäischen Kommission und bringt sich gegenüber politischen Entscheidungsträgern mit kirchlichen Anliegen ein, wie etwa der Verankerung eines Referats für „Religion“ im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst (s. nachfolgender Artikel).

Selbstbewusst treten wir in Brüssel als evangelische Stimme auf, wenn Themen wie Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden berührt sind. In der Anwendung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirchen mischen wir uns „um Gottes willen“ politisch ein und verleihen denen eine Stimme, die sich selbst keine Lobby in Brüssel leisten können: sozial Schwache, Alte, Flüchtlinge und Migranten. Dank einer Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend (aej) wird künftig auch die Jugend- und Bildungspolitik in meinem Büro einen größeren Stellenwert einnehmen.

Oft gilt es, „das Gras wachsen zu hören“ und frühzeitig, schon wenn eine Idee für eine neue Richtlinie oder Verordnung im Entstehen ist, mit den zuständigen Beamten Kontakt aufzunehmen und den Austausch über das Thema zu suchen. Diese vielfältigen Aufgaben erfolgen in enger ökumenischer Zusammenarbeit mit den übrigen kirchlichen Vertretungen. Natürlich ist der ökumenische Konsens ein wichtiger Baustein für den Erfolg in einem Europa, in dem die EKD zwar nach der römisch-katholischen Kirche die größte Einzelkirche ist, aber in dem sie eben nur eine nationale Kirche unter vielen ist und die Protestanten insgesamt kaum mehr als 13 % ausmachen.

Seit rund einem Jahr halten wir nach dem Vorbild der Berliner Dienststelle in Brüssel zudem regelmäßig Abgeordnetenfrühstücke ab, die immer mit einer gemeinsamen Morgenandacht verbunden sind, die Prälat Felmberg hält. Das Angebot findet guten Zuspruch und bietet die Gelegenheit, parteiübergreifend mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments ins Gespräch zu kommen, und konkrete Sachthemen vertieft zu diskutieren.

Im Gegensatz zu großen Lobbyverbänden oder Wirtschaftsunternehmen liegt unsere Stärke bei der Mitgestaltung politischer Prozesse in der Kraft des Wortes bzw. des Arguments begründet. Die EKD-Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ benennt in diesem Zusammenhang einige Eckpunkte, die für unsere Arbeit von besonderer Relevanz sind. Danach müssen öffentliche Äußerungen der EKD insbesondere - in der Lage sein, sich unter den Bedingungen der Pluralität und des gesellschaftlichen Pluralismus zu Wort zu melden und dabei den Pluralismus grundsätzlich bejahen, also „pluralismusfähig“ sein, sie müssen von der Bereitschaft geprägt sein, falls notwendig Partei zu ergreifen und somit eine anwaltschaftliche Aufgabe wahrzunehmen. Die Option für Arme und Schwache und ebenso das Eintreten für die Opfer von Krieg und Gewaltregimen sind hierbei leitend.
- Sie müssen schließlich eine Art von „offener Kohärenz“ zum Ziel haben, das heißt, an bisherige Äußerungen anschließen, aber zugleich einen Raum für kirchliche Lernprozesse bieten.

Im Gegensatz zum kirchlichen Tun in Deutschland sind die Rahmenbedingungen, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen, aber ungleich schwieriger. Europas Vielfalt ist auch eine der Konfessionen und staatskirchenrechtlichen Systeme, von der orthodoxen Nationalkirche in Griechenland, über die Staatskirche in England, über die strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich bis hin zum Kooperationsmodell der fördernden Neutralität in Deutschland reicht. Belgien selbst etwa ist ein Land mit katholischer Mehrheit, einem laizistischen Verfassungsverständnis, das aber z.B. Raum lässt für die Bezahlung aller Geistlichen und weltanschaulichen Würdenträger und schließlich einer starken Fraktion religionskritisch-antikleri¬kaler Gruppierungen wie den so genannten Humanisten und politisch sehr mächtigen Logen. Dazu kommt, dass die Europäische Kommission nach dem Vorbild französischer Verwaltungsapparate geschaffen, entsprechend stark von der französischen Laicité geprägt ist. Für Religion fühlt man sich nicht zuständig, die Vertretung kirchlicher Interessen im politischen Raum mutet vielen Beamten bis heute als Verstoß der Trennung von Staat und Kirche an: Obwohl sie längst unter dem Einfluss anderer Systeme Bestandteil der Verträge und der „European Governance“ ist.

Die Kohärenz der Äußerungen wird durch eine enge Abstimmung mit unserer Dienststelle in Berlin und dem Kirchenamt der EKD in Hannover sichergestellt. Die Forderung nach der Pluralismusfähigkeit kirchlicher Stellungnahmen erhält in Brüssel jedoch eine besondere Dringlichkeit. Das EKD-Büro ist immer wieder aufgerufen, die Botschaft der Bibel in die Sprache des Rechts und der Politik zu übersetzen, so dass auch die Menschen sie verstehen, die einen anderen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund haben. Denn der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag ist keine Klientelpolitik. Obwohl er eine klare christliche Fundierung hat, soll er doch im Ergebnis der gesamten Gesellschaft dienen: In diesem Fall dadurch, Europas Politik im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung mitzugestalten.

Was in Berlin im Umgang zwischen Staat und Kirche, Kirchenvertretern und Politikern selbstverständlich ist, muss in Brüssel allerdings immer wieder mühsam errungen werden. So ist es in Brüssel keinesfalls üblich, dass die kirchlichen Vertretungen automatisch von den Kommissionsdienststellen zu aktuellen Gesetzesvorhaben konsultiert würden.

Viel Wissen um das Selbstverständnis der Kirche, das in Deutschland verfassungsmäßig garantierte Selbstbestimmungsrecht oder die enge Kooperation von Staat und Kirche in der Bundesrepublik kann in den europäischen Institutionen zudem nicht vorausgesetzt werden. Dementsprechend sind wir als Kirchenvertreter immer wieder gefordert, diese Zusammenhänge zu erläutern und mit guten Argumenten Bestrebungen entgegenwirken, diese Strukturen durch europäisches Recht anzutasten.

Die „Wissenslücken“ hinsichtlich kirchlicher Strukturen und ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen fallen also immer dann besonders ins Gewicht, wenn durch europäische Gesetzgebung oder Rechtsprechung das deutsche Staatskirchenrecht in Frage gestellt wird. Dies zeigt sich u.a. an dem Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von letztem Jahr oder an der Debatte über die Vereinbarkeit des deutschen AGG mit der EU-Beschäftigungsrahmenrichtline.

Vor diesem Hintergrund ist immer wieder hervorzuheben, wie bedeutsam es ist, dass mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember letzten Jahres auch der „regelmäßige, offene und transparente Dialog“ zwischen Kirchen und EU-Institutionen Rechtsverbindlichkeit erlangt hat (Art. 17 III AEUV). Die Kirchen haben stets im Blick, dass sie zur Wahrnehmung ihres Öffentlichkeitsauftrags institutioneller Bedingungen bedürfen. Sie achten darum darauf, dass gewachsene und bewährte Strukturen des Staatskirchenrechts erhalten bleiben und auf europäischer Ebene neue Strukturen entstehen, die das kirchliche Wirken ermöglichen und fördern. Die bisherigen Erfahrungen damit sind trotz aller geschilderten Herausforderungen gut. Denn ohne den politischen Willen der EU-Staaten hätte es den Kirchenartikel nicht geben können. Die nun darin festgeschriebene Offenheit geht auf den bislang schon praktizierten guten, partnerschaftlichen Umgang zurück.

Die EU hat sich in ihren Verträgen eben nicht für das französische Modell der Laicité entschieden und das Religiöse aus dem Öffentlichen Raum verbannt, sondern will zumindest auf dem Papier bewusst ansprechbar sein auf den „besonderen Beitrag“ der Kirchen und Religionen, wie er in dem „Kirchenartikel“ charakterisiert wird.

Zwar standen auch bislang schon Kirchenvertreter und Vertreter des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission in einem regen Austausch: Die Norm des Reformvertrages bietet jedoch die Gewähr, an diese gute Tradition anzuknüpfen und spornt dazu an, in der Praxis nicht dahinter zurückzufallen. Der Kirchenartikel sendet außerdem das wichtige politische Signal, dass dieser Dialog auch künftig politisch gewollt und seine Spezifität, etwa in Abgrenzung zum Dialog mit der Zivilgesellschaft auch rechtlich anerkannt ist. So betonte der Präsident des Europäischen Rates, Herrman van Rompuy, auf dem diesjährigen Treffen der europäischen Religionsführer, dass der Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht nur eine rechtliche Verpflichtung der EU, sondern den Verantwortlichen auch ein politisches Anliegen sei. Wichtig ist nun, den Dialog, insbesondere mit der europäischen Spitzenebene, nachhaltiger und gehaltvoller zu gestalten.

Denn der Austausch von Politik und Kirche ist von beiderseitigem Interesse: Die EU hat ein ureigenes Interesse an der Mitwirkung der Kirchen und Religionsgemeinschaften am gesellschaftlichen und kulturellen Leben Europas, aber auch an dem kirchlich-diakonischen Beitrag zu Bildungseinrichtungen und sozialen Diensten. Die Kirchen tragen mit ihrem Engagement zum sozialen Zusammenhalt bei, befördern in ihrem grenzüberschreitenden ökumenischen Miteinander den Gedanken der Völkerverständigung und setzen sich u.a. in ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit für die europäischen Werte der Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit ein. In den Kirchen haben die EU-Institutionen damit einen kritisch-konstruktiven Partner, um die europäische Integration zu befördern und ein wertebasiertes Europa zu verwirklichen. Die Kirchen wiederum sind auf die Offenheit des politischen Gemeinwesens für ihre Impulse angewiesen und brauchen in ihm einen verlässlichen Partner zur Umsetzung gesellschaftlicher Projekte – nicht zuletzt durch Kenntnis und Akzeptanz ihrer spezifischen Verfasstheit und durch politische und rechtliche Rahmenbedingungen, die ihrem Wesen und Auftrag angemessen sind. Der Dialog hilft, das dafür notwendige Verständnis zu schaffen und zu erhalten.

Als Dialogpartner sind die Kirchen Akteure im Prozess der europäischen Integration und müssen sich zu Europa verhalten. Dieser Prozess ist turbulent, bisweilen chaotisch und frustrierend, ein ständiges Auf und Ab. Aber dieses Element des Unfertigen, der Unabgeschlossenheit ist der europäischen Integration immanent und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Angesichts der derzeit aufscheinenden Indizien dafür, dass nationale Interessen zunehmend vor europäische gestellt werden und der erschreckenden Tendenz, dass sich nationalistische und fremdenfeindliche Parteien in der europäischen Parteienlandschaft zunehmend etablieren, braucht Europa die Fürsprache der Kirchen: und Europa hat sie verdient. Das europäische Einigungsprojekt ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert ohne Alternative. Wir alle sind in Europa „zu unserem Glück vereint“. Das EKD-Büro wird auch künftig seinen Beitrag dazu leisten, dieses Bewusstsein wach zu halten.



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