Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 133

Auf zu neuen Ufern? - Der Europäische Gerichtshof nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon

(OKR'in Katrin Hatzinger)

Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 ist nicht nur eine jahrelanger zäher Reformstau aufgelöst worden, sondern es haben sich auch eine Reihe institutioneller Änderungen ergeben, deren Tragweite sich wohl erst im Laufe der Zeit absehen und bewerten lassen  wird. Ein EU-Organ, dessen integrationspolitische Bedeutung nicht zu unterschätzen und dessen Rechtsprechung deshalb auch immer wieder interessierten Blicken aus Karlsruhe ausgesetzt ist, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.

Durch den Vertrag von Lissabon ergeben sich sowohl für seine Organisation, als auch für seine Zuständigkeit eine Reihe von bedeutsamen Veränderungen. Zunächst einmal wird die Gesamtheit des Gerichtssystems der Union in Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 19 I EUV) umbenannt. Er besteht aus drei Gerichten: Gerichtshof, Gericht und Gericht für den öffentlichen Dienst.

Hinsichtlich der Modalitäten der Ernennung der Mitglieder des EuGH, bleibt es bei der Regelung, dass die Richter von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt werden (Art. 19 II EUV). Neu ist das Verfahren der Anhörung eines Ausschusses, der eine Stellungnahme zur Eignung der Bewerber für die Ausübung des Amts eines Richters oder Generalanwalts beim Gerichtshof oder beim Gericht abzugeben hat. Der Ausschuss soll sich aus sieben Persönlichkeiten zusammensetzen, die aus dem Kreis ehemaliger Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts, der Mitglieder der höchsten einzelstaatlichen Gerichte und durch Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung ausgewählt werden. Eine der Persönlichkeiten wird vom Europäischen Parlament vorgeschlagen. Die Zahl der Generalanwälte kann künftig auf Antrag des Gerichtshofs von acht auf elf erhöht werden.

Da die Europäische Union mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV) erhalten hat, ist die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Säulenstruktur (Europäische Gemeinschaften, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz- und Inneres), in der die EU als eine Art „Dachorganisation“ fungierte, überwunden. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union erstreckt sich also nunmehr auf das gesamte Recht der Europäischen Union, soweit in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist (Art. 19 III EUV). Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach Titel V des EU-Vertrags bleibt beispielsweise auch künftig besonderen Regeln und spezifischen Verfahren unterworfen (Art. 24 I EUV).

Der Gerichtshof erwirbt trotz dieser Einschränkungen erstmals eine allgemeine Zuständigkeit zur Vorabentscheidung im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wird die Zuständigkeit des Gerichtshofs festgeschrieben, im Wege der Vorabentscheidung zu entscheiden. Sie hängt also nicht mehr von einer Erklärung der einzelnen Mitgliedstaaten ab. Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wird der Bereich der Polizei und der Strafjustiz in das allgemeine Unionsrecht überführt, so dass alle Gerichte den Gerichtshof anrufen können.

Hinsichtlich der Politikbereiche Visa, Asyl, Einwanderung kann der EuGH ab jetzt von allen nationalen Gerichten – und nicht mehr nur von den obersten Gerichten – angerufen werden, und ist außerdem ermächtigt, sich zu Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung bei grenzüberschreitenden Kontrollen zu äußern. Damit verfügt der Gerichtshof mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon über eine allgemeine Zuständigkeit in diesem Bereich.

Darüber hinaus ist seit dem 01. Dezember 2009 auch die europäische Grundrechtecharta (Art. 6 I EUV) rechtsverbindlich geworden. Sie bindet die Europäische Union sowie alle Mitgliedstaaten bei der Durchführung von europäischem Recht. Für den EuGH, der in seinen Urteilen bislang schon auf den Grundrechtskatalog der Charta verwiesen hat, bringt die Rechtsverbindlichkeit der Charta mehr Klarheit in der Rechtsanwendung. Auch ihre enge Anlehnung an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) trägt zu dieser Rechtsklarheit bei, denn zusammen bilden sie – neben den vageren „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ – die zentrale  Textgrundlage für die Grundrechtsauslegung des EuGH. In der Charta der Grundrechte ist aber, anders als in der EMRK, in einem einzigen Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden Personen zusammengefasst. Allerdings findet die Grundrechtecharta keine Anwendung auf Großbritannien und Polen, und auch die Tschechische Republik hat eine Ausnahme erwirkt.

Eine weitere Änderung besteht darin, dass sich das Vorabentscheidungsverfahren künftig auf Handlungen der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union erstreckt (Art. 267 b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV).
Ein Novum ist auch das mit dem AEUV der Europäische Rat als Organ der EU anerkannt und dementsprechend die Kontrolle durch den Gerichtshof auf Rechtsakte des Europäischen Rates ausgedehnt wird (Art. 269 AEUV). Nach diesen neuen Bestimmungen kann der Gerichtshof auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaats über die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Ministerrates entscheiden, wenn dieser die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der EU nach Art. 2 EUV durch diesen Mitgliedstaat behauptet (Achtung der Menschenwürde, Wahrung der Menschenrechte usw.).

Der Vertrag von Lissabon erleichtert außerdem die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Klagen von  Einzelpersonen (natürliche oder juristische Personen) gegen Entscheidungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Gemäß Art. 263 IV AEUV kann jede natürliche oder juristische Person gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter klagen, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht. Es entfällt also der Nachweis, von einem Rechtsakt individuell betroffen zu sein.

Schließlich ist der EuGH auch für die Kontrolle der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips zuständig und kann von einem Mitgliedstaat mit einer Nichtigkeitsklage wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip befasst werden, die von einem nationalen Parlament oder einer Kammer dieses Parlaments ausgeht (Art. des Protokolls Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit).

Angesichts der Tatsache, dass die Europäische Union mit dem Vertrag von Lissabon Rechtspersönlichkeit erlangt hat und der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention in Art. 6 II EUV festgelegt ist, erhält die Frage nach dem Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, also im Verhältnis EuGH, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und nationale Verfassungsgerichte neue Relevanz.

1959 wurde in Straßburg der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte errichtet. In seiner heutigen Form als ständig tagendes Gericht existiert der EGMR seit dem 1. November 1998. Damit wurden die zuvor geltenden Mechanismen zur Durchsetzung der Menschenrechtskonvention abgelöst, zu denen die 1954 eingerichtete Europäische Menschenrechtskommission und der frühere, eingeschränktere EGMR (1959 geschaffen) zählten. Der EGMR wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Seine Anrufung ist erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Die endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs sind bindend für den Mitgliedstaat, gegen den die Beschwerde gerichtet war. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehört zu diesem Rechtsweg auch die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Nach BVerfGE 111, 307 (329) haben deutsche Gerichte die EMRK zu beachten, soweit nicht Verfassungsrecht eindeutig entgegensteht. Zugleich ist Grundgesetz unter Berücksichtigung der EMRK auszulegen (E 111, 307 [317 f. ]).

Ein bekanntes Beispiel für die divergierenden Auffassungen zum Grundrechtsschutz zwischen EGMR und BVerfG ist der Fall Caroline von Monaco. Die Prinzessin kämpfte gegen die Veröffentlichung von Fotos in der Regenbogenpresse, die sie außerhalb des häuslichen Bereichs bei privaten Tätigkeiten abbildeten. Der EGMR entschied im Juni 2004, dass die deutschen Gerichte im Fall der Caroline von Monaco keinen fairen Ausgleich zwischen dem Schutz des Privatlebens einerseits und der (die Pressefreiheit einschließenden) Meinungsfreiheit andererseits vorgenommen haben. Deutschland habe ihr Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt (Beschwerde-Nr. 59320/00, vom 24. Juni 2004.)

Im Gründungsvertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der 1951 abgeschlossen wurde, finden sich keine Regelungen über Grundrechte. Auch in den 1957 unterzeichneten Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft werden Grundrechte nicht erwähnt. Der beherrschende Gedanke war die wirtschaftliche Integration. Der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene wurde im Laufe der Jahre erst durch Richterrecht entwickelt. Bei der Ermitt-lung des Inhalts der ungeschriebenen EG-Grundrechte stützte sich der EuGH zunehmend auf die Auslegung der EMRK durch den EGMR. Insofern gibt es für die an die Konvention angelehnten Teile der Charta durchaus schon eine Art vorlaufender Rechtssprechung, was ihre Anwendung erleichtern dürfte.

Für die Kirchen ist aufgrund der mittelbaren Einwirkung europäischer Gesetzgebung auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und damit auf die Religionsfreiheit die Entwicklung der europäischen Grundrechtsprechung auch von institutionellem Interesse.

Am 17. März 2010 hat die Europäische Kommission die Verhandlungsrichtlinien für den Beitritt der Union zur EMRK nach Art. 6 II EUV vorgeschlagen. Laut Kommissionspräsident Barroso hat der Beitritt der EU zur EMRK eine wichtige symbolische, politische und rechtliche Bedeutung. Die Grundrechte der EU-Bürger würden gestärkt, das Bewusstseins für die Bedeutung der Grundrechte EU-weit erhöht und somit auch die Glaubwürdigkeit des EU-Menschenrechtssystems sowie der EU-Außenpolitik untermauert.

Das Beitrittsabkommen setzt gemäß Artikel 218 Absatz 8 AEUV einen einstimmigen Beschluss des Rates voraus. Außerdem müssen alle 47 Vertragsparteien der EMRK dem Abkommen gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen. Nach Artikel 218 Absatz 6 Buchstabe a Ziffer ii AEUV muss der Rat die Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Abschluss des Beitrittsabkommens einholen. Artikel 218 Absatz 10 AEUV schreibt außerdem vor, dass das Europäische Parlament in jeder Phase der Verhandlungen umfassend informiert wird.

Was bedeutet der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention? Werden die Regeln für das Zusammenspiel zwischen den Gerichten zu Lasten von Effizienz und Effektivität des Grundrechtsschutzes verschoben oder bietet der Beitritt die Chance auf größere Klarheit in der Organisation und Koordination der Grundrechtsrechtsprechung im Dreiecksverhältnis zwischen EuGH, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den nationalen Verfassungsgerichten?

Mit dem Beitritt wird der EGMR faktisch die letzte und höchste Instanz, um den Schutz der Grundrechte zu erwirken. Wird also dann der EGMR künftig zum Super-Gerichtshof, das künftig allein die Grundrechskonformität der EU-Gesetzgebung garantieren wird? Kommt der Beitritt der EU zur EMRK zu früh, so dass dem EuGH zu wenig Spielraum bleibt eine originäre Rechtsprechung zur Charta zu entwickeln?

Auf der Grundlage der bisherigen Zusammenarbeit zwischen EuGH und EGMR ist zumindest davon auszugehen, dass sich an dem gedeihlichen Zusammenwirken der Gerichtshöfe voraussichtlich in nächster Zukunft nichts ändern wird. Die mit dem Beitritt bewirkte immer engere Verzahnung des Grundrechtsschutzes im umfassenderen Europarecht würde eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Grundrechtskultur spielen. Die neue Grundrechtekommissarin, Viviane Reding, will den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention jedenfalls energisch vorantreiben. Doch wird dieser Schritt noch ein wenig Zeit erfordern, so dass der EuGH – gestärkt durch die neuen Regeln des Vertrages von Lissabon - seine Rolle zur Wahrung der Einheit des europäischen Rechts in  Kooperation mit dem EGMR weiter ausbauen kann, … solange es Karlsruhe gefällt, versteht sich.

Den Äußerungen des Präsidenten des BVefG, Andreas Voßkuhle, auf dem 16. Verwaltungsgerichtstag ist beizupflichten, wenn feststellt, dass der „europäische Jurist“ im Zuge der Globalisierung entscheidende Verantwortung für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte trage. Die Verantwortung der Luxemburger, aber auch der Straßburger Richter wächst.

 

Einen Überblick über die Neu-Organisation des EuGH finden Sie hier:
http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2009-12/cp090104de.pdf


Weitere Informationen zur Verhandlungsrichtlinie der Kommission finden Sie unter:
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/10/84&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en



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