„Rien ne va plus“? – Anmerkungen zur europäischen Krise

(OKR'in Katrin Hatzinger)

In der Europäischen Union stehen gegen Ende dieses europäischen „anno horribilis“ die Zeichen weiter auf Sturm. In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament sprach Kommissionspräsident José Manuel Barroso am 16. November 2011 in Straßburg von einer „systemischen Krise“ der Eurozone. Nicht nur die Situation in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Irland bereitet weiterhin Kopfzerbrechen, mittlerweile drohen auch Staatsanleihen von bislang als kreditwürdig bewerteten Euro-Staaten wie Finnland, Österreich, Frankreich und den Niederlanden an Attraktivität für Investoren zu verlieren. Misstrauen ist das Gebot der Stunde. Investoren kaufen Staatsanleihen von Eurostaaten nur noch mit Zinsaufschlägen. Neben der Vertrauenserosion in Politik, Währung und auch Banken, bietet aber auch die stagnierende europäische Wirtschaft Anlass zur Sorge.

 

Dabei hatte am 27. Oktober 2011 noch alles so rosig ausgesehen. Nach dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs und einer Marathonsitzung in Brüssel war vom großen Wurf die Rede. Ein ganzheitlicher Lösungsansatz sollte den Durchbruch bringen: ein Schuldenschnitt für Griechenland (Banken und Versicherungen sollten dem Staat die Hälfte, rund 100 Milliarden Euro, seiner Schulden erlassen), eine Rekapitalisierung der Banken, damit sie angesichts der Griechenlandverluste nicht kollabieren, eine Vervielfachung des Kreditvolumens des Rettungsfonds EFSF durch eine sog. finanztechnische Hebelung sowie Sparprogramme von Italien und Spanien. Außerdem einigten sich die 17 Euro-Länder auf eine "erhebliche Verstärkung der wirtschafts- und steuerpolitischen Koordinierung und Überwachung". Die europäische Wirtschaftsregierung nimmt also langsam Konturen an. Der finnische Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn wurde mit "weitreichenden Kompetenzen bei der Aufsicht über die Staatsfinanzen" ausgestattet und zu einem Vize-Präsidenten der Kommission ernannt. Schließlich sollen Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso und der Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, bis Dezember sondieren, inwieweit in begrenztem Umfang Vertragsänderungen vorgenommen werden können", um die Wirtschaftsunion weiter zu vertiefen. "

 

Angesichts der sich fast täglich überschlagenden Hiobsbotschaften, z.B. zur immensen Verschuldung Italiens von 1,9 Billionen Euro, der prekären Bankensituation in Frankreich und Hinweisen auf eine europäische, wenn nicht gar globale Rezession weiterhin an das vereinte Europa zu glauben, scheint mehr und mehr eine Aufgabe für unverbesserliche Optimisten oder unbelehrbare Träumer zu sein. Doch zu Recht wird auch jetzt betont, dass die europäische Einigung, neben Frieden und Stabilität, auch Wohlstand und über lange Jahre eine Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb der EU gebracht hat, nicht zuletzt durch die Finanzhilfen der Europäischen Strukturfonds. Trotz der Krise wollen die Nicht-Euro-Staaten der Euro-Zone beitreten, Länder wie Kroatien oder Serbien weiterhin Mitglieder der EU werden. Menschen wollen in einem geeinten Europa reisen, studieren, leben und arbeiten. Angela Merkel ist beizupflichten, wenn Sie am 26. Oktober 2011 in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag betont: „Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa schlecht geht“. Deutschland braucht die EU und umgekehrt. Europa ist Einheit in Vielfalt, aber die Vielfalt braucht gemeinsame Regeln, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern wenn es darauf ankommt auch durchsetzbar sein müssen.

 

Die aktuelle Staatsschuldenkrise hat, vertieft durch den Druck der Finanzmärkte, die Konstruktionsfehler des Euro offenkundig werden lassen: die gemeinsame Geldpolitik wird nicht durch eine abgestimmte Finanz-, Wirtschafts- und Steuerpolitik ergänzt. Entgegen der ursprünglichen Annahme, hat sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Euro-Raum durch die Einführung des Euro nicht angeglichen, im Gegenteil ökonomische Unterschiede haben sich verschärft. Auch weil einige Staaten jahrelang (unbemerkt?) über ihre Verhältnisse gelebt haben.

 

Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen der nationalen und europäischen Politik anzuerkennen, das für die Überwindung der Schuldenkrise notwendige Vertrauen in das europäische Projekt wiederherzustellen und die gebotenen finanz-und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu treffen. Erwähnt seien insbesondere die Maßnahmen zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die Vorschläge zur Etablierung einer europäischen Wirtschaftsregierung und die Vorschläge für eine europäische Finanztransaktionssteuer. Es ist ja nicht so, als wäre nicht Einiges auf den Weg gebracht worden. Unter anderen Vorzeichen wären diese Schritte in diesem Tempo völlig undenkbar gewesen.

 

Doch nicht nur die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität in der EU gerät ins Wanken, auch die demokratische Legitimation der Rettungsmaßnahmen bewegt sich auf schwankendem Boden. Die Psychologie der „Märkte“ und die oft mühsamen und zeitaufwendigen Prozesse demokratischer Willensbildung stehen offenbar in einem Spannungsverhältnis. Nicht ohne Grund hat etwa das Bundesverfassungsgericht der Übertragung von Beteiligungsrechten des Bundestages auf das sog. 9-er Sondergremium in einer einstweiligen Anordnung erst einmal einen Riegel vorgeschoben (siehe nachfolgender Artikel). Auch die Rücktritte der Regierungen Papandreou und Berlusconi und die Berufung von Lukas Papademos und Mario Monti, zweier sog. Technokraten, zu neuen Regierungschefs, ebenso wie die Regierungswechsel in Portugal und Irland sowie die vorgezogenen Parlamentswahlen am 20. November 2011 in Spanien verdeutlichen die politische Sprengkraft der aktuellen Ereignisse. Jede amtierende Regierung in der EU ist potentiell gefährdet, der Krise weichen zu müssen. Diese Entmündigung der Wählerinnen und Wähler führt zu einem Gefühl der Hilflosigkeit, die eigene Stimme zählt nicht mehr, Politiker sind scheinbar zu Marionetten verkommen, deren Strippen längst andere ziehen. Gleichzeitig hat die bislang herrschende politische Klasse insbesondere in Griechenland und Italien dermaßen an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung eingebüßt, dass es sich nur schwer ermessen lässt, was schwerer wiegt, der Schaden für die Demokratie, den Misswirtschaft und Nepotismus der eigenen politischen Klasse angerichtet haben oder die Sparvorgaben von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Kommission.

 

Nicht genug damit, so schwindet insgesamt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die europäische Idee, der Begriff der „Solidarität“ hat schon längst einen schalen Beigeschmack und wird mittlerweile von Vielen als hohle Floskel, als Vorwand zur Rechtfertigung weiterer Rettungsmaßnahmen abgetan. Weiterhin erhalten europafeindliche und nationalkonservative Parteien regen Zulauf, wie ein Blick in einige unserer Nachbarländer Holland (Partij voor de Vrijheid), Frankreich (Front National) und Österreich (Freiheitliche Partei Österreichs) zeigt. Auch die Kirchen in Europa haben eine Verantwortung für den Zusammenhalt in der EU. Das hat die Synode der EKD am 9. November 2011 in Magdeburg betont, indem sie in ihrem Beschluss zur sozialen Dimension der europäischen Schuldenkrise hervorgehoben hat, dass die Kirchen einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, „das notwendige Vertrauen in die EU als friedensstiftende und völkerverbindende Gemeinschaft wiederherzustellen.“ Fernen machten die Synodalen deutlich, dass sich die Evangelische Kirche in Deutschland verpflichtet sieht, „die Vision eines vereinten Europas durch ihr Engagement voranzubringen und dazu beizutragen, das Vertrauen in dieses Gemeinschaftsprojekt zurückzugewinnen.“

 

Schließlich stellt sich mit neuer Vehemenz die Frage nach den Umrissen einer EU der Zukunft. Wird es gelingen die Krise im Rahmen der EU-27 zu lösen? Muss ein Kerneuropa voran gehen, bestehend aus den 17 Euro-Staaten? Auf welcher (vertraglichen) Grundlage können die dringend benötigten Reformen am besten umgesetzt werden? Besteht die Lösung in einem Mehr an zwischenstaatlicher Zusammenarbeit oder gilt es die europäischen Institutionen mit weiteren Vollmachten zur Defizitkontrolle auszustatten, unter Verzicht auf staatliche Souveränitätsrechte? Wird die EU am Ende gestärkt aus diesem Jammertal hervorgehen oder erleben wir aktuell den schrittweisen Zerfall Europas, wie es die Wirtschaftsweise Beatrice di Mauro am 14. November im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung darstellte?

Die EKD Synode hat in dem erwähnten Beschluss darauf hingewiesen, dass es bei der Suche nach politischen Auswegen aus der Krise auch darauf ankomme, soziale Ungleichheit nicht zu vertiefen, sondern „durch eine ausgewogene Reformpolitik die Glaubwürdigkeit und Gestaltungsmacht der Politik wiederzuerlangen“. Bei aller gebotenen Haushaltsdisziplin und den verordneten staatlichen Ausgabenkürzungen dürfen die Schwächsten der Gesellschaft nicht aus dem Blick geraten und die Finanzwirtschaft nicht aus der Haftung entlassen werden.

 

Verständlicherweise ist Sparen das Gebot der Stunde. Für den 23. November 2011 hat die Europäische Kommission neben einem Grünbuch zu den strittigen Eurobonds weitere Vorschläge zur Stärkung der Wirtschaftsregierung in der Euro-Zone angekündigt. Mit den Vorschlägen sollen Maßnahmen zur stärkeren Überwachung der Budgets der Eurozonen-Länder und ihrer haushaltspolitischen Ziele eingeleitet werden. Staaten, die ein exzessives Haushaltsdefizit aufweisen, sollen ihre nationalen Haushalte vor der Verabschiedung der EU-Kommission und dem Rat vorlegen und ggf. nachbessern müssen. Dies ist ein weitere Schritt, neben der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und dessen Ergänzung durch den sog. Euro-Plus-Pakt (EKD-Europa-Informationen Nr. 136), damit Kommission und die anderen Mitgliedstaaten frühzeitig und kritisch die Reformanstrengungen überschuldeter Staaten zur Stärkung der „langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ begleiten und forcieren können. Leider gerät aber im Laufe der Krise zunehmend das Gleichgewicht zwischen Sparanstrengungen und notwendigen Investitionen, zwischen Wettbewerbsfähigkeit auf der einen und sozialem Zusammenhalt auf der anderen Seite aus den Fugen. So haben sich im Rahmen der sog. Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum, die Mitgliedstaaten u.a. auch darauf geeinigt, die Zahl der von Armut bedrohten Menschen EU-weit von 120 Millionen um 20 % zu reduzieren. Bleibt hier ein Mitgliedstaat in den nationalen Reformplänen hinter den EU-Vorgaben zurück, hat die Kommission im Gegensatz zu den Instrumenten, die bei fehlender Haushaltsdisziplin zur Anwendung kommen, außer mahnenden Worten wenig Möglichkeiten, Handlungsdruck auszuüben. Die EKD Synode hat deshalb gefordert, dass das Armutsbekämpfungsziel der Europa-2020-Strategie von der Bundesregierung ambitionierter und konsequenter als bislang verfolgt wird.

 

Die Schuldenkrise besitzt offensichtlich eine starke soziale Dimension, die sich nicht zuletzt in den anhaltenden Protesten in Griechenland, Spanien oder Italien abbildet, aber auch in dem wachsenden Zulauf der Occupy- Bewegung in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten. Je länger die Krise andauert, desto mehr macht sich das Gefühl breit, dass es ungerecht zugeht.

 

„Was nicht im Dienst steht, steht im Raub“, unter diese Überschrift eines Lutherwortes stellte der Vorsitzende des Rates der EKD am 28. September 2011 Anmerkungen zur gegenwärtigen Finanz- und Schuldenkrise. Nach den Verträgen sind die europäischen Staaten dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Insofern gilt es auch beim Schuldenabbau darauf zu achten, dass jeder Einzelne nach seiner Stärke mehr oder weniger intensiv belasten wird und so die Gesellschaft in ausgewogener Weise und als Ganzes die Konsequenzen der Krise trägt. Die augenblicklichen angestoßenen Reformen tragen diesem Anliegen bislang nur unzureichend Rechnung. Laut einer Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 14. Juli 2011 "Krise, Bildung und Arbeitsmarkt" hat die Schuldenkrise tiefengreifende soziale Auswirkungen. So hätten bereits tausende (insbesondere mittelständischer) Unternehmen geschlossen, die Arbeitslosigkeit sei gestiegen, die Löhne gesunken, Haushaltsmittel für Sozialsystem seien gekürzt und Verbrauchssteuern angehoben worden. Dabei ist das Arbeitslosigkeitsrisiko für Arbeitnehmer mit geringem Einkommen (im Allgemeinen auch mit geringem Qualifikationsniveau) nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat zwei- bis dreimal größer als das der Arbeitnehmer mit höherem Einkommen. Darüber hinaus ginge die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern mit einer Verschlechterung der Qualität und einer Erhöhung der Prekarität der Beschäftigung einher. Im Euroraum (ER17) lag die saisonbereinigte Arbeitslosenquote im September 2011 bei 10,2 %, im September 2010 hatte sie 10,1 % betragen. In der EU27 lag die Arbeitslosenquote im September 2011 bei 9,7 %, im September 2010 hatte sie 9,6 % betragen. Die höchsten Anstiege der Arbeitslosenquote verzeichneten Griechenland (von 12,6 % auf 17,6 % zwischen Juli 2010 und Juli 2011), Spanien (von 20,5 % auf 22,6 %) und Zypern (von 6,0 % auf 7,8 %). Einmal mehr sind die Jugendlichen von der Wirtschafts- und Finanzkrise am stärksten betroffen; so erreichte die Arbeitslosigkeit der 15- bis 25-Jährigen bis Februar 2011 in der EU der 27 20,4 %.

 

Es kommt deshalb jetzt seitens der europäischen Politik darauf an, nicht mehr auf Zeit zu spielen, sondern beherzt die gemeinsamen Probleme anzugehen. Präsident José Manuel Durão Barroso sprach in seiner Rede vor dem Europäischen
Parlament am 16. November von der „Inter­dependence“, diese gegenseitige Abhängigkeit der EU-Staaten voneinander, die wir nun schmerzhaft zu spüren bekämen. Dieser müssen wir uns stärker bewusst sein und in diesem Bewusstsein müssen wir denken und handeln. Ein zurück ins vermeintlich warme Nest nationaler Alleingänge, ein „Rien ne va plus“ im Hinblick auf die EU führt in die Sackgasse. Der Wind weht eisig, deshalb gilt es, eine wirklich langfristige und tragfähige Vision für eine „Stabilitätsunion“, wie es neuerdings heißt zu entwerfen, aber in diesem Prozess den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber ehrlich zu sein, sie soweit wie möglich einzubeziehen und mitzunehmen. Im Zweifel muss das Motto heißen: „Mehr Europa wagen“. Wir müssen Europa neu denken und alle Optionen prüfen, abwägen und dann vorangehen. Dass der Weg aus der Krise lang und wohl auch beschwerlich sein wird, dass die Vielfalt auch der politisch- ökonomischen Kulturen in der EU (Klaus-Dieter Falkenberger in der FAZ vom 15.11. 2011) eine Herausforderung ist und bleibt, muss klar kommuniziert werden. Aber es muss auch deutlicher werden, dass alle und nicht nur Einige die Kosten der Krise werden schultern müssen.

 

Die Erklärung des Euro-Gipfels finden Sie hier:

http://www.consilium.europa.eu

 

Den Synodenbeschluss finden Sie unter:

http://www.ekd.de/synode2011

 

Die Erklärung des Ratsvorsitzenden finden Sie unter:

http://www.ekd.de/presse



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