Der Bevollmächtigte des Rates der EKD

Europa-Newsletter Nr. 125

Fluchtziel Lesbos - Erfahrungen an der Außengrenze der Europäischen Union

Katrin Hatzinger

Während die europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel am 15. und 16. Oktober 2008 den lange angekündigten Pakt für Migration und Asyl als politischen Erfolg auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik feiern werden, gehen die Dramen an den Außengrenzen der EU unvermindert weiter.

Den Flüchtlingen und Migranten, die mit Hilfe von Schleppern oder in Abhängigkeit von Menschenhändlern versuchen, den sicheren Hafen EU zu erreichen, ist mit dieser wohlklingenden politischen Absichtserklärung wenig geholfen. Im Gegenteil, zwar spricht sich der Pakt für "ein Europa des Asyls" aus, doch Grenzsicherung, Rückübernahmeabkommen und die Bekämpfung der illegalen Einwanderung stehen weiterhin ganz oben auf der politischen Agenda, und die Situation der Schutzbedürftigen lässt diesen Anspruch zynisch erscheinen. Es spricht Einiges dafür, dass die europäischen Innenminister wohl noch nicht auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos gewesen sind.

Wer einmal Gelegenheit hatte, sich vor Ort, etwa auf Lesbos, ein Bild von der Situation der Flüchtlinge und Migranten in Griechenland zu machen, dem wird klar, welche Konsequenzen die strikte Anwendung der Dublin II Verordnung hat, die das sog. "Asyl shopping" unterbinden soll. Die Staaten an den Außengrenzen werden mit den ankommenden Flüchtlingen sich selbst überlassen; unzureichende Asylverfahren und menschenunwürdige Praktiken bei der Aufnahme von Asylsuchenden werden von den anderen Mitgliedstaaten billigend in Kauf genommen.

Vor diesem Hintergrund fand im September die 11. Europäische Asylrechtstagung auf Lesbos statt, u. a. organisiert von der EkiR, der UNO Flüchtlingshilfe, der EKD und pro familia.

Die Dublin II Verordnung legt die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, fest. Sie trat im März 2003 in Kraft. Grundgedanke der Verordnung ist, dass jeder Asylsuchende nur einen Asylantrag innerhalb der Europäischen Union stellen können soll. Grundsätzlich ist der Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, der die

Einreise veranlasst bzw. nicht verhindert hat. Stellt der Asylsuchende dennoch in einem anderen Mitgliedstaat seinen Asylantrag, wird kein Asylverfahren durchgeführt, sondern der Asylsuchende in den zuständigen Staat rücküberstellt.

Da es kaum legale Wege in die EU gibt, weichen Verfolgte und Migranten auf der Suche nach einer besseren Zukunft auf immer gefährlichere illegale Einreisewege nach Spanien, Malta, Italien, Zypern oder eben Griechenland aus. Nach offiziellen Angaben wurden 2007 112.364 irreguläre Zuwanderer in Griechenland aufgegriffen, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. 2008 dürfte die Zahl noch höher liegen.

Die Insel Lesbos liegt in der Nordost-Ägäis, nahe der türkischen Küste, die nur knapp drei Seemeilen entfernt ist. Somit liegt Lesbos auf der Hauptroute von Menschen aus Afghanistan, dem Irak und aus Somalia, die über die Türkei nach Griechenland gelangen wollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter den Ankommenden Schutzbedürftige befinden, ist nach Einschätzung von Flüchtlingsorganisationen und UNHCR sehr hoch, da in den Herkunftsstaaten Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2008 sind auf Lesbos mehr als 6.000 Flüchtlinge angekommen. Vier von fünf Bootsflüchtlingen, die über die Türkei Europa erreichen wollen, kommen nach Lesbos. Achtzig Prozent der Ankommenden geben nach ihrer Ankunft an, aus Afghanistan zu stammen - als weitere Herkunftsländer werden Palästina, Irak und Somalia genannt Die meisten sind Männer zwischen 20 und 30 Jahren alt. Doch zunehmend machen sich auch Frauen und ganze Familien auf die gefährliche Reise. Auch die Anzahl der Minderjährigen hat in den letzten zwei Jahren dramatisch zugenommen: 2008 sind zwanzig Prozent der Ankommenden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Meist kommen die Menschen vom türkischen Festland in Schlauchbooten nach Lesbos. Berichten zufolge schlitzen die Bootsflüchtlinge die Boote mit einem Messer auf, sobald die griechische Küstenwache in Sicht ist, damit sie dann aufgenommen werden müssen. Wer im Hafen von Mytilini, der Inselhauptstadt entlang flaniert, muss sich nicht groß anstrengen, um den riesigen Haufen zerstörter Schlauchboote auszumachen, der sich im Hafenbereich stapelt.

Es gibt aber auch Berichte von Flüchtlingen, dass sie erst nach mehreren gescheiterten Versuchen auf der Insel gelandet sind. Die Küstenwache habe ihn bei den vorherigen Versuchen den Motor ihrer Boote zerstört und sie lediglich mit einem Paddel ausgerüstet zurück in türkische Gewässer gedrängt. Bei dem Versuch, europäischen Boden zu erreichen, kommt es immer wieder zu tragischen Todesfällen.

Einige Flüchtlinge berichteten von ähnlichen Aktivitäten des Patroillenbootes der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Frontex ist vor Lesbos im Einsatz und koordiniert die Aktionen der griechischen Küstenwache. Die Rolle der Agentur bleibt jedoch undurchsichtig und ambivalent. Den Zugang von Schutzbedürftigen zu einem Asylverfahren kann die Grenzschutzagentur jedenfalls offensichtlich nicht garantieren. Zu den Berichten über Misshandlungen von Bootsflüchtlingen durch Beamte der griechischen Küstenwache hat die Agentur öffentlich nicht Stellung bezogen.

Pro Asyl und die griechische Group of Lawyers haben im Jahr 2007 den Bericht "The truth may be bitter, but it must be told" veröffentlicht, der auf die erschütternde menschenrechtliche Situation auf der Insel aufmerksam gemacht hat. Darin wird über die Praxis von Zurückweisungen von Flüchtlingsbooten auf dem Meer berichtet, über Misshandlungen von Flüchtlingen durch die griechische Küstenwache, fehlende Möglichkeiten Asylanträge zu stellen, willkürliche Inhaftierungen und erniedrigende Haftbedingungen.

In Belgien und Schweden haben einige Richter bereits entschieden, irakische Asylbewerber dürften nicht auf Grundlage der Dublin II-Verordnung nach Griechenland rücküberstellt werden, da Griechenland keine faire Beurteilung ihres Falles garantieren könne. Mit den gleichen Argumenten hat Norwegen alle Rücküberstellungen von irakischen Asylbewerbern nach Griechenland vorerst eingestellt und auch Deutschland hat Rücküberstellungen von Minderjährigen nach Griechenland ausgesetzt. Zwar werden die aus anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der Dublin II-Verordnung rücküberstellten Asylbewerber nicht auf die griechischen Inseln geschickt. Dennoch zeigt die Situation vor Ort, wie chaotisch die Zustände und wie überfordert die griechischen Behörden mit der Anzahl von Asylbewerbern sind. Da Athen die Mindeststandards für ein geregeltes Asylverfahren und für die Unterbringung von Asylbewerbern nicht respektiert, hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet.

Bei dem Besuch im September konnten sich die Konferenzteilnehmer vor Ort selbst ein Bild davon machen, wie wenig sich seit dem letzen Jahr geändert hat. Zwar versicherte der Leiter der Athener Ausländerpolizei, der für die Durchführung von Asylverfahren zuständig ist, Herr Kordatos, dass sich die Bedingungen für die Ankommenden künftig verbessern werden. Durch mehrere Präsidialerlasse seien im Herbst 2007 und im Sommer 2008 die EU-Asylrichtlinien in nationales Recht umgesetzt worden. Die gegenwärtigen Zustände sprechen jedoch eine andere Sprache. In der Praxis hat sich nichts geändert.

Nach wie vor berichten Flüchtlinge von Zurückweisungen auf dem Meer. Der Zugang zu einem fairen und effizienten Asylverfahren ist nicht gewährleistet, und die Haftbedingungen in den Aufnahmelagern sind unzumutbar.

Das Lager Pagani, in dem die Ankömmlinge zur Feststellung ihrer Identität bis zu 30 Tage lang inhaftiert werden, bevor sie die Aufforderung erhalten, innerhalb von 30 Tagen das Land wieder zu verlassen, ist in einem ehemaligen Warenlager untergebracht: lange, hohe, fensterlose Räume, zugepflastert mit Bettgestellen und Matratzen und zum eingezäunten Innenhof hin mit Gittern abgeschlossen. Es gibt kein warmes Wasser, die sanitären Anlagen sind völlig unzureichend, eine medizinische Versorgung findet nur rudimentär statt. Das Lager ist völlig überlaufen, Freigang wird selten gestattet, Sport-, Freizeit- oder Bildungsangebote gibt es nicht. Kinder und Frauen sind in getrennten Einheiten eingepfercht. Seit diesem Sommer haben ein Dolmetscher und eine Anwältin für einige Stunden Zutritt zu dem Lager, aber bei einer Belegung von bis zu 700 Personen, ist deren Arbeit nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Unter diesen Umständen ist eine vernünftige anwaltliche Beratung und Betreuung von Asylsuchenden, ja sogar deren Identifizierung, undenkbar. Die Haftbedingungen lassen den Besucher beschämt und erschüttert zurück, sie sind der Europäischen Union unwürdig und sprechen dem Anspruch des Paktes, ein Europa des Asyls zu schaffen, Hohn.

Besonders bedrückend ist die Situation für die unbegleiteten Minderjährigen. Es fehlt ihnen an Kleidung, psychologischer und sozialer Betreuung, medizinischer Versorgung und die Praxis ihrer Inhaftierung (auch wenn sie nunmehr nach einigen Tagen entlassen werden) widerspricht eklatant internationalem Völkerrecht. Außerdem fehlt es an einem Verfahren, um zu überprüfen, ob sich unter den Minderjährigen Schutzbedürftige befinden und ob sich Verwandte in der EU aufhalten. Stattdessen erhalten auch die Minderjährigen eine Abschiebungsanordnung und sind mit dem drohenden Status der "Illegalität" konfrontiert. Es fehlt an einer schnellen, effektiven anwaltlichen Beratung unter angemessenen Beratungsbedingungen. Seit einigen Monaten ist zwar ein offenes Zentrum für Minderjährige in Agiassos auf Lesbos eingerichtet worden, aber der Charakter des Zentrums ist unklar.

Was sich auf Lesbos abspielt, ist symptomatisch für die Lage in den Staaten an den EU-Außengrenzen, die mit der Situation nicht selten völlig überfordert sind. Deshalb wäre es verfehlt, mit dem Finger auf Griechenland zu zeigen und die Hände in Unschuld zu waschen. Griechenland, wie auch die anderen Staaten an den EU-Außengrenzen, brauchen die Unterstützung der anderen EU-Mitglieder. Angesichts der chaotischen Zustände ist die Praxis, Asylbewerber aufgrund der Dublin Verordnung nach Griechenland zurückzuschicken, jedenfalls nicht länger zu verantworten.

Zudem sollte die EU nicht nur finanziell und über den Einsatz von FRONTEX Solidarität mit Griechenland zeigen. Vielmehr sollten die europäischen Mitgliedstaaten Asylbewerber aus Griechenland aufnehmen und die entsprechenden Asylverfahren durchführen. Diese Übernahme der Verantwortung für das Asylverfahren durch andere Mitgliedstaaten sollte Bestandteil der anstehenden Revision der Dublin Verordnung sein. Außerdem könnte das für 2009 geplante Asylum Support Office die praktische Zusammenarbeit anderer EU-Staaten mit den griechischen Behörden verbessern (Unterstützung vor Ort durch ausgebildete Asylbeamte z.B.), solange sichergestellt ist, dass es sich hier nicht nur um Symbolpolitik handeln wird.

Fazit:

Den europäischen Innenministern ist ein Besuch auf Lesbos wärmstens zu empfehlen.

Den Pro Asyl Bericht finden Sie, ebenso wie die Dokumentation von Fällen Asylsuchender aus Deutschland, die im Wege von Dublin II nach Griechenland zurücküberstellt wurden, unter:
http://www.proasyl.de

Näheres zu der 11. Europäischen Asylrechtstagung finden Sie unter:
http://www.ekir.de/ekir/233_51216.php



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