Der Bevollmächtigte des Rates der EKD

Europa-Newsletter Nr. 126

Das deutsche Staatskirchen-recht in europäischer Perspektive

Katrin Hatzinger

Das Staatskirchenrecht beschreibt die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Dabei handelt es sich um historisch geprägtes nationales Recht, das auf dem universellen Grundrecht der Religionsfreiheit fußt. Inwieweit wirkt sich das europäische Recht auf diese Rechtsmaterie aus? Gibt es ein europäisches Staatskichenrecht? Welche Rolle spielt Religion im EU-Recht? Ich möchte mich der Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln nähern: zunächst durch einen kurzen Abriss über die unterschiedlichen Staatskirchensysteme in Europa (1.), die verdeutlichen sollen, dass von einer gemeinsamen Tradition der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften in der EU kaum die Rede sein kann. Im Folgenden möchte ich auf die Regelungen im Verhältnis von Staat und Kirche im Europarecht eingehen (2.), die Bestandteile des europäischen Religionsrechts darstellen.

1. Staatskirchenrechtssysteme in der EU

Aufgrund historischer Entwicklungen und angesichts der konfessionellen, sozialen und politischen Besonderheiten der europäischen Staaten haben wir es mit einer Fülle unterschiedlicher Systeme zur Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche bzw. Staat und Religionsgemeinschaften zu tun. Das Spektrum reicht von Systemen einer strikten Trennung (Laizität) über Kooperations- bis zu Verbundsystemen mit staatskirchlichen Strukturen. Nachstehend ein kurzer und vergröberter Überblick über die Lage in der Europäischen Union:

In Frankreich gilt seit der französischen Revolution und bestärkt durch das Trennungsgesetz vom 09.12.1905 die Trennung von Staat und Kirche. In der französischen Verfassung heißt es in Art. 2: „La France est une Republique laique." Die Laizität garantiert die weltanschauliche Neutralität staatlicher Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es starke Bestrebungen, das Religiöse gänzlich aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten (keine religiösen Zeichen an den nach 1905 errichteten öffentlichen Gebäuden, Verbot religiöser Symbole im Schulwesen). Den Unterhalt der den Kirchen 1905 zur Verfügung gestellten Kirchengebäude übernimmt der Staat. Förderung jüngerer Kirchen, aber auch von sozialem oder kulturellem Engagement der Religionen ist nicht möglich, allerdings gibt es z.B. staatliche Subventionierungen für mildtätige Stiftungen: In Elsass-Lothringen — 1905 deutsches Gebiet - besitzt das Trennungsgesetz im Übrigen keine Geltung.

Dem Prinzip der Trennung folgen auch die Niederlande und Portugal, ebenso wie Estland, Lettland, Slowenien und die Tschechische Republik. Belgien und Luxemburg kennen einerseits ein strenges Trennungssystem, finanzieren aber andererseits sämtliche Pfarrgehälter aus dem Staatshaushalt. In Belgien werden darüber hinaus auch Imame und "Seelsorger" nicht-religiöser Weltanschauungsgemeinschaften vom Staat bezahlt.

In Deutschland sind die Prinzipien der Trennung und Kooperation kennzeichnend für das Staat-Kirche-Verhältnis. Als typisches Instrument der „friedensstiftenden Koordination" bzw. Kooperation stellt sich der Vertrag dar, in dieser Dichte ein „Spezifikum" des deutschen Staatskirchenrechts.

In Spanien und Italien hat die römisch-katholische Kirche viele ihrer Privilegien verloren. Insbesondere in Spanien hat sich der Wandel von einem System der Staatsreligion hin zu einem System paritätischer Kooperation vollzogen. Beide Länder sind heute weltliche Staaten, die die Religionsfreiheit gewährleisten und in denen Staat und Kirche getrennt sind. Dennoch bestehen viele Verbindungen zwischen beiden Ebenen fort, wobei die Beziehungen nicht immer spannungsfrei sind, wenn wir beispielsweise an die Frage der Legitimität gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften denken.

In Griechenland ist die östlich-orthodoxe Kirche (95,2 % der Bevölkerung) die laut Verfassung „vorherrschende" und auch die vom Staat bevorzugte Kirche. Als Nationalkirche verfügt sie über das Recht auf Selbstverwaltung. Ihre Bischöfe müssen vom Parlament bestätigt werden. Ihre Sonderstellung gegenüber anderen Kirchen zeigt sich etwa in der Besoldung des Klerus durch den Staat und im obligatorischen Religionsunterricht auf der Grundlage der orthodoxen Lehre in den Grund- und Mittelschulen. Die griechische Verfassung garantiert eine Religionsfreiheit, die Schutz und Förderung der „bekannten" Religionen zulässt, aber die Rechtspraxis bringt Griechenland immer wieder vor den Gerichtshof in Straßburg.

Das Vereinigte Königreich umfasst Gebiete mit unterschiedlichen Systemen. Es kennt eine Staatskirche in England, eine Nationalkirche in Schottland, die anglikanische Mehrheitskirche in Wales und Nordirland, die dort aber „disestablished" ist, sowie natürlich die katholische Kirche und viele Freikirchen ebenfalls ohne besonderen Rechtsstatus im ganzen Königreich. In England ist das
kirchliche Recht integraler Bestandteil des englischen Rechts. Die Königin, die den Titel einer obersten Schutzherrin der Kirche von England führt, ernennt die (vom Premierminister vorgeschlagenen) Bischöfe und Inhaber anderer geistlicher Ämter. Die Erzbischöfe und mehr als 20 Bischöfe gehören dem House of Lords an.

Ein Blick auf die früheren lutherischen Staatskirchen des Nordens zeigt unterschiedliche Tendenzen auf. Schweden hat sein staatskirchliches System im Jahr 2000 reformiert und ist zu einer moderaten Trennung bei Beibehaltung von gewissen Sonderregelungen für die lutherische Kirche gelangt. Dänemark behält auf nationaler Ebene ein Staatskirchentum (Folkekirken) bei, das die Kirche — anders als z.B. in England — vollständig in die Staatsverwaltung eingliedert und der Regierung unterstellt. In Finnland wiederum sind sowohl die evangelisch-lutherische als auch die russisch-orthodoxe Kirche Staatskirchen.

In den meisten „neuen" EU Staaten (Polen, Ungarn, Slowakei, Litauen und auf Zypern) existiert heute meist ein Trennungssystem mit einer Kooperation von Staat und Kirche. Rechtspersönlichkeit können die Religionsgemeinschaften mit einer gerichtlichen Registrierung erwerben, wenn sie hierfür eine Reihe formaler Voraussetzungen erfüllen. Ihr Selbstbestimmungsrecht wird vom Staat respektiert. In den Schulen wird ein von der Kirche verantworteter fakultativer Religionsunterricht angeboten, und die Kirchen können auch eigene Schulen unterhalten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass alle mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer mit dem Heiligen Stuhl konkordatäre Vereinbarungen unterschiedlicher Art geschlossen haben. Ein System der Kirchensteuer ist nicht bekannt.

In Rumänien leben 87 % Rumänisch-Orthodoxe, 6,8 % Protestanten und 5,6 % Katholiken (davon ca. 0,9 % Griechisch-Katholisch; Domradio, 27.09.2006). Die deutsche und die ungarische Minderheit ist hingegen überwiegend römischkatholisch oder protestantisch. Während sich die Orthodoxe Kirche als Nationalkirche (im Sinne der orthodoxen Lehre der „Symphonie" von Staat und Kirche im christlichen Gemeinwesen) versteht, sehen sich Minderheitskirchen, wie z.B. die Reformierte Kirche trotz der in der Verfassung garantierten Religionsfreiheit in der Praxis diskriminiert. In Bulgarien leben 83 % Orthodoxe, 13 % Moslems und 2 % Katholiken. Auch hier sieht sich die orthodoxe Kirche als Nationalkirche und die staatliche Verfassung hebt das orthodoxe Erbe hervor.

Allein dieser verkürzte und scherenschnittartige Überblick verdeutlich mit welcher Vielfalt verschiedener Systeme wir es in der EU zu tun haben. Trotz der Möglichkeiten, einen europäischen acquis in den Strukturprinzipien der Säkularität, der Neutralität und der Parität auszumachen, wäre es jedoch verfehlt, von einem europäischen Staatskirchenrecht zu sprechen. Die jeweiligen Systeme sind in ihren Vorraussetzungen und rechtlichen Ausprägungen derart mit nationalen Besonderheiten verwoben, dass eine Europäisierung politisch kaum möglich, geschweige denn praktikabel erscheint. Vielmehr muss politisch und rechtlich angestrebt werden, die in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden rechtlichen Bestimmungen zum Schutz von Mehrheits- und Minderheitskirchen tatsächlich zu gewährleisten bzw. zu verbessern.

Es sei an dieser Stelle noch die von Prof. Robbers (ZevKR 42 (1997), S. 127) vertretene Konvergenzthese erwähnt, wonach die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Religionsfreiheit, etwa manifestiert in der Rechtssprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit), nach und nach zu einer graduellen Abschwächung der Unterschiede zwischen den einzelnen Systemen beiträgt (z.B. Aufhebung des Verbotes des Jesuitenordens in der CH, Abschaffung der schwedischen Staatskirche). Die Grundrechte spielen gerade für die Bestimmung dessen, was in der EU an religionsrechtlichem acquis vorhanden ist, eine bedeutsame Rolle.

2. Europäisches Religionsrecht

Zunächst ist festzuhalten, dass eine Europäisierung der Staatskirchensysteme von der EU nicht angestrebt wird. Vielmehr ist in der Amsterdamer Kirchenerklärung von 1997 niedergelegt, dass „die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt". Diese Formulierung hatte Eingang in den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag gefunden und bildet heute Art. 17 I des bislang noch nicht ratifizierten Vertrages über die Arbeitsweise der europäischen Union (Vertrag von Lissabon). Erklärung und — hoffentlich bald — Kirchenartikel erkennen als zentrale Normen des europäischen Primärrechts die Vielfalt der europäischen Staatskirchensysteme an und akzeptieren damit die nationale Kompetenz für das Verhältnis von Staat und Kirche. Die Mitgliedstaaten sind frei, ihr Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbständig zu bestimmen, ohne dass die Europäische Union ihre Entscheidungen hinterfragen oder beeinträchtigen würde. Die Gemeinschaft ist für das Staatskirchenrecht nicht zuständig.

Unumstritten ist weiterhin, dass die jeweiligen Regelungen des Staat-Kirche-Verhältnisses Bestandteil der nationalen Identität sind und somit auch gemäß Art. 6 III EUV von der Union „geachtet" werden. Auch die im vorangehenden Absatz (Art. 6 II EUV) genannten „gemeinsamen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts" konkretisieren sich unter anderem in den genannten Strukturprinzipien in der jeweiligen rechtlichen Ausgestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses.

Das Gemeinschaftsrecht der Religionsfreiheit ist mit dem Vertrag von Maastricht primärrechtlich anerkannt (Art. 6 II EUV: Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind....). Die Religionsfreiheit ist zudem in Art. 10 I der Grundrechte-Charta, auf die der Vertrag von Lissabon verweist, kodifiziert. Dabei ist die Formulierung der Charta im Wortlaut der entsprechenden Norm in Art. 9 EMRK angelehnt. In Art. 22 der Grundrechte-Charta ist zudem niedergelegt, dass die EU die Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Religionen achtet, während Art. 21 I der Charta bestimmt: "Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten." Schließlich heißt es in Art. 14 III (Recht auf Bildung): „Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln."

Für die künftige Arbeit der Kirchen bedeutsam und ein besonderer Erfolg ihres Engagements „auf der europäischen Bühne" ist schließlich der 3. Absatz des bereits erwähnten Art. 17 des Vertrages von Lissabon. In ihm geht man über die aus der Amsterdamer Kirchenerklärung übernommenen Formulierungen hinaus und trifft eine wichtige Richtungsentscheidung für die Bestimmung des Verhältnisses der Europäischen Union zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Absatz III formuliert die institutionelle Anerkennung der Kirchen als gesellschaftliche Kraft, indem er festschreibt, dass die Union „mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog" pflegt. Damit schafft er zum einen eine wesentliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der politischen Mitgestaltung der EU im allgemeinen, und bietet zum anderen die Möglichkeit, etwaige Bedenken der Kirchen im Hinblick auf Ihr Selbstbestimmungsrecht auf politischer Ebene zu Gehör zu bringen.

Zwischenfazit:

Die Anpassungsprozesse „im Rahmen der Überführung des deutschen Staatskirchenrechts in einen Verbund europäischen Religionsrechts verlaufen erstaunlich lautlos und unspektakulär" (Hans Michael Heinig). Dabei sind die Freiheit der Religionsausübung, die Gleichheit aller religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse sowie die Anerkennung der öffentlichen Wirkung und des öffentlichen Wirkens von Religion Elemente eines sich entwickelnden europäischen Religionsrechts.

Die unmittelbare Einmischung in das Verhältnis von Staat und Kirche auf mitgliedstaatlicher Ebene ist zudem wie oben dargelegt untersagt. Die dargestellten Normen des Primärrechts sind und bleiben aber als gemeinschaftsrechtliche Kompetenzschranke eine wichtige Errungenschaft zur Abwehr der mittelbaren Eingriffe durch das Sekundärrecht.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus einem gleichnamigen Vortrag, den OKR'in Hatzinger am 5. Dezember 2008 auf der Tagung „Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?" in der Evangelischen Akademie in Loccum gehalten hat.



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