Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Einigung ohne Einheitlichkeit: Keine gemeinsamen Kriterien für die Armutsmessung in der EU

(Patrick Roger Schnabel)

 

Am 17. Juni 2010 hat der Europäische Rat die Strategie 2020 angenommen – darunter auch ein quantitatives Ziel, die Armut in Europa zu verringern. Die EU-Kommission hatte in ihrem Entwurf der Strategie vorgeschlagen, die Armutsquote in zehn Jahren um 25% von 80 Mio. auf 60 Mio. betroffener Menschen zu reduzieren. Der Berechnung sollte der in der EU seit 2001 übliche Indikator des relativen Armutsrisikos (weniger als 60% des medianen Äquivalenzeinkommens) herangezogen werden. Dagegen hatte es Widerstand der Mitgliedstaaten gegeben: vor allem vonseiten der deutschen Bundesregierung (vgl. Europa-Informationen Nr. 133).

 

Der nun erzielten Einigung ging ein Kompromiss im Ministerrat (Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten) vom 7./8. Juni 2010 voraus, die auf Empfehlungen des Ausschusses für Sozialschutz beruhte. Die Bundesregierung war bei ihrer Ablehnung des Indikators „relatives Armutsrisiko“ geblieben, weil er als rein monetärer Begriff das Phänomen Armut nicht in seiner Vielschichtigkeit erfasse und andere Transferleistungen nicht berücksichtige. Der Kompromiss benennt nun drei mögliche Indikatoren, von denen die Mitgliedstaaten jeweils einen auswählen müssen, den sie für ihre individuelle Bemessung heranziehen.

 

Die drei vereinbarten Indikatoren sind:

1.   Das relative Armutsrisiko,

2.   materielle Unterversorgung ,

3.   Menschen, die in einem Erwerbslosenhaushalt leben.

 

Am Ziel, die Zahl armutsgefährdeter Personen in der EU bis 2020 um 20 Mio. zu reduzieren, wird unter diesen Bedingungen aber festgehalten. 2015 sollen die Ziele überprüft werden, die einigen Mitgliedstaaten (z.B. Belgien und Frankreich) nicht weit genug, anderen (z.B. der Tschechischen Republik, Polen und Italien) zu weit gehen. Strittig ist noch die Festlegung des Basisjahres für die Berechnung der Indikatoren (2008 oder 2009). Deutschland macht sich für 2008 stark, weil dessen Zahlen noch nicht durch die Krise beeinflusst sind. Da ein absolutes Ziel (-20 Mio.) vorliegt, ist das Basisjahr von geringerer Bedeutung, als wenn eine prozentuale Vorgabe bestünde, allerdings dürfte der Grundwert (2008: 120 Mio.) 2009 noch höher liegen.

 

Mit der Einführung einer quantifizierbaren Vorgabe der Armutsverminderung ist ein zentrales Anliegen von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden erfüllt worden. In einem gemeinsamen Brief an die Bundesministerin für Arbeit und Soziales hatten der Bevollmächtigte des Rates der EKD, der Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe und die Präsidenten von DW-EKD und DCV die Bundesregierung gebeten, ihre Position zu überdenken, um gerade im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ein quantifizierbares Armutsziel als Bestandteil der EU-Strategie für die nächsten zehn Jahre zu ermöglichen. In dem Schreiben wurde betont, dass der relative Armutsbegriff zwar allein unzureichend sei, aber gute Erkenntnisse über Beteiligungsmöglichkeiten gebe. Darüber hinaus müssten aber auch Indikatoren für verfestigte und extreme Armut in die nationalen Umsetzungspläne zur Erreichung des Ar-mutsziels aufgenommen werden; Langzeitarbeitslosen müsse besondere Aufmerksamkeit gelten, ebenso der Schulabbrecherquote.

 

Problematisch ist an dem erzielten Kompromiss aus kirchlicher Sicht, dass nicht jeweils alle drei Indikatoren herangezogen werden müssen, sondern dass die Mitgliedstaaten nun die Wahl haben, welchen der drei sie heranziehen. Sie müssen lediglich deutlich machen, wie ihr nationales Ziel zur Verwirklichung des EU-Ziels beiträgt. Dadurch ist die Vergleichbarkeit der Mitgliedstaaten untereinander deutlich erschwert; außerdem werden die Staaten den für sie jeweils günstigsten Indikator heranziehen. Deutschland will sein nationales Ziel am dritten Indikator (Langzeitarbeitslosigkeit) festmachen. Prekäre Beschäftigung wäre so nicht als Problem erfasst, sondern könnte sich im Gegenteil sogar positiv auf die offizielle Armutsbilanz auswirken. Durch die Auswahlmöglichkeit bei den Indikatoren wird die Debatte über die aussagekräftige Bestimmung von Armut zurück in die Mitgliedstaaten verlagert.

 

Problematisch ist auch, dass weiterhin nur das Ziel gelten soll, 20 Millionen Menschen aus der Armutsgefährdung zu befreien. Die neue Summe der drei Indikatoren veranschaulicht nämlich eindrücklich das tatsächliche Ausmaß des Armutsproblems in der EU: statt 80 Mio. ergeben sie nun 120 Mio. armutsgefährdete Menschen. Bleibt man bei der absoluten Zielvorgabe von 20 Mio. Menschen, reduziert sich somit die angestrebte relative Absenkung von 25% auf 16,7%. Damit blieben immer noch 100 Millionen Europäer armutsgefährdet – fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung.

 

Die Berechnungsmodalitäten finden sich in den Empfehlungen des Ausschusses für Sozialschutz:
http://register.consilium.europa.eu



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