Türkei: Im Osten nichts Neues

(Patrick Roger Schnabel)

Am 9. November 2010 hat die Europäische Kommission ihr aktuelles „Erweiterungspaket“ angenommen, in dem ihre Erweiterungsstrategie, ihre Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen Montenegros und Albaniens und die Fortschrittsberichte über die Kandidatenländer und die potentiellen Beitrittskandidaten (die Vorstufe) enthalten sind. Unter den Beitrittsberichten ist der für die Türkei aus kirchlicher Sicht am interessantesten, da hier die größten Defizite in der Gewährleistung von Menschenrechten, insbesondere der Meinungs- und der Religionsfreiheit bestehen.

Das Positive vorweg: Am 12. September 2010 hat das türkische Volk in einem Referendum eine Verfassungsreform angenommen, die wesentliche Fortschritte für die Verbesserung rechtsstaatlicher Strukturen schafft, insbesondere durch Einschränkung der Macht der Militärgerichte und Änderungen in der Verfassungsgerichtsbarkeit.

Auch für die religiösen Minderheiten gab es durchaus auch positive Entwicklungen: So wurden an einigen Orten oft nach vielen Jahrzehnten erstmals wieder christliche Gottesdienste zugelassen. 14 Geistliche des Ökumenischen Patriarchats erhielten die türkische Staatsangehörigkeit, wodurch die Sukzession auf dem Stuhl von Konstantinopel gesichert ist (Anwärter müssen türkische Staatsangehörige sein) und die Arbeit vor Ort vorläufig sichergestellt ist. Zudem fanden einige Treffen von offizieller Seite mit Religionsvertretern statt. Als eine Folge der Gespräche kam es im Mai zu einer Rundverfügung des Ministerpräsidenten, in dem die lokalen Behörden dazu aufgefordert werden, die Probleme religiöser Minderheiten zu beachten.

Ansonsten gibt es kaum wesentliche Fortschritte, so dass die Restriktionen nach wie vor überwiegen. So sind noch längst nicht alle Probleme der Gemeinschaftsstiftungen gelöst, die – aufgrund der immer noch fehlenden Möglichkeit von Kirchen, Rechtspersönlichkeit zu erlangen – Träger der Eigentumsrechte an den meisten kirchlichen Liegenschaften sind. Insbesondere bleibt die Frage offen, ob es Entschädigungen für die Besitzungen geben wird, die enteignet oder verschmolzen und dann an Dritte verkauft wurden.

Aufgrund der Einflüsse des Europarechts kommt es inzwischen zu kuriosen Übergangssituationen. So können zwar Religionsgemeinschaften eigentlich keine Rechtsgeschäfte abschließen und somit auch nicht Eigentümer der von ihnen unterhaltenen Werke sein – doch hat die Türkei aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dem Ökumenischen Patriarchat die Eigentumsrechte am Prinkipos (Buyukada) Waisenhaus rückübertragen. Allgemeinere Auswirkungen über den Einzelfall hinweg hatte das Urteil jedoch nicht.

Die Verwehrung der Möglichkeit, Rechtspersönlichkeit zu erlangen, ist im übrigen nach der im März veröffentlichten Auffassung der Venice-Commission des Europarates nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Damit bestätigt die Kommission die außerhalb der Türkei vorherrschende Rechtsauffassung, dass Art. 9 (Religionsfreiheit) und Art. 11 (Vereinigungsfreiheit) in dieser Frage zusammen gelesen werden müssen.

Doch die Türkei ist auch sonst bei der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) säumig. So ist der Religionsunterricht im schiitischen Islam nach der Auslegung der staatlichen Religionsbehörde DIYANET noch für alle Schüler verpflichtend, obwohl der EGMR dies 2007 für unzulässig erklärt hatte.

Sehr anschaulich sind einige der Probleme jüngst bei einem Auftritt des türkischen EU-Ministers und Chefverhandlers, Egemen Bağış, bei einem vom Ökumenischen Patriarchat veranstalteten Seminar zur Religionsfreiheit im Europäischen Parlament geworden. Auf die Frage, wann das Priesterseminar auf Halki wieder eröffnet werde, wich der Minister mit der Antwort aus, da wisse man im Publikum vermutlich mehr als er. Während seiner gesamten Rede bezog er sich lediglich auf den „Patriarchen von Fenek“ oder den „griechischen Patriarchen“, ohne ihn bei seinem kanonischen Titel zu benennen.

Besorgniserregend sind weiterhin die Übergriffe auf Christen und andere Minderheiten, die in diesem Jahr im Mord am höchsten römisch-katholischen Bischof in der Türkei kulminierten.

Bei aller berechtigten Kritik an den nur sehr langsamen und zögerlichen Fortschritten, darf nicht vergessen werden, dass unter der AKP-Regierung mehr Fortschritte gerade für die Religionsgemeinschaften gemacht wurde als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Auch der Mehrheitsislam bleibt weiterhin unter Deutungshoheit des Staates – und es gerät zum Skandal, wenn die First Lady ihren Mann trotz ihres Kopftuchs bei offiziellen Anlässen begleitet – wie erstmals beim Staatsbesuch von Bundespräsident Wulff. Die Türkei hat noch einen weiten Weg vor sich.

Das Erweiterungspaket finden Sie unter:
http://ec.europa.eu/enlargement/press_corner/key-documents/reports_nov_2010_de.htm



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