Die Zukunft der NATO - die NATO der Zukunft: Was beinhaltet die neue Strategie

(Patrick Roger Schnabel)

Am 19. und 20. November 2010 sind die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation zusammengetroffen, um elf Jahre nach der Verabschiedung des letzten Strategiepapiers eine Neuausrichtung des Bündnisses zu beschließen. Das Konzept von 1999 konnte weder die Folgen der Anschläge von 9/11, nach denen erstmals in der Geschichte der NATO der Bündnisfall nach Art. 5 NATO-Vertrag ausgerufen wurde, noch andere aktuelle Sicherheitsbedrohungen antizipieren. Insgesamt passen die heutigen Bedrohungen kaum ins Ursprungskonzept der NATO oder in ihre Bemühungen einer Neubestimmung nach 1990.

Der Terrorismus passt aufgrund des Fehlens eines klassischen, das heißt staatlichen Gegners schwer in das Konzept gemeinsamer Territorialverteidigung, gleiches gilt etwa für Cyber-War und für Piraterie. Der ehemalige Hauptgegner Russland ist heute ein zwar höchst problematischer, aber auch unverzichtbarer Partner für eine internationale, funktionierende Sicherheitsarchitektur. Schließlich wollen und müssen die Mitgliedstaaten angesichts knapper öffentlicher Haushalte auch im Verteidigungsbudget sparen. Durch diese grundlegenden Veränderungen der Bedrohungslagen und der Voraussetzungen für ein politisch-militärisches Bündnis ist klar, dass die NATO nur eine Zukunft hat, wenn die NATO der Zukunft eine andere wird, als sie bisher war. Die Aufgabe, die das neue Konzept leisten muss, ist also, unter Beibehaltung des Namens und der Grundidee gegenseitiger Sicherheitsgarantien und enger Sicherheitskooperation zu beschreiben, welchen neuen Herausforderungen sich das Bündnis mit welchen Mitteln stellen will.

Nachdem der NATO-Gipfel von Straßburg/Kehl die Erarbeitung eines neuen Konzepts beschlossen und die Albright-Group auf der Grundlage von Konsultationen der Mitgliedstaaten und ihrer Security-Communities Empfehlungen erarbeitet hatte, übernahm es der Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, das Konzept auszuarbeiten. Erst nach der Verabschiedung auf dem Gipfel wurde es der Öffentlichkeit präsentiert.

Die Staats- und Regierungschefs stellen die wichtigsten Punkte voran:
  Die Bekräftigung der Zusage gegenseitiger Verteidigung,
  die Verpflichtung der Allianz auf Krisenbewältigung in allen Phasen und ohne territoriale Einschränkung,
  das Versprechen zu mehr Zusammenarbeit mit internationalen Partnern,
  das Bekenntnis zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt bei gleichzeitiger Bekräftigung der eigenen Nuklearfähigkeit bis zum Erreichen dieses Ziels,
  die Offenheit für alle europäischen Staaten, die die Voraussetzungen erfüllen, und
  die Absicht, effektiver, effizienter und flexibler zu arbeiten.

Als Allianz der Werte „persönlicher Freiheit, Demokratie, der Menschenrecht und der Rechtsstaatlichkeit“ und als transatlantische Brücke soll die NATO sich auf drei Kernaufgaben konzentrieren: 1. Gemeinsame Verteidigung, 2. Krisenbewältigung, 3. kooperative Sicherheit. Dabei gelte es, die Bedingungen für Sicherheit zu erhalten, bzw. wieder herzustellen. Konventionelle Bedrohungen, insbesondere durch Raketen, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, instabile Staaten, Cyber-Angriffe, Angriffe auf Versorgungsrouten und Energienetze, Umweltkatastrophen und Ressourcenknappheit seien potentielle Bedrohungen dieser Sicherheit. Auf sie sei durch die Zusicherung der gegenseitigen Verteidigung basierend auf der Abschreckung durch nukleare wie konventionelle Waffen, die Fähigkeit auch zu gleichzeitigen größeren Einsätzen an allen Orten, einem Raketenabwehrschirm über dem Allianzgebiet, sowie verstärkte internationale Kooperation zu reagieren.

Ein größerer Abschnitt widmet sich der Krisenbewältigung. Krisenprävention, Krisenintervention und post-conflict-management könnten, so die Einsicht, nicht allein mit militärischen Mitteln erfolgen, sondern bräuchten einen kohärenten politischen, zivilen und militärischen Ansatz. Neu ist, dass die NATO eine „angemessene, aber bescheidene zivile Krisenbewältigungsfähigkeit“ aufbauen will, die als Schnittstelle zu den zivilen Kooperationspartnern dienen soll.

Um größtmögliche Sicherheit bei kleinstmöglichem militärischem Aufwand zu erreichen, müssten die sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen verbessert werden. Abrüstung, Rüstungskontrolle, internationale Zusammenarbeit, insbesondere mit den UN, der EU und Russland gehörten dazu.

Es gilt als großer Erfolg, dass Rasmussen ein Papier vorgelegt hat, das ohne großen Änderungsbedarf den Konsens der 28 NATO-Staaten bekommen hat, die in vielerlei Hinsicht nicht sehr viel mehr gemeinsam haben, als eben NATO-Mitglieder zu sein. Doch ob die Strategie tatsächlich zum Erfolg führt, wird sich erst noch in der Umsetzung beweisen müssen. Beim vorlegten Konzept handelt es sich tatsächlich um nicht viel mehr als politische Lyrik, die dazu dient, die Geschlossenheit der NATO nach innen und außen zu demonstrieren. An ihrer Verunsicherung und ihrer Suche nach einer neuen, tragfähigen Identität über die wichtige Funktion der Beistandsklausel des Art. 5 hinaus ändert das nichts. Angesichts der bleibenden Bedeutung der NATO durch diesen Artikel steht ihre Existenz bei den Mitgliedstaaten nicht in Zweifel. Es ist allerdings fraglich, ob die NATO darüber hinaus wirklich das richtige Instrument für die Bewältigung aller im Konzept aufgelisteten drängenden Risiken für die internationale Sicherheit ist – oder ob die im Konzept gefundenen Antworten die richtigen sind.

Viele Probleme sind ungelöst: Die Türkei blockiert eine engere Abstimmung zwischen NATO und EU, solange die Zypernfrage ungelöst ist. Zudem ist sie ein unsicherer Partner für den Raketenschild, da sie mit dem Iran, gegen den sich das Schild im Wesentlichen richtet, keinen Konflikt, sondern Annäherung sucht. Insgesamt ist unklar, wie die NATO mit geringeren Ressourcen auf mehr und komplexere Einzelbedrohungen reagieren will und wie ein Militärbündnis das geeignete Instrument etwa gegen Cyberwar, organisierte Kriminalität und Terrorismus sein soll und kann.

Aus kirchlicher Sicht ist besonders bedauerlich, dass die NATO so deutlich an der nuklearen Abschreckung festhält (siehe nachfolgender Artikel). Aber auch scheinbar positive Ansätze erscheinen auf den zweiten Blick problematisch. Dazu gehört die Einsicht in die Notwendigkeit eines kohärenten Ansatzes in der Konfliktbewältigung. Der Wortlaut lässt jedoch aufhorchen: Die NATO will sich nicht mit zivilen Akteuren koordinieren, sondern die zivilen Tätigkeiten koordinieren, „bis die Bedingungen es erlauben, sie an andere Akteure zu übergeben“. Der Aufbau einer eigenen zivilen Fähigkeit als „Schnittstelle“ lässt befürchten, dass die NATO, statt ihre Aufgaben zu reduzieren, neue Doppelstrukturen etwa zur EU schafft. Damit dürfte das schwelende Konkurrenzproblem zur EU eher größer als geringer werden. Auch die Formulierungen über das Verhältnis zu den Vereinten Nationen deuten eher darauf hin, dass man sich eher als Partner auf Augenhöhe versteht denn als regionales Sicherheitsbündnis im Rahmen einer von den UN garantierten internationalen Sicherheitsarchitektur. Die Herausforderung des Konzepts waren Formulierungen, mit denen alle leben können; die Herausforderung der Umsetzung wird sein, den Mehrwert der NATO für die globale Sicherheit in der Praxis zu erweisen.

Das Konzept finden Sie unter:
http://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_68580.htm



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