Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt kirchliches Arbeitsrecht

(Patrick Roger Schnabel)

Am 23. September 2010 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zwei Urteile veröffentlicht, die in engem Sachbezug stehen: Im einen Fall („Obst“) hat die Gemeinschaft der Mormonen einem Arbeitnehmer gekündigt, der in außerehelicher Beziehung lebte, im anderen („Schüth“) hat die kath. Kirche einem Dekanatsmusiker aus gleichem Grund die Kündigung ausgesprochen. Während der Kläger Obst sich nicht durchsetzen konnte, gab der EGMR dem Kläger Schüth Recht. Die Entscheidungen definieren die Spielräume, die kirchlichen Arbeitgebern bei der Anwendung eigenen Arbeitsrechts zustehen und die staatliche Gerichte bei der Prüfung kirchlicher Entscheidungen einzuhalten haben.

Im Ergebnis bestätigt der EGMR das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, allerdings verlangt er eine stärker am Einzelfall orientierte Abwägung. Spezifische Loyalitätsanforderungen werden vom Gerichtshof nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Ihre Verletzung durch den Dienstnehmer kann jedoch nicht ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung als Kündigungsgrund gelten. Die Prüfung muss sowohl die eingeschränkten Rechte des Beschäftigten als auch die äußeren Umstände des Falles berücksichtigen.

Aus dem Vergleich der Urteilsbegründungen lässt sich recht genau ersehen, welche Prüfmaßstäbe nach Auffassung des Gerichtshofs bei der arbeitsgerichtlichen Kontrolle kirchlicher Entscheidungen bei der Kündigung aufgrund einer Verletzung der Lebensführungspflichten der Mitarbeiter anzulegen sind und welche Spielräume bestehen. Geprüft wurde in beiden Fällen eine mögliche Verletzung der Rechte aus Art. 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens).

Während das Gesamtergebnis also keine grundlegende Infragestellung des kirchlichen Arbeitsrechts bedeutet und auch die vom Gericht aufgestellten Prüfmaßstäbe keine große Überraschung darstellen, fallen in der Analyse der Entscheidungen insbesondere im Fall Schüth einige problematische Ausführungen auf, die eingehenderer Betrachtung – und Kritik – bedürfen:

Als erster Problempunkt ist die Bezugnahme auf das Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland betreffend die Umsetzung der RL 78/2000 EG im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG): Zum einen hat die Europäische Kommission die das kirchliche Arbeitsrecht betreffenden Punkte bereits vor einem Jahr fallen gelassen, da sie von der Konformität des § 9 AGG mit Art. 4 II der Richtlinie überzeugt werden konnte. Zum anderen haben sich auch die ursprünglichen Zweifel der EU-Kommission lediglich auf Unterabsatz 1 des Art. 4 II bezogen (zulässige Ungleichbehandlung aufgrund des Religionsmerkmals), nicht aber auf Unterabsatz 2 (spezifische Loyalitätsanforderungen). Dieser steht im übrigen gerade nicht unter dem Rechtfertigungsvorbehalt des Unterabsatzes 1, sondern soll gerade unter der Voraussetzung, dass eine konfessionell homogene Zusammensetzung nicht möglich ist, sicherstellen, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften nach außen hin im Verhältnis zu ihrem Selbstverständnis/Ethos glaubwürdig bleiben.

Ein zweiter Problempunkt ist, dass der Gerichtshof bei seiner Bewertung der Bedeutung des Ehebruchs – sowohl im Fall Obst als auch im Fall Schüth – nicht allein auf die der jeweiligen Religionsgemeinschaft eigene Rechts- und Werteordnung abstellt. Das lässt außer Acht, das die Religionsfreiheit jeder Religionsgemeinschaft um ihrer selbst willen zur Verfügung steht und nicht gesellschaftliche Konformitäts- oder Nützlichkeitserwägungen relativiert werden darf. Die Übereinstimmung säkularer mit religiösen Werten an sich ist für letztere keine Legitimationsvoraussetzung. Geprüft werden kann nur, ob der angefochtene Akt (hier: die Kündigung) sich kohärent in das der jeweiligen Religionsgemeinschaft eigene Wertesystem einfügt, verhältnismäßig ist.

Am problematischsten aber dürfte sein, dass der Gerichtshof sich in der Bewertung der Frage, ob es sich um eine dem (religiösen) Kern der Religionsgemeinschaft nahe oder fernere Tätigkeit handelt, nicht ausreichend am kirchlichen Selbstverständnis orientiert. Bei einer weltlichen Bewertung der Zuordnung bestimmter Tätigkeitsfelder als verkündigungsnah oder -fern ist erstens besondere Zurückhaltung geboten, weil bei der Religionsfreiheit dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers eine besondere Bedeutung zukommt. Dem säkularen Staat fehlen hierfür schlicht die Beurteilungskriterien. Das staatliche Prüfungsrecht umfasst einerseits die Frage, ob eine missbräuchliche Verwendung des Religionsbegriffs vorliegt – dies dürfte bei der Zuordnung der Kirchenmusik zum „Amt der Verkündigung“ aber kaum gegeben sein. Andererseits erstreckt es sich auf die Kontrolle, ob kircheneigenes Recht korrekt angewandt wurde oder ob Verfahrensnormen oder Rechtsgrundsätze verletzt wurden. Soweit eine solche Prüfung im Interesse kollidierender Rechtsgüter vorgenommen wird, ist auch deshalb eine maßvolle, das kirchliche Selbstverständnis berücksichtigende Beurteilung geboten, weil der Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Arbeitsrecht sonst auf das Niveau bloßen Tendenzschutzes abgesenkt würde. Das ist vom Gesetzgeber aber weder auf deutscher noch auf europäischer Ebene gewollt.

Zumindest verwunderlich ist in diesem Zusammenhang, dass der Gerichtshof ausführt, dass ein Kirchenmusiker aufgrund seines Berufsbildes nach einer Kündigung außerhalb des kirchlichen Raumes kaum Anstellungschancen hätte und dieser Nachteil zu seinen Gunsten in die Abwägung mit einfließen muss. Gerade diese Annahme – wenn man sie für zutreffend hielte – spräche dafür, dass es sich um einen besonders kirchenspezifischen Beruf handelt. Insgesamt scheint – das spiegelt sich leider auch in einigen Interviews mit der deutschen Richterin am EGMR, Renate Jäger – die Auffassung zu herrschen, die großen Kirchen nähmen für sich besondere Rechte in Anspruch. Das trifft nicht zu. Im Gegenteil wird darauf zu bestehen sein, dass die Kirchen nicht schon wegen ihrer Größe benachteiligt werden, weil sie dadurch als Monopolarbeitgeber erscheinen könnten, dessen Grundrechtsausübung stärker durch kollidierende Grundrechte begrenzt ist als bei weniger präsenten Religionsgemeinschaften.

In einer Gesamtbewertung beider Urteile nehmen sich diese Problemanzeigen jedoch gering aus. Die besonders im Fall Schüth gerügte Praxis, das kirchliche Selbstverständnis ohne erkennbare Abwägung den Grundrechten des Dienstnehmers überzuordnen und hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Konsequenzen keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, entspricht ohnehin nicht der im Staatskirchenrecht vorherrschenden Meinung. Gerade aus dem Vergleich der Fälle Obst und Schüth geht hervor, dass die Entscheidung zugunsten der Religionsgemeinschaft möglich ist, wenn das prüfende Gericht die Abwägung handwerklich sauber und plausibel vornimmt. Insofern ist Schüth, gerade im Zusammenspiel mit Obst, eher als Kritik an der Rechtsanwendung als an den Rechtsgrundlagen zu werten.

Allerdings gibt der EGMR den Kirchen mit seinen Entscheidungen auch gewisse Hausaufgaben auf: Loyalitätsanforderungen müssen hinreichend bestimmt und verhältnismäßig sein, sich kohärent in die von der jeweiligen Kirche zugrunde gelegten Werteordnung einfügen und in der internen Rechtsanwendung konsequent und einheitlich gehandhabt werden. Maßvolle Nutzung des Selbstbestimmungsrechts und extensive Anwendung der sozialen Gebote des Dienstgemeinschaftsprinzips erhalten die Spielräume dort, wo sie gebraucht werden, um die Ordnung der Kirche zu wahren.

Mehr zu den Urteilen finden Sie beim EGMR:
http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=874369&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649



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