Kirche im Dialog: Ist nukleare Abschreckung moralisch vertretbar und sicherheitspolitisch sinnvoll?

(Patrick Roger Schnabel)

Am 2. November 2010 diskutierten in der Evangelischen Akademie zu Berlin Vertreter von Kirche und Politik über die Pläne für das neue Strategische Konzept der NATO (s. voranstehender Artikel). Schwerpunkt der Diskussion, die auf Anregung des EKD-Büros Brüssel stattfand, war die nukleare Abschreckung als Teil der Verteidigungsdoktrin im Bündnis. Das Gespräch bestritten der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Schriftführer Renke Brahms, der Friedensforscher Otfried Nassauer, der ehemalige deutsche NATO-General und Mitautor der Friedensdenkschrift der EKD, Klaus Wittmann, der Leiter der politischen Abteilung der deutschen NATO-Vertretung, Jasper Wieck, sowie als international-ökumenische Stimme Laurens Hogebrink von IKV-Pax-Christi aus den Niederlanden.

Das Thema der nuklearen Abschreckung, insbesondere der nuklearen Teilhabe ist für Deutschland innenpolitisch wichtig, da der Abzug amerikanischer Atomwaffen von deutschem Boden erklärtes Ziel von Außenminister Westerwelle ist und sogar im Koalitionsvertrag erwähnt wird. Die moralischen Bedenken der christlichen Friedensbewegung stützen sich u.a. auf das Argument, dass nukleare Abschreckung nur funktioniert, wenn der Einsatz als ultima ratio auch realistisch ist. Dieser Einsatz wäre jedoch in jedem Fall mit so großen Verlusten in der Zivilbevölkerung verbunden, dass er nicht mehr als verhältnismäßig und mit den völkerrechtlichen Vorgaben humaner Kriegsführung vereinbar wäre. Dass der Ruf nach der Abschaffung der Atomwaffen („global zero“) jüngst auch von hochrangigen „elder statesmen“ aus den USA und Europa verstärkt wird, hat aber auch andere Gründe: Nach Ende des Kalten Krieges und dem Aufkommen neuer Bedrohungen wie fragile oder gescheiterte Staaten und Terrorismus stellen die Waffen heute ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar: Gerade die großen, aber schlecht gesicherten Arsenale Russland bergen die Gefahr von Diebstahl und Proliferation oder direkten Anschlägen. Hinzu kommt, dass die Erhaltung der Einsatzfähigkeit und die Bewachung der Systeme jährlich Milliarden verschlingt, aber für die tatsächliche Einsatzfähigkeit der Streitkräfte in Konfliktsituationen faktisch bedeutungslos sind. Angesichts strikter Sparvorgaben auch im Verteidigungshaushalt ist die Kosten-Nutzen-Analyse negativ.

Die Gegner einer schnellen und möglicherweise unilateralen Abrüstung wollen dagegen das Abschreckungspotential einer unausgesprochenen Einsatzdoktrin – sei sie Erstschlag oder Vergeltung – nicht aufgeben. Solange Atomwaffen in der Welt seien, müsse die NATO selbst über Nuklearwaffen verfügen, um über die Ungewissheit eines Einsatzes eine effektive Drohkulisse gegenüber möglichen Angreifern aufzubauen. Außerdem wird auf das Ungleichgewicht verwiesen, das dadurch entsteht, dass Russland erheblich mehr einsatzfähige Atomsprengköpfe auf europäischem Boden hat als die USA, Frankreich und das Vereinigte Königreich zusammen.

Die Pläne für den Aufbau eines Raketenschirms für das NATO-Gebiet sollten, so die deutsche Hoffnung, den Weg für konkrete Abrüstungsschritte und den Abzug wenigstens der US-Systeme aus Europa ermöglichen. „Defense by denial“, also Abschreckung durch die Verhinderung eines Angriffs sollte die Bedeutung der Nuklearwaffen weiter reduzieren. Damit das Konzept aufgeht, ist es jedoch wichtig, Russland von einer gemeinsamen Abwehr zu überzeugen, da sonst die Gefahr besteht, dass Russland den Bedeutungsverlust seiner eigenen Nuklearfähigkeiten durch ein neues Aufrüsten kompensieren würde. Leider scheinen aber viele NATO- Staaten höchstens an eine Koordination, keine Kooperation beim Raketenschirm zu denken. Hinzu kommt, dass die Verzögerung der Ratifikation des START II-Abkommens (Abrüstung strategischer Nuklearwaffen) durch die neue republikanische Senatsmehrheit in Washington die russische Seite düpiert und so die Annäherung für die russische Regierung innenpolitisch erschwert.

Auf europäischer Seite kommt hinzu, dass vor allem Frankreich den von Deutschland gemachten Konnex Raketenabwehr – Nuklearabrüstung vehement ablehnt. Beides seien höchstens sich ergänzende Formen der Abschreckung. Frankreich lehnt eine weitere nukleare Abrüstung ab und sieht sich auch mittel- und langfristig als Atommacht. Gegenüber dieser von starkem nationalem Machtanspruch geprägten Haltung war es für Deutschland schon ein Erfolg, „global zero“ überhaupt im Rasmussen-Entwurf verankert zu sehen, wenn auch als bloße Vision mit vielen konkreten Einschränkungen aber keinen konkreten Angaben für nächste Schritte, seien sie noch so klein.

Dieses Scheitern der deutschen Bemühungen war zu erwarten, da es immer schwieriger ist, eine Mehrheit für Veränderungen zu organisieren als den Status Quo beizubehalten. Angesichts der wachsenden Unsicherheiten, die Atomwaffen bedeuten, ist dieses Ergebnis dennoch höchst bedenklich, wie es die EKD-Synode am 10. November 2010 in einem Beschluss bekräftigt hat.

Den Beschluss der EKD-Synode zur nuklearen Abrüstung finden sie hier:
http://www.ekd.de/synode2010/beschluesse/beschluss_s10h_nukleare_abruestung_i_7.html



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