Für eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft - 50 Vorschläge der Kommission

(OKR´in Katharina Wegner, DW EKD)

Am 27. Oktober 2010 hat die Europäische Kommission aufbauend auf den Empfehlungen des vormaligen Kommissars Mario Monti die „Single Market Act“ - die „Binnenmarktakte“ - verabschiedet, einen Plan, um das Wachstum anzukurbeln und das Vertrauen in die Vorteile des gemeinsamen Marktes wiederherzustellen. Das Dokument umfasst 50 Vorschläge zur Neubelebung des Binnenmarktes, die ab 2012 in Kraft treten, zuvor aber im Wege einer öffentlichen Konsultation bis zum 28. Februar 2011 diskutiert werden sollen.

Nach Auffassung von Binnenmarktkommissar Michel Barnier hat der Binnenmarkt Europa seit 1992 enorme Vorteile gebracht und neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet. Aber der freie Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr verlaufe nicht immer reibungslos, da der europäische Markt in einigen Bereichen nicht wirklich verzahnt sei. Gesetzeslücken, administrative Hürden und eine mangelhafte Durchsetzung der Rechtsvorschriften verhindern, dass das volle Potenzial des Binnenmarktes ausgeschöpft wird.

Europa sei der größte Wirtschaftsraum der Welt, und der Binnenmarkt sei dabei der entscheidende Trumpf für die Wettbewerbsfähigkeit. Jetzt gehe es darum, den europäischen Bürger wieder in den Mittelpunkt des Binnenmarktes zu stellen.

Die Neubelebung des Binnenmarktes sei zudem eine unverzichtbare Komponente der Europa 2020 Strategie. Ein modernisierter Binnenmarkt sei das Fundament der Umsetzung der sieben Leitinitiativen der Strategie.

Der Erfolg des europäischen Modells beruhe auf der Fähigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Deshalb müssten die Anstrengungen auf die Stärke der europäischen Wirtschaft - die 20 Mio. Unternehmen in Europa, insbesondere die kleinen und mittleren - konzentriert und die Bürger als Verbraucher und Akteure des Binnenmarktes angesprochen werden.

Im Folgenden sollen einige ausgewählte Punkte aus der Binnenmarktakte vorgestellt werden, die aus kirchlich-diakonischer Sicht von besonderem Interesse sind:

Teil 1 der Mitteilung steht unter dem Titel „Ein starkes, nachhaltiges und faires Wachstum in Partnerschaft mit den Unternehmen“. Hier geht es u.a. um das europäische Vergaberecht. Dessen Ziel sei, einen offenen, wettbewerbsorientierten gesamteuropäischen Markt für größere öffentliche Aufträge zu schaffen.

Vorschlag 18 lautet: Die Kommission wird 2011 eine Rechtsetzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen auf den Weg bringen. Klare und angemessene Regeln würden den europäischen Unternehmen einen besseren Marktzugang verschaffen und gleichzeitig Transparenz, Gleichbehandlung und gleiche Spielregeln für alle Wirtschaftsbeteiligten gewährleisten. Öffentlich-private Partnerschaften würden gefördert und Dienstleistungsnutzer und öffentliche Auftraggeber könnten von einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis profitieren. Dienstleistungskonzessionen machten einen Anteil von 60 % an öffentlich-privaten Partnerschaftsverträgen aus. Die Verbesserung der Bedingungen für eine wettbewerbliche Vergabe von Dienstleistungskonzessionen und der Abbau von Rechtsunsicherheiten seien einem effizienten Funktionieren der Infrastrukturen förderlich. Öffentlich-private Partnerschaften und insbesondere Dienstleistungskonzessionen ermöglichten es, langfristige Investitionen in Sektoren wie Energie, Abfallbewirtschaftungen und Verkehrsinfrastrukturen zu lenken. Die Kommission werde Rechtsvorschriften zur Schaffung eines europä¬ischen Rahmens vorschlagen, der die Entstehung solcher öffentlich-privater Partnerschaften begünstige, ohne dass die lokalen Behörden dadurch übermäßig belastet würden.

Die EU-Kommission möchte ferner EU-weit die Unternehmenssteuern vereinheitlichen, denn die großen Unterschiede wirkten sich äußerst hinderlich auf die grenzüberschreitende Tätigkeiten insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen aus.

Vorschlag 19: Die Kommission wird 2011 einen Richtlinienvorschlag zur Festlegung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage vorlegen. Grenzübergreifend tätige Unternehmen hätten dann in Steuerangelegenheiten nur noch mit einem einzigen Steuersystem und einer einzigen Steuerverwaltung in der EU zu tun. An eine Harmonisierung der Höhe der Unternehmensbesteuerung ist aber nicht gedacht.

Vorschlag 20: Die Kommission wird 2011 ein Konzept für eine neue Mehrwertsteuerstrategie vorlegen, auf Grundlage eines Grünbuches, das sie noch 2010 veröffentlichen will.

In Teil 2 der Mitteilung geht es unter dem Titel „Vertrauen wiedergewinnen und die europäischen Bürger in den Mittelpunkt des Binnenmarktes stellen“ darum, den Markt und die soziale Dimension miteinander in Einklang zu bringen. Zwar unterlägen die Sozialschutzsysteme der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die menschliche Dimension der sozialen Marktwirtschaft sei aber gefordert, um im Binnenmarkt Vertrauen aufzubauen und die Leistungsfähigkeit des Binnenmarktes sicherzustellen. Dabei wird die wichtige Rolle der Sozialpartner hervorgehoben. Zudem gebe es eine Vielzahl von Rechtsvorschriften, die die europäischen Organe ausdrücklich ermächtigten, auf dem sozialen Feld tätig zu werden. Genannt werden hier die einschlägigen Vorschriften der Grundrechtecharta und die im EU-Vertrag (Art. 9) verankerte horizontale soziale Klausel, die mit Leben erfüllt werden müsse. Es wird auch auf die Bedeutung der Kohäsionspolitik für einen funktionierenden Binnenmarkt hingewiesen.

Öffentliche Dienste und Schlüsselinfrastrukturen müssten optimiert werden. Hier wird auf Art. 14 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und das Protokoll 26 zu Diensten von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse verwiesen. Bei vielen vom öffentlichen Sektor tagtäglich erbrachten Diensten handele es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit, die deshalb in den Anwendungsbereich des Unionsrechtes fielen. Insbesondere bei Art. 106 AEUV – Wettbewerbsregeln und Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – handele es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit der Kommission. Diese werde die Bewertungsarbeiten fortsetzen und das Monti-Kroes-Paket gegebenenfalls überarbeiten.

Vorschlag 25: Die Kommission verpflichtet sich, bis 2011 eine Mitteilung mit einem Maßnahmenpaket zu Diensten von allgemeinem Interesse vorzulegen. Die Union und ihre Mitgliedstaaten müssten dafür sorgen, dass öffentliche Dienstleistungen, einschließlich sozialer Dienstleistungen, leichter auf der jeweils geeigneten Ebene erbracht werden könnten, klaren Finanzierungsregeln unterlägen, von höchstmöglicher Qualität und allen zugänglich seien. Drei Handlungsschwerpunkte sollen gesetzt werden:
- Benutzerfreundlicher und leistungsfähiger „Werkzeugkasten“ für die Behörden, der sämtliche relevanten Probleme wie Finanzierung, öffentliche Auftragsvergabe und Verwaltungszusammenarbeit abdecke und es ihnen ermögliche, bedarfsgerechte lokale öffentliche Dienstleistungen hoher Qualität zu erbringen.
- Dem europäischen Bürger müsse es ermöglicht werden, sich ein eigenes Urteil über die Entwicklung der Qualität der Dienstleistungen abzugeben, die insbesondere im Kontext der Reformen zur Liberalisierung der großen netzgebundenen Wirtschaftszweige bereit gestellt werden (Verkehrsdienstleistungen, Postdienste, Energieversorgung).
- Flächendeckende Versorgung mit Universaldienstleistungen hoher Qualität (z.B. Post).

Die Kommission verpflichtet sich,
• weiterhin die Antworten auf praktische Fragen der Bürger hinsichtlich der Anwendung des EU-Beihilferechts und öffentlichen Auftragswesens im Bereich der Dienste von allgemeinem Interesse, zu aktualisieren;
• Maßnahmen zu ergreifen, um die Bewertung der Qualität dieser Dienstleistungen zu verbessern und Vergleiche auf europäischer Ebene zu erleichtern;
• zu prüfen, inwieweit es angebracht und möglich ist, die Universaldienstverpflichtung auf weitere Bereiche auszudehnen, möglicherweise auf der Grundlage von Art. 14 AEUV.

Die Binnenmarktfreiheiten müssten nicht nur den Stärksten, sondern auch den Schwächsten, also Menschen mit Behinderungen, älteren Menschen zu Gute kommen. In diesem Zusammenhang macht die Kommission Vorschlag 29: Auf der Grundlage ihrer Strategie zur wirksamen Umsetzung der Grundrechtecharta (s. nachfolgender Artikel) wird die Kommission darauf achten, dass den durch die Charta garantierten Rechten, einschließlich des Rechtes auf Kollektivmaßnahmen, Rechnung getragen wird. Die Kommission wird im Vorfeld der Ausarbeitung sämtlicher den Binnenmarkt betreffenden Rechtsetzungsvorschläge eine eingehende Analyse der sozialen Auswirkungen vornehmen.

Vorschlag 30: Die Kommission wird 2011 einen Rechtsetzungsvorschlag zur besseren Umsetzung der Entsenderichtlinie annehmen. Durch diesen soll eine klärende Bestimmung zur Ausübung der sozialen Grundrechte im Kontext der wirtschaftlichen Freiheiten im Binnenmarkt verankert werden. Die Ausübung des Rechtes der Dienstleistungsfreiheit setzt voraus, dass Mitarbeitende in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden können. Die Entsendungsrichtlinie ist deshalb für den Binnenmarkt von Bedeutung. Damit die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer geschützt werden können, sieht sie einen „harten Kern“ von im Aufnahmestaat geltenden Schutzbestimmungen vor, die in gleicher Weise auf entsandte Arbeitnehmer Anwendung finden müssen. Hier sieht die Kommission noch Verbesserungsbedarf.

Vorschlag 32: Die Kommission wird eine Konsultation der Sozialpartner einleiten mit dem Ziel, einen europäischen Rahmen für die Antizipation industrieller Umstrukturierungen auszuarbeiten.

Unter der Überschrift „Neue Instrumente im Dienste der sozialen Marktwirtschaft“ wird gegen Ende der Mitteilung dann doch noch die Sozialwirtschaft erwähnt. Das erste Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends habe europa- und weltweit ein gewaltiges Innovationspotenzial im Bereich der Sozialwirtschaft zu Tage gefördert. Genannt werden beispielhaft kreative Lösungen im Hinblick auf den Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt, zu Bankdienstleistungen oder Dienstleistungen, die eine bessere Integration von Behinderten ermöglichen.

Vorschlag 36: Die Kommission wird 2011 eine Initiative für soziales Unternehmertum vorschlagen mit dem Ziel, die Entwicklung innovativer Unternehmensprojekte im sozialen Bereich innerhalb des Binnenmarktes zu unterstützen und zu begleiten.

Vorschlag 37: Die Kommission wird Maßnahmen vorschlagen, die zur qualitativen Verbesserung der rechtlichen Strukturen, in denen die Sozialwirtschaft in ihren höchst unterschiedlichen Rechtsformen operiert, beitragen mit dem Ziel, ihre Entwicklung im Binnenmarkt zu fördern.

Die Kommission schlägt folgende Initiativen vor:
- Verordnung über das Statut der Europäischen Stiftung,
- Öffentliche Konsultation über die Umsetzung der Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft,
- Studie zur Situation von Gegenseitigkeitsgesellschaften in allen Mitgliedstaaten.

Im letzten Teil 3 der Mitteilung geht es um die „Instrumente einer guten Binnenmarktgovernan-ce“. Die Mitteilung schlägt einen neuen Rahmen für den Dialog vor. Hier werden schließlich auch die Zivilgesellschaft und die Verbände genannt. Die Kommission möchte von 2011 an jährlich ein Binnenmarktforum veranstalten.

In Vorschlag 48 verpflichtet sich die Kommission dafür zu sorgen, dass die Standpunkte der Verbraucher, Nichtregierungsorganisationen und anderer im Rahmen von Konsultationen, die der Verabschiedung von Vorschlägen vorausgehen, berücksichtigt werden.

Nach wie vor beklagt die Kommission große Defizite bei der Umsetzung der Richtlinien. Die nationalen Behörden kämen den Urteilen des EuGH nur mit großer Verzögerung nach. Die Kommission will ihren Beitrag zu einer Verbesserung leisten, in dem sie sich in Vorschlag 47 dazu verpflichtet, die mittlere Bearbeitungsdauer von Vertragsverletzungsverfahren zu verringern.

Das vollständige Dokument ist zu finden unter:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:0608:FIN:DE:PDF



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