Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 131

Sacharow-Preis 2009 geht an die russische Bürgerrechtsorganisation „Memorial“

(Solveig Müller, Sondervikarin)

Am 22. Oktober 2009 gab das Europäische Parlament bekannt, dass der „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ dieses Jahr der russischen Bürger-initiative „Memorial“ verliehen werden wird.

Deren Mitarbeiter Oleg Orlow, Sergei Kowaljow und Ljudmila Alexejewa werden stellvertretend für alle russischen Menschenrechtler ausgezeichnet. Ihnen wird der mit 50 000 Euro dotierte Preis am 16. Dezember 2009 - in dem Monat, in dem 1948 die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde - während der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg durch den Parlamentspräsidenten feierlich übergeben.

Seit 1988 ehrt das Europäische Parlament außergewöhnliche Persönlichkeiten und Organisationen, die gegen Intoleranz, Fanatismus und Unterdrückung kämpfen und sich für Menschenrechte und freie Meinungsäußerung einsetzen.

Der Preis ist nach dem russischen Friedensnobel-preisträger von 1975 Andrej Dmitrijewitsch Sacharow (1921-1989) benannt. Der Kernphysiker Sacharow war maßgeblich an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt. Doch in der Folge machte er immer eindringlicher auf die Gefahr des atomaren Rüstungswettlaufs aufmerksam. Einen Teilerfolg erzielte er, als 1963 der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen unterzeichnet wurde.

1970 gründete Sacharow, der in der UdSSR mittlerweile als Dissident mit subversiven Ideen galt, ein Komitee zur Durchsetzung der Menschen-rechte. Er setzte sich für politisch Verfolgte und für das Selbstbestimmungsrecht von ethnischen Minderheiten ein. Am 10. Dezember 1975 wurde Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen. Das Nobelkomitee würdigte seine Leistungen zur Unterstützung Andersdenkender und sein Streben nach einer rechtsstaatlichen und offenen Gesellschaft.

1989 gründete Sacharow die Bürgerinitiative Memorial, die sich als erste Nichtregierungsorganisation auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion für die Aufklärung der Verbrechen des Stalinismus sowie für die soziale Fürsorge dessen Opfer einsetzt. Dies geschieht in vielfältiger Weise. Memorial erforscht und veröffentlicht das Repressionssystem der Arbeitslager der Sowjetunion. Die unzähligen namenlosen Toten würdigt die Organisation, indem sie an den Stellen früherer Lager und Massengräber Gedenksteine und -tafeln aufstellt. Einmal im Jahr wird eine Reise zu den im Norden Russlands gelegenen Solowezki-Inseln organisiert, wo bereits 1920 das erste Straflager für politische Gefangene errichtet wurde.

Memorial unterstützt die ehemaligen Häftlinge, die heute meist in verheerenden sozialen Umständen leben. Ehrenamtliche kümmern sich um Pflegebedürftige. Eine Apotheke in Sankt Petersburg versucht, ihnen dazu die nötigen Medikamente zur Verfügung zu stellen. Teilweise leistet Memorial auch  finanzielle Unterstützung. So beteiligt sich die Organisation zum Beispiel an den Kosten zur Beerdigung mittellos verstorbener ehemaligen Lagerinsassen. Seit den 1990-Jahren engagiert sich Memorial außerdem gegen autoritäre Tendenzen in den post-sowjetischen Staaten und für die Entwicklung einer freiheitlichen, demokratischen Bürgergesellschaft. 2004 erhielt Memorial den Alternativen Nobelpreis.

Das Engagement der Organisation wurde durch mehrere Todesfälle erschüttert. 2004 wurde Nikolai Girenko erschossen. Er war zuvor als Gutachter in Prozessen gegen Neonazis aufgetreten. Im Juli 2009 wurde Natalja Estemirowa in Grosny ermordet. Sie arbeitete in Tschetschenien, um dort die Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu dokumentieren.

So ist für Oleg Orlow, dem Vorsitzenden von Memorial die Verleihung des Sacharow-Preises „eine tiefe innere Genugtuung. Sie motiviert uns, dass wir unsere Arbeit unter den schwierigen Bedingungen in Russland fortsetzen.“

Auch Jerzy Buzek, der Präsident des Europäischen Parlaments, verbindet mit der Auszeichnung von Memorial die Hoffnung, „dass der Kreislauf aus Furcht und Gewalt, mit dem sich Menschenrechtler in der Russischen Förderation konfrontiert sehen, durchbrochen wird. Wir hoffen, deutlich zu machen, dass Aktivisten der Zivilgesellschaft ihr grundlegendes Recht auf Meinungs- und Gedankenfreiheit überall frei ausüben können müssen. Die Freiheit des Denkens ist Grundlegend für die Wahrheit.“ Weiterhin betont Buzek, dass er „als jemand der von der Solidarnosc kommt und der sich für Wahrheit und Freiheit eingesetzt hat, besonders über diese Ehrung (von Memorial) freue.“

Weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.europarl.europa.eu/parliament/public/staticDisplay.do?language=DE&id=42
http://www.memo.ru/deutsch/index.htm

 



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