Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 131

Europäisches „Kruzifix-Urteil“: Rechtsprechung auf Irrwegen

(Patrick Roger Schnabel)

Am 3. November 2009 gab die Deuxième Section des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einer Klage statt, die die verpflichtende Anbringung von Kruzifixen an italienischen Staatsschulen als Verletzung der elterlichen Erziehungsrechte aus Art. 2 des Protokolls Nr. 1 und der Religionsfreiheit aus Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) rügte. Die italienische Regierung plant, gegen das Urteil vor der Großen Kammer Berufung einzulegen.

Das Gericht betont, dass die Achtung des Erziehungsrechts nur in einem Schulumfeld möglich sei, das offen sei – unabhängig von der religiösen Herkunft der Schüler. Die Schule dürfe daher kein „Theater missionarischer Aktivitäten“ sein, sondern ein Raum des Austausches unterschiedlicher Überzeugungen. Unterrichtsinhalte müssten objektiv, kritisch und pluralistisch vermittelt werden. Aus der Neutralitätspflicht des Staates erwachse ein Verbot, hinsichtlich einer Religion oder ihrer Ausdrücke Bevorzugungen erkennen zu lassen.

Aus diesen Prinzipien leitet das Gericht ab, dass dem Staat direkte und indirekte Einflussnahmen auf das Bekenntnis seiner Bürger untersagt seien.

Dies gelte insbesondere für die Schule, weil den Schülern die kritische Distanz gegenüber Beeinflussungen noch fehle. Während die italienische Regierung dargelegt habe, dass das Kruzifix die christliche Moral versinnbildliche, die die laizistischen Verfassungswerte transzendiere, und dass die Religion aufgrund der Geschichte in der Tradition des Landes verwurzelt sei, betont das Gericht die vorherrschende religiöse Bedeutung des Kruzifixes. Die Anbringung im Klassenraum gehe daher über den historischen Bezug hinaus. Es könne nicht übersehen werden und müsse daher als integraler – und religiöser –Bestandteil des Schulumfelds wahrgenommen werden. Dies könne für religiöse Schüler ermutigend, für andere aber emotional verstörend sein; besonders für Schüler, die aus religiösen Minderheiten stammen. Die negative Religionsfreiheit beschränke sich nicht auf das Fehlen religiöser Feiern oder religiöser Erziehung. Sie schütze auch vor der erzwungenen Konfrontation mit religiös-weltanschaulichen Praktiken und Symbolen. Dieses negative Recht rechtfertige zudem einen besonderen Schutz, wenn es der Staat ist, der einem Glauben Ausdruck verleiht oder wenn jemand in einer Situation ist, der er sich nur unter unverhältnismäßigen Opfern entziehen kann. Schüler religiösen Symbolen auszusetzen, rechtfertige sich weder durch den Wunsch von Eltern noch durch die Beteiligung christlicher Parteien an der Regierung. Der Staat sei in jedem Fall gehalten, seine Neutralität in der öffentlichen Bildung zu wahren, in der die Teilnahme ohne Ansehen der Religion verpflichtend ist und der Staat den Schülern kritisches Denken zu vermitteln habe.

Die Richter haben sich in der Urteilsbegründung stark, teilweise bis in den Wortlaut, an der umstrittenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 orientiert. Schluss und Begründung sind im wesentlichen deckungsgleich.

Allerdings verzichtet der EGMR auf diejenigen Ausführungen, die den religiösen Beitrag zur Gesellschaft positiv werten. So stellt das BVerfG fest, kein Staat könne die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube sei dabei von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen etc. könnten dem Staat nicht gleichgültig sein. Das gelte in besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden. Auch dürfe der Staat auf die Religionsfreiheit derjenigen Eltern Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschen.

Hier sind die Straßburger Richter vergleichsweise religionskritisch und verneinen faktisch die mögliche religiöse Prägung des Erziehungswesens und überspitzen dabei die Definition des neutralen, unparteiischen Staats.

Das Karlsruher Urteil ist zu Recht kritisiert worden, weil es der negativen Religionsfreiheit im öffentlichen Raum so viel Gewicht gibt, dass sich diese faktisch immer gegen die positive Religionsfreiheit durchsetzen muss. Damit würde das Grundrecht letztlich zu einem Instrument, die Religion zur völligen Privatsache zu machen. Das entspricht nicht der europäischen Kultur und dem Willen der Mehrheit der europäischen Bürger. Gerade die Schule ist ein Feld, in dem der Staat zusammen mit Eltern und Gesellschaft für die Erziehung der Jugend in einem umfassenderen Sinn Sorge zu tragen hat. Er kann auch kein Interesse an einer massiven Abwanderung religiös Bewusster in Konfessionsschulen haben. Die gleiche Kritik gilt für das Straßburger Urteil.

Besonders bedauerlich ist aber, dass die Richter des EGMR sich zwar eng an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angelehnt haben, sich aber dann nicht die Mühe machten, den Fortgang der deutschen Situation zu berücksichtigen. Die bayerische Staatsregierung hat nämlich eine „salomonische“ Lösung gefunden, die den positiven und den negativen Aspekt des Grundrechts zum Ausgleich bringt. Mit der Möglichkeit von Eltern, gegen das Kreuz Einspruch zu erheben und der Verpflichtung der Schulen, es abzunehmen, wenn keine gütliche Lösung gefunden werden kann, wurde dem Minderheitenschutz ausreichend Rechnung getragen.

Dennoch bleibt in der großen Mehrheit der Fälle das Kreuz dort, wo christliche und andernfalls tolerante Eltern es gern sehen möchten: An der Wand des Klassenzimmers. Das Bundesverfassungsgericht hat weitere Klagen gegen diese Lösung nicht angenommen und damit implizit diesen Weg als mögliche Interpretation seiner Rechtsprechung gebilligt. Der EGMR hätte gut daran getan, die Widerspruchslösung in sein Urteil zu integrieren, statt den Spruch des BVerfG noch zu verschärfen.

Beim EGMR ist auch das Mandat zu bedenken. Die Signatarstaaten der Menschenrechtskonvention haben niemals beabsichtigt, ihre staatskirchenrechtlichen Unterschiede zu nivellieren. Vom Laizismus bis zur Staatsreligion und Staatskirche ist alles möglich. Gewährleistet wird lediglich ein Mindestniveau an Grundrechtsschutz. Dieses schließt die besondere Identifikation eines Staates mit einer Religion nicht aus, solange daraus Dissentierenden keine Nachteile entstehen. Selbst wenn Italien der Verfassung nach keine Staatsreligion hat, ist es nicht die Aufgabe des EGMR über die Zulässigkeit des Kruzifixes nach nationalem Recht zu befinden. Es hat lediglich darüber zu wachen, dass durch das nationale Recht internationale Verpflichtungen nicht verletzt werden. Dabei sind die Normen der EMRK vor dem Hintergrund auszulegen, dass eine Abschaffung selbst von Staatsreligionen durch die vertragsschließenden Parteien zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt war.

Grundsätzliche Ausführungen über die vermeintlich verpflichtende Säkularität des Erziehungswesens kommen dem Gerichtshof in Straßburg deshalb nicht zu. Über den Charakter der öffentlichen Schule entscheiden die Staaten allein. Auch das gehört zu Europas Einheit in Vielfalt.

Das Urteil (nur französisch) findet sich unter:
http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=857724&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&tabl



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