Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 131

Im Bildungswesen korrelieren nach wie vor geschlechtsspezifische Unterschiede mit sozialen Faktoren

(Solveig Müller)

Am 5. Oktober 2009 stellte die Europäische Kommission den von ihnen in Auftrag gegebenen unabhängigen Expertenbericht „Gender und Education (and employment) – lessons from research for policy makers“ vor. Dessen Kernbotschaft lautet: Trotz der Fortschritte in den vergangen Jahren bestehen im Bildungswesen nach wie vor geschlechtsspezifische Unterschiede, die im Zusammenhang mit sozialen Faktoren noch vergrößert werden. Dies zeigt sich in Bezug auf die Fächerwahl, die Leistung und in kultureller Hinsicht.

Der Bericht wurde von NESSE, dem “Network of Experts in Social Sciences of Education and training“, verfasst. Wie der Name schon sagt, ist NESSE ein wissenschaftliches Netzwerk von Fachleuten, die sich mit den sozialen Aspekten der Erziehung sowie der allgemeinen und beruflichen Bildung beschäftigen. So vereinigt der Bericht Schlüsselerkenntnisse aus der internationalen Forschung zu Gender und Bildung und hebt deren politische Bedeutung hervor.

Grundsätzlich wird betont, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Bildungsbereich eng mit sozialen Faktoren wie der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, einer ethischen Gruppe, einer Religion oder Minderheit verbunden sind. Aus diesem Grund sei es um so wichtiger, dass bei politischen Entscheidungen die Korrelation der beiden Bereiche Gender und Soziologie berücksichtigt werde.

Damit bestätigt der Bericht die traurige Realität, die auch an deutschen Schulen vorherrscht: Bildungserfolg hängt sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Acht Prozent aller Kinder eines Jahrgangs verlassen die Schule ohne Abschluss. Unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist die Abbrecherquote dreimal so hoch. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlen elementarste Grundkenntnisse, da sie keine individuelle Förderung erfahren – Kinder mit Migrationshintergrund sind wiederum besonders betroffen. Hier ist neben der Bildungspolitik auch die Sozial- und Familienpolitik gefordert.

Die Untersuchungen von NESSE haben ergeben, dass z.B. die Lese- und Schreibfähigkeit nicht allein vom Geschlecht, sondern auch vom sozialen Milieu abhängt. Jungen aus Arbeiterfamilien aller ethnischen Gruppen und Minderheiten haben in diesem Bereich am meisten Probleme und gehören somit zu denen, die die Schule am häufigsten vorzeitig abbrechen.

Bei der Wahl des Studienfachs zeigt sich, dass sich nach wie vor hauptsächlich Männer für ein Studium in den Naturwissenschaften oder im Bau- und Ingenieurwesen entscheiden. Frauen dominieren hingegen in den Bereichen der Kunst, der Geisteswissenschaften und der Pflege.

Außerdem gebe es erhebliche Anzeichen dafür, dass in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften und Technik an den Hochschulen sowie den angeschlossenen Berufszweigen eine „männliche Kultur“ herrsche, die Frauen und Mädchen davon abhält, in diesen Bereichen tätig zu werden. Die zunehmende Betrachtung der Bildung unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten insbesondere an den Hochschulen verstärke die Geschlechterproblematik. Der extreme Wettbewerb, der eine Männerkultur noch fördere, verhindert, dass Frauen leitende Positionen übernehmen.

Geschlechtsspezifische Identitäten sind allerdings dynamisch und unterliegen einem ständigen Wandel. Deshalb kommt dem Bildungsbereich eine besondere Bedeutung zu. NESSE fordert, dass geschlechtssensible Pädagogik ein wichtiger Bestandteil in Vorschule, schulischer, beruflicher und Hochschulbildung sein muss, um die starren Rollenklischees aufzuweichen. Ein Schulsystem, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter grundlegend ist, fördert eine allgemeine positive Haltung zum Lernen und verringert so auch die Schulabbrecherrate. Stark selektive Leistungsklassen können dabei eher hinderlich sein.

Die Förderung der Gleichstellung im Bildungswesen muss mit der Förderung der Gleichstellung in Kultur und Gesellschaft einhergehen, so das Resümee des Berichtes. Gerechtere wirtschaftliche und soziale Verhältnisse eines Landes erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Gleichberechtigung im Bildungswesen, was sich wiederum positiv auf Wirtschaft und Kultur – und damit auf die Gesellschaft allgemein auswirkt.

Den Bericht, der auch eine Kurzfassung in deutscher Sprache enthält, finden Sie unter:
http://www.nesse.fr/nesse/activities/reports/activities/reports/gender-report-pdf



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