Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel

Europa-Informationen Nr. 133

Wie genau kann man Armut messen? – Das umstrittene Armutsziel in der Europa-2020-Strateg

(OKR'in Katrin Hatzinger)

Am 3. März 2010 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für die Europa 2020 Strategie der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie konkretisiert darin die bereits in ihrem Konsultationspapier vom November 2009 (s. EKD-Europa-Informationen Nr. 132) skizzierten Schwerpunkte: intelligentes Wachstum (Förderung von Wissen, Innovation und Bildung sowie der digitalen Gesellschaft), nachhaltiges Wachstum (ressourceneffizientere Produktion bei gleichzeitiger Steigerung unserer Wettbewerbsfähigkeit) und integratives Wachstum (Erhöhung der Beschäftigungsquote, Qualifizierung und Bekämpfung der Armut).

Die auf dem Weg nach 2020 erzielten Fortschritte werden nach dem Willen der EU-Kommission an fünf EU-Kernzielen gemessen, die die Mitgliedstaaten in nationale Ziele umsetzen sollen:
-  75% der Menschen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren sollen in Arbeit stehen.
-  3% des BIP der EU soll in Forschung und Entwicklung investiert werden.
-  Die „20/20/20“-Klima- und Energieziele müssen verwirklicht werden.
-  Der Anteil der Schulabbrecher muss auf unter 10% zurückgehen; 40% der jungen Menschen sollen eine Hochschulausbildung absolvieren.
-  20 Millionen Menschen weniger als bisher sollen von Armut bedroht sein.

Um diese Ziele erreichen zu können, verknüpft die Kommission die Agenda Europa 2020 mit einer Reihe von Leitinitiativen. Die Umsetzung dieser Initiativen soll eine gemeinsame Priorität sowohl für die EU als auch für die Mitgliedstaaten sein, die Maßnahmen auf allen Ebenen, von EU-weit tätigen Organisationen, aber auch lokalen sowie regionalen Behörden erfordert.

Die Kommission schlägt u.a. konkret vor, die Zahl armutsgefährdeter Personen um 25%, d.h. um 20 Millionen zu reduzieren. Dazu heißt es in dem Papier: „Vor der Krise waren 80 Millionen Menschen in der EU von Armut gefährdet, davon 19 Millionen Kinder. 8% der Arbeitnehmer verdienen so wenig, dass sie unterhalb der Armutsgrenze leben. Besonders betroffen sind Arbeitslose.“

Um das Ziel zu erreichen werden u.a. „Maßnahmen zur Modernisierung und Intensivierung der Beschäftigungs- und Bildungspolitik sowie der sozialen Sicherung durch vermehrte Beteiligung am Arbeitsleben und den Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit sowie die Stärkung der sozialen Verantwortung der Unternehmen“ angestrebt. Die Kommission legt außerdem großen Wert auf den Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen und sonstigen Versorgungseinrichtungen und sieht weiterhin einen Schwerpunkt auf der Umsetzung der aus kirchlicher Sicht nicht unumstrittenen Flexicurity-Grundsätze und der „Befähigung der Menschen, sich mittels der Aneignung neuer Qua-lifikationen an neue Gegebenheiten anzupassen und sich beruflich neu zu orientieren“.

Geplant sind zudem eine Leitinitiative für „neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“ sowie eine Leitinitiative „Europäische Plattform zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“. Ziel dieser letzteren Initiative ist „die Gewährleistung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts. Aufbauend auf dem derzeitigen Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sollen das Bewusstsein um die Grundrechte der Menschen, die unter Armut und Ausgrenzung leiden, geschärft und ihre Anerkennung gefördert werden, damit sie in Würde leben und aktiv an der Gesellschaft teilhaben können.“

Aus kirchlicher Sicht ist es sehr erfreulich, dass sich in dem Vorschlag der Europäischen Kommission, der auf der Grundlage einer Konsultation erstellt worden ist, einige Anregungen aus dem dazu eingereichten gemeinsamen Beitrag von Kirchen und Wohlfahrtverbänden wiederfinden (s. Leitartikel Europa-Informationen Nr. 132), insbesondere die Aufnahme des Ziels der Armutsbekämpfung. Überhaupt ist klar erkennbar, dass die Kommission aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und die soziale Dimension der Strategie stärken will.

Auf dem Frühjahrsgipfel der Europäischen Staats- und Regierungschefs am 25. und 26. März 2010 wurde Einigkeit über die drei Schwerpunktbereiche der Reformstrategie erzielt. Der Europäische Rat einigte sich außerdem darauf, fünf EU-Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Klimaschutz und Energie, Bildung und soziale Eingliederung zu definieren, die in spezifische nationale Ziele umgesetzt werden sollen. Allerdings gelang es nicht in allen Bereichen, quantitative Zielvorgaben festzulegen, so gab es insbesondere von deutscher Seite Widerspruch hinsichtlich der Ziele im Bereich der Bildung und der Armutsbekämpfung.

So lehnt der Bundesrat in seinem Beschluss vom 16. März 2010 quantitative Zielvorgaben (Reduzierung der Anzahl der Schulabbrecher) im Bildungsbereich als eine Überschreitung der Gemeinschaftskompetenz bzw. als einen Eingriff in die Bildungshoheit der Bundesländer ab. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich schließlich darauf, quantitative Zielvorgaben im Bildungsbereich erst auf ihrer Tagung im Juni festzulegen.

An dem Ziel der Armutsbekämpfung wurde von der Bundeskanzlerin bemängelt, dass für die Messung der Armut in all´ ihrer Komplexität geeignete Indikatoren ausgearbeitet werden müssten. Dem Vorschlag der Kommission liegt der relative Armutsrisikobegriff zugrunde, der sich am Einkommen orientiert und damit ein "monetärer" Armutsbegriff ist. Er umfasst damit nicht die Sachleistungen, die die nationalen Sozial- und Bildungssysteme zur Verfügung stellen.

Allerdings ist der Begriff des relativen Armutsrisikos in der EU seit 2001 eine feste Größe und wird auch von der Bundesregierung etwa in ihren Armuts- und Reichtumsberichten verwendet. Das Armutsrisiko wird dabei vorrangig mit dem Indikator der Armutsrisikoquote abgebildet. Sie ist definiert als Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60% des Mittelwertes (Median) aller Personen beträgt. Der Median ist der Einkommenswert, der die Einkommen der Bevölkerung genau in zwei Hälften teilt. Damit ist die mittlere Einkommensposition die Referenzgröße. Mit der Benennung als Armutsrisikoquote sollte deutlich werden, dass dieser Indikator die Möglichkeit einer Armutsgefährdung – insbesondere bei längerem Verbleiben in diesem niedrigen Einkommensbezug – beschreibt. Nach Angaben des DW EKD liegt die Grenze des Armutsrisikos derzeit bei rund 781 Euro netto.

Andere Mitgliedstaaten vertraten die Auffassung, dass dieses Ziel überflüssig sei, da Wachstum automatisch Armut eindämmen würde. Ferner fürchteten einige Länder eine unzulässige Einmischung der Gemeinschaft in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Der Europäische Rat legte den Fokus auf seinem Treffen im März nunmehr auf soziale Eingliederung, die insbesondere durch Armutsbekämpfung zu erreichen sei. Die Entwicklung eines adäquaten Indikators soll bis zur Tagung der Staats- und Regierungschefs im Juni erfolgen.

Darüber hinaus bekräftigte der Europäische Rat jedoch das unilaterale 20-20-20-Ziel für den Klimaschutz (s. nachstehender Artikel). Auch verständigte man sich auf ein Beschäftigungsziel von 75 % und unterstrich, dass auch Jugendliche, ältere Arbeitnehmer, Geringqualifizierte und Migranten in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollten, was aus kirchlicher Sicht positiv zu würdigen ist. Auch im Bereich Forschung und Entwicklung wurde das 3 %- Ziel bekräftigt.

Die Staats- und Regierungschefs orientierten sich also an den Vorschlägen des Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission, schwächten diese jedoch im Detail ab. Im Sinne van Rompuys wird der Europäische Rat mit der Steuerung („governance“) von Europa 2020 betraut. Einmal jährlich werden die Staats- und Regierungschefs eine umfassende Bewertung zum Stand der Umsetzung der Reformstrategie vorlegen. Ferner wird der Europäische Rat künftig regelmäßig spezifische Prioritäten der Wirtschaftsstrategie debattieren. Für Oktober 2010 liegt der Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung sowie für Anfang 2011 auf der Energiepolitik. Ferner kündigten die Staats- und Regierungschefs verstärkte Koordination innerhalb der Eurozone an. Details der künftigen Eurozonen-Governance werden jedoch erst für Juni erwartet, wenn die Kommission einen entsprechenden Vorschlag veröffentlichen will.

Aus kirchlich-diakonischer Sicht ist die Aufnahme des Ziels der Armutsbekämpfung in den Vorschlag der Kommission zur EU-2020-Strategie positiv zu bewerten und sollte sich in einer messbaren Ziel-vorgabe wiederfinden. Jenseits der Frage nach den Auswirkungen derartiger Zielvorgaben hat die Würdigung der Armutsbekämpfung als Kernziel der EU-Strategie hohe politische Symbolkraft, wird hier doch deutlich, dass die EU ihre Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt stärker wahrnehmen will als bisher. Die Kritik der Bundesregierung an dem angeblich unpassenden Indikator zur Festlegung des Ziels der Armutsbekämpfung zeugt vom fehlenden politischen Willen, hier ein unmissverständliches Zeichen zu setzen. Der vorgeschlagene Indikator zur Messung des Armutsgefährdungsrisikos ist jedenfalls bewährt und glaubwürdig. Zwar ist es richtig, dass die Kompetenz für den Bereich der Sozialpolitik bei den Mitgliedstaaten liegt. Deutschland sollte jedoch das Ziel der Armutsbekämpfung auf gesamteuropäischer Ebene nicht aufgrund von Kompetenzdebatten und möglicher Bedenken angesichts steigender Aufmerksamkeit für von Armut gefährdeter Menschen in Deutschland relativieren. Die EU-2020-Strategie bietet die Gelegenheit durch ehrgeizige, quantifizierbare Ziele, Armut nachhaltig und effektiv abzubauen. Diese Chance sollte genutzt werden. Entsprechend äußerten sich auch der amtierende Ratsvorsitzende, Präses Schneider, und DW-Präsident Kottnik (s. nachfolgender Artikel).

Bis zur Tagung des Europäischen Rats im Juni, auf der die Strategie verabschiedet werden soll, gilt es nun, die Arbeit zu den EU-Kernzielen abzuschließen, sich auf nationale Ziele im Dialog zwischen Mitgliedstaaten und Kommission zu verständigen sowie die integrierten Leitlinien der Strategie zu verabschieden.

Die erwähnten Dokumente finden Sie unter:
http://ec.europa.eu/eu2020/index_de.htm 



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