EuGH vor wegweisenden Entscheidungen im Asylrecht?

(Christopher Hörster)

Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 21. Januar 2011 Belgien und Griechenland wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) im Zusammenhang mit Asylverfahren verurteilt hatte (siehe auch EKD-Europa-Informationen Nr. 136), sind nun auch am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrere Verfahren zum europäischen Asylrecht anhängig.

 

Der EGMR hatte in seinem Urteil Anfang des Jahres (M.S.S. vs. Belgium and Greece) festgestellt, dass die extrem schlechten Haft- und Lebensbedingungen der Asylsuchenden in Griechenland gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung verstießen (Art. 3 EMRK). Ferner sei das Asylverfahren in Griechenland derart mangelhaft, dass eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) vorläge. Belgien war ebenfalls wegen Verstoßes gegen die EMRK verurteilt worden, weil es trotz klarer Hinweise auf die Lage in Griechenland einen Asylsuchenden nach Griechenland überstellt hatte.

 

Die Überstellung eines Asylsuchenden an einen anderen Mitgliedstaat in der EU erfolgt, so auch im Fall der dem EGMR vorlag, auf Basis der Dublin-II-Verordnung. Der Mitgliedstaat, den der Asylsuchende zuerst betritt, ist nach dieser Verordnung für die Prüfung des Asylgesuches zuständig. Stellt beispielsweise ein Asylsuchender einen Asylantrag in Deutschland und geht aus seinen Dokumenten hervor, dass er durch Griechenland in die EU eingereist ist, so wird der Asylsuchende ohne jegliche Prüfung des Asylantrags nach Griechenland überstellt. Die Dublin-II-Verordnung sieht allerdings eine Möglichkeit für Mitgliedstaaten vor, einen eingereichten Asylantrag selbst zu prüfen, auch wenn eigentlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig wäre (sog. Selbsteintrittsrecht). Es handelt sich hierbei grundsätzlich um eine freiwillige Möglichkeit, die Ausübung dieses Selbsteintrittsrechts liegt im Ermessen des betreffenden Mitgliedstaates.

 

Die am EuGH anhängigen Verfahren drehen sich im Kern nun alle um die gleiche Frage: Wandelt sich die Möglichkeit des Selbsteintritts in eine Pflicht zum Selbsteintritt, wenn dem Asylsuchenden bei Überstellung in den primär zuständigen Mitgliedstaat Verletzungen seiner Grundrechte drohen? Diese Frage wurde von Gerichten vier verschiedener Mitgliedstaaten (Österreich, Deutschland, Großbritannien und Irland) an den EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.          

Ein Urteil des EuGH steht noch aus. Allerdings fasst einer der acht Generalanwälte am EuGH, bevor ein Urteil ergeht, in den meisten Fällen Schlussanträge ab, die eine konkrete Empfehlung enthalten, wie der Fall zu entscheiden ist. Die Schlussanträge sind nicht bindend, oft wird der Empfehlung aber aufgrund der hervorgehobenen Stellung der Generalanwälte gefolgt. Die Generalanwältin Trstenjak hat am 22. September 2011 in dem aus Großbritannien initiierten Verfahren ihre Schlussanträge vorgestellt (Rechtssache C-411/10).

 

Nach Trstenjak ergibt sich aus der EU-Grund­rechtecharta die Pflicht, den Selbsteintritt auszuüben und somit das Asylgesuch trotz anderweitiger Zuständigkeit selbst zu prüfen, wenn der Asylsuchende in dem primär zuständigen Staat einer „ernsthaften Gefahr einer Verletzung seiner in der Grundrechtscharta verbürgten Grundrechte ausgesetzt wäre“. Asylsuchende dürften dann, sollte im zuständigen Mitgliedstaat eine ernsthafte Gefahr einer Grundrechtsverletzung drohen, nicht mehr dorthin überstellt werden. Der Aufenthaltsstaat müsste das Asylgesuch selbst prüfen.

 

Darüber hinaus löst, so Trstenjak, bereits die vertretbare Behauptung, bei der Überstellung drohe eine Grundrechtsverletzung, ein Recht auf gerichtliche Überprüfung der drohenden Grundrechtsverletzung aus. Interessanterweise geht die Generalanwältin auch davon aus, dass die Grundrechtecharta im vorliegenden Fall uneingeschränkt Wirkung entfaltet, obwohl Großbritannien ein opt-out bezüglich der Charta zusteht.  

 

Die Schlussfolgerungen Trstenjaks sind zu begrüßen. Eine Überstellung an einen Staat, der Grundrechte missachtet, ist mit dem europäischen Selbstverständnis einer Wertegemeinschaft nicht vereinbar. Dass der EuGH der Generalanwältin wenigstens in den zentralen Punkten folgt, wird als wahrscheinlich angesehen. Ein offener Widerspruch zum renommierten Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg würde den EuGH in seiner neuen Rolle als Hüter der EU-Grundrechtecharta wenig glaubhaft erscheinen lassen. Allerdings kann die Judikative im Fall der Dublin-II-Verordnung nur den Auswirkungen einer verfehlten Asylpolitik entgegenwirken. Kernproblem ist nicht die Überstellung, sondern der Umstand, dass in Mitgliedstaaten der EU Grundrechte missachtet werden. Die Problematik der Dublin-II-Verordnung, das Fehlen eines solidarischen Asylsystems und die damit verbundene Überforderung der Peripherie-Staaten, müssten von den politischen Entscheidungsträgern korrigiert werden. 

 

Die Schlussanträge Trstenjaks finden Sie unter:

http://curia.europa.eu/jurisp



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