Bundesverfassungsgericht kippt 5 %- Hürde bei den Wahlen zum Europaparlament

(Christopher Hörster)

Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein Urteil vom 9. November 2011 die Fünf-Prozent-Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Nach Ansicht der Karlsruher Richter verstößt die entsprechende Vorschrift im Europawahlgesetz (EuWG) gegen die Wahlrechtsgleichheit. Die Wahl zum Europäischen Parlament aus dem Jahr 2009 behält aber weiterhin ihre Gültigkeit, nachträgliche Neuwahlen sind nicht notwendig. Die Entscheidung revidiert die bisher geltende Rechtsprechung des Gerichts, die die Sperrklausel im Europawahlrecht 1979 für verfassungskonform erklärt hatte.

 

Das Europarecht gibt den Mitgliedstaaten bei der Wahl des Europäischen Parlaments lediglich einen Rahmen vor, den die Mitgliedstaten durch nationale Regelungen zur genauen Durchführung der Wahl füllen. Bei der „Füllung des Rahmens“, also der detaillierten Ausgestaltung der Wahl zum Europaparlament, ist der Bundesgesetzgeber dann ganz normal an das Grundgesetz gebunden, was die Kontrollmöglichkeit des Bundesverfassungsgerichts eröffnet.

 

Nach den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit müsse, so das Bundesverfassungsgericht, jede Stimme den gleichen Zählwert („one man one vote“) sowie den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes (sogenannter „Erfolgswert“) haben. Durch eine 5 %-Hürde sei aber das Prinzip des gleichen Erfolgswertes verletzt, weil durch die Regelungen Stimmen für Parteien, die an der Hürde scheitern, gar keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes, also keinen „Erfolgswert“, hätten. Zudem beeinträchtige die Sperrklausel die Chancengleichheit politischer Parteien, da sie kleiner Parteien benachteilige. Die Regelung der 5 %-Hürde bedürfe daher einer besonderen Rechtfertigung, die im Fall der Wahlen zum Europaparlament aber nicht gegeben sei.

 

Als Rechtfertigung war im Verfahren insbesondere die Wahrung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments vorgetragen worden. Die Sperrklausel diene dem Ziel, die Anzahl der politischen Parteien im Europäischen Parlament zu begrenzen und so die parlamentarische Willensbildung nicht übermäßig zu erschweren. Nur so sei gewährleistet, dass das Parlament hinreichend funktionsfähig bleibe und seinem demokratischen Gestaltungsauftrag nachkommen könne.

 

Dieses Argument hielten die Richter jedoch nicht für ausreichend, den „schwerwiegenden Eingriff“ in die Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen. Ohne die Sperrklausel wären im Europäischen Parlament aktuell 169 statt 162 Parteien vertreten. Das dadurch die Funktionsfähigkeit des Parlaments erheblich beeinträchtigt werde, sie nicht hinreichend sicher. Dagegen spräche vor allem der Umstand, dass den Fraktionen im Europäischen Parlament die Integration der großen Bandbreite verschiedener politischer Strömungen über Jahre hinweg, auch nach verschiedenen EU-Erweiter­ungen, immer gelungen sei.

 

Die Entscheidung widerspricht, nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, auch nicht der Verfassungsmäßigkeit der 5 %-Hürde bei der Wahl des Deutschen Bundestages. Das Europäische Parlament wähle keine Unionsregierung, die auf eine fortlaufende parlamentarische Unterstützung angewiesen wäre. Auch sei die Gesetzgebung der EU, anders als nach dem Grundgesetz, nicht dahingehend ausgestaltet, dass sie auf bestimmte Mehrheitsverhältnisse im Parlament angewiesen sei. Insofern sei eine Zersplitterung des Europäischen Parlamentes durch mehrere Parteien für die politische Funktionsfähigkeit der EU nicht gleich schwerwiegend, wie dies für die deutsche Gesetzgebung der Fall sei. Ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit sei daher nicht von Nöten und verfassungswidrig.

 

Eine Wiederholung der Europawahl des Jahre 2009 sah das Gericht allerdings nicht als notwendig an. Eine Neuwahl in Deutschland hätte nicht abschätzbare Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlamentes. Da der Fehler bei der deutschen Wahl nicht „unerträglich“ sei, sei dem Bestandschutz des Europäischen Parlamentes hier der Vorrang einzuräumen.

 

Die Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des EuWG erging knapp mit 5:3 Stimmen. Die Richter Di Fabio und Mellinghoff gaben darüber hinaus eine gemeinsame Stellungname ab, die erklärt, warum Sie die Entscheidung der übrigen Richter für verfehlt halten (sogenanntes „Sondervotum“). Nach Ansicht der beiden Richter hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlgesetzes einen größeren Spielraum, insbesondere um etwaige Auswirkungen auf die Funktionsweise des Parlamentes zu beurteilen. Darüber hinaus müsse berücksichtigt werden, dass Deutschland gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten insgesamt Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlamentes trage.

 

Der Bundesgesetzgeber muss das EuWG nun bis zur nächsten Europawahl dem Urteil entsprechend anpassen.

 

Das Urteil im Wortlaut finden Sie unter:

http://www.bundesverfassungsgericht.de



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