Zur Lage der Union: Rede des Präsidenten der EU-Kommission José Manuel Durão Barroso

(Christoph Schnabel)

Am 28. September 2011 hat José Manuel Durão Barroso vor dem Europäischen Parlament in Straßburg seine diesjährige Rede zur Lage der Union gehalten. Der Ursprung dieser besonderen Art und Form der Rede liegt im Mutterland der Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika. Es handelt sich um die „State of the Union“ Ansprache, die Rede zur Lage der Nation, als richtungsweisender Wegpfeiler in der Regierungsarbeit des Präsidenten. Mehr noch als lediglich eine Kursbestimmung des Präsidenten ist diese Ansprache als eine paradigmatische Ausrichtung zu verstehen.

 

So definierte Präsident James Monroe die nach ihm benannte „Monroe Doktrin“ in der „State of the Union“- Ansprache von 1823, Franklin D. Roosevelt 1941 die „vier Freiheiten“ und Ronald Reagan leitete die „ Reagan Doktrin“ als Außenpolitik seiner Amtszeit mit der „State of the Union“- Rede am 6. Februar 1985 ein. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rede des Präsidenten der Europäischen Kommission zu verstehen. Auch wenn bei der Dynamik und Geschwindigkeit von Ereignissen und Krisenmeldungen der letzten Monate die Rede am 28. September 2011 keine abschließende Zäsur darstellt, wurde die zentrale Frage, die uns in der Zukunft beschäftigen wird, klar aufgeworfen: welche Europäische Union wollen wir? Zwei Richtungen stehen hierbei im Raum und wurden von dem Kommissions-Präsidenten skizziert: der Intergouvernementalismus als die enge Kooperation von Regierungen zur Lösung von Problemen und der Supranationalismus, d.h. die Verlagerung der Problemlösungskompetenz an eine über dem Nationalstaat stehende Institution.

 

Die grundlegende Frage, die sich bei beiden Richtungen stellt, ist, wer welches Problem lösen soll und kann. Daraus folgt unweigerlich die Frage, wie gesichert wird, dass die Entscheidungsträger sich für ihre Entscheidungen auch verantwortlich zeigen. Es handelt sich demzufolge um eine Fragestellung, in der zwei konkurrierende Weltansichten aufeinander stoßen und somit eine paradigmatische Richtung entschieden wird. Präsident Barroso verdeutlichte dabei in seiner Rede, dass „wir heute an einem historischen Scheideweg stehen: wenn wir uns nicht für mehr Integration entscheiden, droht der Zerfall“, er ließ somit keinen Zweifel daran, dass er für einen Supranationalismus einstehen wird.

 

Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion müssten eine wahre Wirtschaftsunion bilden, um somit den Ansprüchen der Gegenwart gerecht zu werden. Dabei machte er deutlich, dass „es eine Illusion war, zu glauben, dass wir eine gemeinsame Währung und einen Binnenmarkt haben können mit nationalem Herangehen an die Wirtschafts- und Haushaltspolitik“. Bereits 2010 hatte Barroso, in seiner ersten Rede zur Lage der Union und der ersten Rede eines Präsidenten der Kommission zur Lage der Union überhaupt, darauf verwiesen, dass „noch nie zuvor unsere gegenseitigen Abhängigkeiten so klar zutage traten und noch nie zuvor unsere Solidarität auf eine so harte Probe gestellt wurde.“

 

Die Konsequenz aus der aktuellen Währungs- und Finanzkrise besteht für Barroso somit in einer gestärkten supranationalen Kooperation. Dabei warb Barroso um Vertrauen: „Mit der Hilfe unserer Institutionen - und nicht gegen sie - werden wir es schaffen“. Er verwies auf die in der Krise gewachsen Erkenntnis, dass einzelne Staaten alleine zu klein sind, um die großen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern (z B. Schuldenkrise, Finanzkrise, Energiewende). Zwar war am 28. September 2011 keine neue Doktrin zu verzeichnen, jedoch wurde ein weiterer Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel eingeleitet. Programmatisch hierfür war das Fazit, das Barroso den 736 Parlamentariern mit auf den Weg gab: „Die Kommission ist die Wirtschaftsregierung der Union“.

 

Die Parlamentarier fassten dies mehrheitlich positiv auf und waren von der Stichhaltigkeit und dem Gestaltungswillen Barrosos überzeugt. Herbert Dorfmann (EVP) bewertete die Rede als ein bedeutendes Zeichen für ein zukünftiges Europa: „Mit einer starken und in der anschließenden Debatte von vielen Parlamentariern gelobten Rede meldete sich Barroso sozusagen auf der EU-Bühne zurück.“ Auch Kritiker des Präsidenten wie z.B. der Abgeordnete Martin Schulz (S&D) bescheinigten Barroso „ein ehrgeiziges und engagiertes Arbeitsprogramm“. Diese Einschätzung teilte auch der Präsident des Europäischen Parlamentes, Jerzy Buzek. „Die Rede von Präsident Barroso zur Lage der Union entspricht einer überzeugenden Diagnose der Krankheiten, an denen Europa zurzeit leidet, und stellt auch die richtige Behandlung in Aussicht. Die meisten MdEP begrüßen die Bereitschaft der Europäischen Kommission, die Initiative zu ergreifen und eine eindeutige legislative Führung unter Beweis zu stellen“.

 

Die Rede in voller Länge finden Sie unter:

http://europa.eu/rapid/



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