Der Bevollmächtigte des Rates der EKD

Europa-Newsletter Nr. 126

Kommission veröffentlicht Türkei-Bericht 2008

Patrick Roger Schnabel

Am 5. November 2008 stellte die EU-Kommission ihre Berichte über Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, Mazedonien und der Türkei vor. Letzterer ist aus kirchlicher Sicht von besonderem Interesse, da die Lage der religiösen Minderheiten in der Türkei immer noch weit vom EU-Standard entfernt ist.

Von 33 Verhandlungskapiteln insgesamt wurden bisher acht eröffnet, aber nur eines abgeschlossen (Wissenschaft und Forschung). Für 13 Kapitel wurden opening benchmarks festgelegt. Weil die Türkei ihren Verpflichtungen aus dem Zusatzprotokoll zum Abkommen von Ankara nicht nachgekommen ist, wurden im Dezember 2006 die Verhandlungen zu acht Kapiteln vorläufig ganz ausgesetzt.

Die Kommission ist immer noch die größte Befürworterin eines Türkei-Beitritts unter den EU-Institutionen. Dies schlägt sich immer wieder in recht positiven Tönen in den Berichten wieder, auch wenn diese die Problempunkte regelmäßig ansprechen. So heißt es in der Einleitung der EU-Kommission zum Bericht 2008: „Die Türkei erfüllt nach wie vor in ausreichendem Maß die politischen Kriterien von Kopenhagen". Etwas differenzierter sagt der Türkei-Bericht selbst, er untersuche „Fortschritte, die die Türkei gemacht habe, um die politischen Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen". Wenn man dann diese Untersuchungen im Detail betrachtet, muss man allerdings feststellen, dass eher von einer Stagnation als von Fortschritten gesprochen werden muss. In grundlegenden Bereichen fehlt jede Entwicklung: So ist das Gesetz über regionale Berufungsgerichte nicht umgesetzt. Hinsichtlich unparteiischer Justiz bestehen große Zweifel - die nicht zuletzt durch das Verbotsverfahren gegen die regierende AKP und seinen knappen Ausgang Nahrung bekommen haben. Ebenfalls keine Fortschritte gab es hinsichtlich der Ratifikation einiger ausstehender Menschenrechtsübereinkommen. Die Zahl der Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte steigt weiter an - und zwar auf hohem Niveau (3705 im Berichtszeitraum). Einige Urteile wurden bisher nicht umgesetzt.

Zu den kritischen Punkten gehört insbesondere der Umgang mit Kriegsdienstverweigerern. Noch immer stehen Gesetze aus, die die wiederholte Strafverfolgung und Verurteilung verhindern. Während Gewissensgründe nicht anerkannt werden, ist Homosexualität ein Verweigerungsgrund: der Nachweis allerdings oft mit menschenunwürdigen Bedingungen von ärztlichen Untersuchungen bis zu „Nachweisen" homosexueller Aktivität verbunden.

In zwei Bereichen sind Gesetze angenommen worden, die die Grundrechtssituation verbessern sollen:

Erstens wurde der umstrittene Art. 301 Türkisches Strafgesetzbuch (Beleidigung des Türkentums) verändert, um so eine bessere Gewährleistung der Meinungsfreiheit zu erreichen (vgl. Europa-Informationen Nr. 116 u. 123). Strafverfolgung braucht nun die explizite Genehmigung durch das Justizministerium. Da der Wortlaut jedoch nur geringfügig modifiziert wurde, führt die neue Regelung dazu, dass Klagen nun noch abhängiger von der politischen Bewertung (durch den jeweiligen Minister) sind. Der EU-Bericht fordert daher eine weitere genaue Überwachung der Rechtsanwendung — und weitere Reformen im Strafrecht, um Gesetze, Rechtsanwendung und Rechtsprechung in Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu bringen.

Zweitens wurde endlich das Stiftungsgesetz reformiert, so dass tatsächlich eine gewisse Verbesserung für die — nur über ihre Stiftungen rechtlich handlungsfähigen — Minderheitenreligionen geschaffen wurde (vgl. Europa-Informationen Nr. 115 u. 122). Das Gesetz bringt jedoch keine Lösung aller Eigentumsprobleme: Bei finanziellen Hilfen aus dem Ausland, einschließlich von direkten EU-Unterstützungen, gibt es immer noch große administrative Hürden. Einige Bereiche, z.B. die Entschädigung von konfiszierten und an Dritte verkauften Liegenschaften der Stiftungen, oder gegen ihren Willen aufgelöste oder verschmolzene Stiftungen, wurden gar nicht behandelt. In anderen Bereichen, z.B. die Entschädigung von Stiftungen, die unter anderem Namen weitergeführt oder direkt dem Staat unterstellt wurden, ist die Anwendung der erst im September 2008 veröffentlichen Ausführungsverordnung abzuwarten. Bisherige Ausführungsverordnungen waren jedenfalls oftmals mit so großen Problemen behaftet, dass sie effektiv gar nichts bewirkt haben.

In anderen die Religionsgesellschaften betreffenden Gebieten gab es weiterhin keinerlei Fortschritte: Eine Rechtspersönlichkeit können sie als solche weiterhin nicht erlangen, Minderheiten konnten ihre Gebetsstätten oft nicht registrieren lassen (darunter zwei evangelische Kirchen; ein Cem-Haus wurde allerdings erstmals anerkannt), die Ausbildung von Geistlichen ist behindert, das orthodoxe Priesterseminar in Halki bleibt geschlossen. Der Ökumenische Patriarch darf weiterhin seinen geistlichen Titel nicht öffentlich führen. Hier hat allerdings der Premier Erdogan öffentlich eine abweichende Auffassung vertreten und dies als nicht staatlich zu regelnde Frage bezeichnet.

Damit ist ein Grundproblem angezeigt: Die gemäßigt islamische Regierung ist durchaus auch für die Probleme der religiösen Minderheiten offen. Sie will das durch strikte Staatskontrolle gekennzeichnete laizistische System der Türkei durch Elemente individueller und korporativer Religionsfreiheit und der Kooperation mit Religionsgemeinschaften weiterentwickeln. Dagegen sträuben sich die nationalistisch-kemalistischen Kräfte, die auch das Verbotsverfahren gegen die AKP angestrengt hatten. In ihrem pro-europäischen Kurs bekommt die Regierung Gegenwind von allen anderen Parteien im Parlament — aus jeweils verschiedenen Gründen. Insofern ist der verlangsamte Reformkurs erklärbar, was aber den Minderheiten — religiösen, ethnischen, politischen — nicht hilft.

Während in der EU Einigkeit über das Ziel herrscht, die Türkei auf ihrem Kurs hin zu „europäischen Werten" zu stabilisieren, besteht Uneinigkeit über den besten Weg dorthin: Soll man Probleme eher herunterspielen, oder — wie einige Mitgliedstaaten es bevorzugen würden - durch klare Töne den Druck erhöhen? Das Europäische Parlament scheint der zweiten Möglichkeit zuzuneigen. Jedenfalls wird wohl auch die Initiativstellungnahme der Abgeordneten zum Kommissionsbericht eher kritischer ausfallen als die vorangehende: fortschreitende Reformverschleppung, zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und das Fehlen eines Programms für politische Reformen werden angeprangert.

Alle relevanten Dokumente zu den Beitrittsverhandlungen finden Sie unter:
http://ec.europa.eu/enlargement/candidate-countries/turkey/key_documents_en.htm

Den Vorschlag zu einer Stellungnahme des EP hier:
http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/re/748/748541/748541en.pdf



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