Das rechte Wort zur rechten Zeit

Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8

1. Welchen Auftrag hat die Kirche?

  1. Die Kirche Jesu Christi gibt oder wählt sich ihren Auftrag nicht selbst, sondern sie empfängt ihn von ihrem Herrn [2]. Daraus ergibt sich auch, was die Mitte dieses Auftrags ist: die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus.
  2. Das Evangelium bezeugt und begründet die Freiheit im Glauben, die in der Verantwortung vor Gott und den Menschen gelebt wird. Es hat kulturelle, soziale und politische Kraft.
  3. In dem Mensch gewordenen, am Kreuz gestorbenen und von den Toten auferstandenen Christus Jesus ist Gott in die Welt gekommen, um den Menschen mit sich zu versöhnen und ihn ­ mitten in der Welt ­ zu Umkehr, Nachfolge und Gemeinschaft zu rufen. Allein aus Gnaden und allein im Glauben an Jesus Christus ist der Mensch gerechtfertigt ­ darin findet er Halt, Trost und Hoffnung im Leben und im Sterben. Dadurch ist er befreit vom Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstinszenierung durch eigene Leistung.
  4. Diese individuell im Vertrauen auf Gottes Heilstat ergriffene Freiheit der Person gewinnt öffentliche Gestalt durch die Übernahme persönlicher Verantwortung. Deshalb hat Martin Luther das Zeugnis der Heiligen Schrift prägnant in der Formulierung zusammengefasst, dass ein Christenmensch Herr und Knecht, Herrin und Magd zugleich ist: Die gott-geschenkte Freiheit wirkt sich aus in einem Handeln, das dem Nächsten und der Schöpfung zugutekommt.
  5. Der christliche Glaube beinhaltet also die grundsätzliche Bejahung der Welt als Welt Gottes und als Welt vor Gott. Um Gottes und der Menschen willen nehmen Christenmenschen Verantwortung für die Welt wahr: Im Licht ihrer Gottesbeziehung befragen und gestalten sie die Wirklichkeit, in der sie leben, deren Teil sie sind und der sie zugleich gegenüberstehen. Sie erkennen in der Welt ­ trotz all ihrer Zerrissenheit und trotz der Realität der Sünde und des Bösen ­ Gottes gute Schöpfung, die dem Menschen anvertraut ist und für die der Mensch als Gottes Ebenbild besondere Verantwortung trägt.
  6. "Die Legitimation der Kirche, sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen zu äußern, beruht nach ihrem Selbstverständnis auf dem umfassenden Verkündigungs- und Sendungsauftrag ihres Herrn." [3] Die Kirche ist daher nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, die ihr aufgetragene Botschaft so umfassend und allgemein zugänglich, also öffentlich, zu Gehör zu bringen, dass deren Bedeutung für alle Menschen und Völker [4] und für alle Bereiche unseres Lebens vernehmbar wird. [5]
  7. Kirchliche Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen erfüllen nur dann ihren Sinn und ihre Aufgabe, wenn sie das christliche Verständnis vom Menschen und von der Welt in Grundzügen aus evangelischer Perspektive entfalten und zu den jeweiligen aktuellen Herausforderungen in Beziehung setzen. Auf diese Weise dienen sie auch dazu, den Inhalt des christlichen Glaubens in die Gesellschaft hinein zu vermitteln.
  8. Aus der weltumspannenden Herrschaft Christi ist kein Herrschaftsanspruch der Christenheit oder der Kirchen abzuleiten. Im Gegenteil: Dies wäre ein pervertierendes Missverständnis. Weil Christus seine Herrschaft als Dienst Gottes am Menschen gelebt hat und lebt, darum verwirklicht sich die Nachfolge von Christenmenschen ­ und damit ihr Leben in der Welt und für die Welt ­ als Dienst.
  9. Dieser Dienst achtet die Freiheit des Gewissens und die Freiheit Andersdenkender [6] und freut sich an der Rechtfertigung allein aus Gnaden, die des Menschen Heil nicht in dessen eigener Leistung und Befindlichkeit, sondern in Gottes Liebe begründet weiß. Es ist ein Dienst, der den Glauben nicht zu Zwecken eigener Macht missbraucht, sondern die frohe Botschaft ­ ohne äußere, menschliche Machtmittel, allein durch die Überzeugungskraft des Wortes [7] ausrichtet.
  10. Rechthaberei, Bevormundung und Fanatismus suchen sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen und sind deshalb mit der von Christus gebotenen Wahrhaftigkeit, Demut und gegenseitigen Achtung nicht zu vereinbaren. Der Dienst, zu dem Christen und Christinnen in der Welt in ihrem Denken, Reden und Tun berufen sind, ist deshalb auch ein Dienst, der die zur Mündigkeit berufene Welt in ihrer Weltlichkeit respektiert und zugleich den Glauben als eine Kraft zur Bildung und Zivilisierung erweist.
  11. Der Dienst, zu dem die Christenheit in dieser Welt beauftragt ist, ist qualifiziert und begrenzt durch die Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem. [8] Mithin ist es ein Dienst, der im Sinne der recht verstandenen Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre Luthers zwischen politischem Mandat und Einfluss einerseits und geistlichem Auftrag andererseits unterscheidet. Auf je eigene Weise sowie mit je eigenen Zuständigkeiten und Mitteln haben Staat und Kirche Verantwortung wahrzunehmen für die Humanität des Gemeinwesens. Die Kirche Jesu Christi hat die Aufgabe, Verkündigung des Evangeliums, ethische Orientierung und entsprechende Praxis miteinander zu verbinden - in Wort und Tat. Über diesen besonderen Auftrag hinaus darf die Kirche sich aber nicht "staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden". [9] Das ist eine wesentliche Grenze des kirchlichen Auftrags. Indem die evangelische Kirche diese Grenze respektiert, befolgt sie zugleich das neutestamentliche Gebot, nicht in ein fremdes Amt einzugreifen (1 Petr 4,15).
  12. Die evangelische Kirche bejaht sowohl die Unterscheidung von Politik und Religion, Staat und Kirche, als auch gesellschaftliche Pluralität und Pluralismus als Merkmale der Freiheit und als Voraussetzungen demokratischen Zusammenlebens. Nach evangelischer Auffassung ist jeder Mensch dazu aufgerufen, Meinungen und Sachverhalte soweit wie möglich gewissenhaft zu prüfen und selbst zu beurteilen. [10]
  13. In einem demokratischen Staat ist der Diskurs und das Zusammenwirken von Staat und Kirche sinnvoll und grundsätzlich für beide Seiten konstruktiv ­ bei Anerkennung und Beachtung des unterschiedlichen Auftrags. [11] Deshalb "kann und soll eine positive Beziehung von Staat und Kirche in der Demokratie auch konkret wahrgenommen und gestaltet werden." [12]
  14. Voraussetzung hierfür ist die beiderseitige Bereitschaft, differierende Standpunkte miteinander ins Gespräch zu bringen, notfalls auch im Konflikt und unter Benennung von "Bruch"-Stellen.
  15. Vorausgesetzt ist auch die Bereitschaft, den Diskurs über gesellschaftliche und politische Probleme und Lösungsoptionen nicht (nur) als Interessenabgleich zwischen den Größen "Staat" und "Kirche" zu führen, sondern als Teil einer gesellschaftlich breit angelegten Kommunikation, in der die jeweiligen Kompetenzen und Erfahrungen aus politischen, ökonomischen, zivilgesellschaftlichen und religiös-kulturellen Bereichen Berücksichtigung finden.
  16. Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen sind Ausdruck der Bereitschaft und des Angebotes zum Diskurs. Sie sind nicht isoliert, sondern im Zusammenhang christlicher Existenz insgesamt zu verstehen, in der Beten und Arbeiten, Spiritualität und soziales Engagement, Gegenwartsanalysen und Glaubenseinsichten, Liebe und Vernunft aufeinander bezogen sind.
  17. Die evangelische Kirche erfüllt mit Äußerungen zu Fragen des öffentlichen Lebens einen Teil ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwesen. Sie nimmt dabei teil am öffentlichen demokratischen Prozess, wie ihn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, aber auch das Recht der Europäischen Union strukturieren. Mit ihren Verlautbarungen steht die Kirche im Dialog mit staatlichen und supranationalen Organen, mit gesellschaftlichen Gruppen und anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie Weltanschauungsgemeinschaften. Ihr Recht, sich öffentlich zu allen Fragen zu äußern, ist durch die Religionsfreiheit, aber auch durch die Meinungsfreiheit gewährleistet, wie sie vom Verfassungsrecht und in internationalen Verträgen garantiert sind.
  18. Verträge zwischen Staat und Kirche gewährleisten diesen Öffentlichkeitsauftrag und erkennen ihn zusätzlich an. Dessen Bedeutung wird auch daran erkennbar, dass er durch das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und durch ihre Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts verstärkt gewährleistet ist.

Das rechte Wort zur rechten Zeit

Nächstes Kapitel