Pressekonferenz zur Woche für das Leben 1998

"Worauf du dich verlassen kannst: Miteinander leben in Ehe und Familie", Statement Bischof Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der DBK

In diesem Jahr begehen wir zum achten Mal die Woche für das Leben; seit 1994 wird sie in ökumenischer Trägerschaft gemeinsam von der Deutschen Bischofskonferenz und vom Rat der Evangelischen Kirche getragen. Damit ist dieses Jahr auch ein kleines Jubiläum zu vermerken: das der fünfjährigen ökumenischen Trägerschaft der Woche für das Leben. (Oder um es in der Sprache des diesjährigen Themas zu formulieren: wir feiern "hölzerne Hochzeit". Und ich denke, "Holz" drückt schon ein erhebliches Maß an Beständigkeit aus.)

1. Das Thema der Woche für das Leben 1998
Die Woche für das Leben steht in diesem Jahr unter dem Motto "Worauf du dich verlassen kannst: Miteinander leben in Ehe und Familie". Sie hebt die Verläßlichkeit als Lebensgrundlage hervor und bezieht sie auf das Leben in Ehe und Familie.

a) Das Thema benennt eine Lebensgrundlage: Mit großer innerer und äußerer Schutzbedürftigkeit beginnen Menschen das Leben in dieser Welt. Für ihre Entwicklung sind sie darauf angewiesen, daß für ihre körperlichen Bedürfnisse gesorgt wird, und sie sich darauf verlassen können, angenommen und geliebt zu sein. Aber nicht nur als Kind, sondern auch als Erwachsene leben Menschen davon, daß andere ihnen bezeugen: "Es ist gut, daß es dich gibt". Und: "Du kannst dich auf mich verlassen". Ehe und Familie sind die Lebensbereiche, die in besonderer Weise mit diesen Worten verbunden sind. Das Motto "Worauf du dich verlassen kannst: Miteinander leben in Ehe und Familie" bringt somit eine Lebensvoraussetzung und eine tiefe Sehnsucht der Menschen zum Ausdruck.

b) Das Thema beschreibt eine Realität: Menschen können sich auf Ehe und Familie verlassen, und sie tun es auch. Mann und Frau, Eltern und Kinder und die Geschwister können aufeinander vertrauen. Sie erfahren dies im großen und im kleinen: In den Absprachen und Unterstützungen im Alltag, in schwierigen Momenten der Lebensgeschichte und in einer Grundhaltung, die die gesamte Beziehung und ihre Entwicklung durchzieht. Ich denke: die große Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft hat diese Erfahrungen machen können. Sie erklären, warum Männer und Frauen nach wie vor in Umfragen mit deutlicher Mehrheit Familie als ihren wichtigsten Lebensbereich benennen.

c) Das Thema bringt eine Hoffnung zum Ausdruck: Wir dürfen und wollen die Augen nicht davor verschließen, daß die Sehnsucht nach Verläßlichkeit in Ehe und Familie enttäuscht werden kann. Menschen machen auch die Erfahrung, sich auf ihren Partner, ihre Eltern oder ihre Kinder nicht verlassen zu können. Sie werden verlassen. Insofern steht hinter dem Thema eine Hoffnung; eine Hoffnung, die enttäuschbar und dennoch unaufgebbar ist, wenn Leben gelingen soll.
Enttäuschungen betreffen meist nicht Ehe und Familie insgesamt, Verläßlichkeit ist nicht völlig in Frage gestellt. So machen Alleinerziehende oftmals die Erfahrung, daß zwar ihre Partnerschaft gescheitert ist, sie aber auf die Solidarität ihrer Herkunftsfamilie setzen können; und ihre Kinder erleben in der zuverlässigen und liebevollen Sorge der Mutter oder des Vaters, daß sie sich auf Familie unter schwierigen Bedingungen verlassen können.
Gerade in solch widrigen Situationen ist es notwendig, daß Menschen, die Erfahrungen des Verlassenwerdens in Ehe und Familie gemacht haben, andere Menschen finden, bei denen sie Annahme und Verläßlichkeit erleben können. Christen und Pfarrgemeinden kommt dabei eine wichtige entlastende und stützende Aufgabe zu.

2. Die religiöse Dimension von Ehe und Familie
Das Maß an Sehnsucht, das sich auf Liebe, Ehe und Elternschaft richtet, übersteigt die Möglichkeiten jeder noch so intensiven personalen Beziehung und verweist auf eine umfassende Erfüllung jenseits menschlichen Vermögens. Aus christlicher Überzeugung verweist das Vertrauen, sich für sein ganzes Leben auf das Ja-Wort des Partners bzw. der Partnerin zu verlassen, und der Mut, für ein Kind unbedingt da zu sein, auf einen tieferen Grund. Auf diesen stützt sich das zwar vernünftige und begründete, aber letztlich unverfügbare Vertrauen aufeinander.

Wir Christen sehen in Gott das Ziel unserer Sehnsucht und den Grund unserer Lebensmöglichkeit. Im Vertrauen darauf, daß ihre begrenzte Liebe und Verläßlichkeit von der größeren Liebe und Treue Gottes getragen ist, können die Ehepartner und können Eltern und Kinder es wagen, einander trotz ihrer Fehler und Schwächen vorbehaltlos anzunehmen. Indem die katholische Kirche die Ehe als ein Sakrament bezeichnet, bringt sie zum Ausdruck, daß die Ehe teil hat an der Liebe Gottes. Sie ist Abbild seiner unverbrüchlichen Liebe und Treue und lebt aus ihr. Unter dieser Verheißung kann gegenseitige Verläßlichkeit gewagt und im alltäglichen Leben in Ehe und Familie konkretisiert werden.

Dabei dürfen sich die Menschen in Ehe und Familie auf die Unterstützung der Kirchen und der christlichen Gemeinden verlassen. Diese wollen und sollen Orte sein, wo Ehepaare und Familie Halt und Unterstützung finden. Im Materialheft zur diesjährigen Woche für das Leben auf S. 35 ff sind die vielfältigen kirchlichen Hilfen für Familien ausführlich dargestellt.

3. Die Gesellschaft verläßt sich auf Ehe und Familie - auch Ehe und Familie müssen sich auf die Gesellschaft verlassen können
Die Gesellschaft verläßt sich vielfach wie selbstverständlich auf Ehe und Familie. Ehepartner stehen sich in guten und in schlechten Tagen gegenseitig bei: indem sie Einkommen und Besitz teilen, durch emotionalen Rückhalt sowie durch Sorge und Pflege füreinander in Krankheit und Gebrechlichkeit. Diese partnerschaftliche Verläßlichkeit entlastet die größere Gemeinschaft. Ebenso vertraut die Gesellschaft darauf, daß die Eltern in Verantwortung für ihre Kinder sorgen, ihnen Wissen und Werte vermitteln und sie zu verantwortungsbewußten und leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen. Sie geht davon aus, daß die Kinder ihrerseits für ihre älterwerdenden und unterstützungsbedürftigen Eltern Sorge tragen. Die Gesellschaft darf und muß sich darauf verlassen, denn sie kann die Leistungen der Familie nicht ersetzen.

Weil Familien Leistungen erbringen, die für den Fortbestand und die Entwicklung der Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind, müssen sie sich ihrerseits darauf verlassen können, daß sie die notwendige Unterstützung und die erforderliche Anerkennung ihrer Leistung erfahren. Im gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" haben die katholische und evangelische Kirche die notwendigen staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben zur Förderung der Familie deutlich benannt. (vgl. Materialheft zur Woche für das Leben S. 68ff) Ich will nur einige in Erinnerung rufen:

  • Familien müssen sich darauf verlassen können, daß sie durch ihre Entscheidung für Kinder nicht in Armut geraten. Erforderlich ist eine entsprechende Ausgestaltung von Kindergeld und Erziehungsgeld.
  • Eltern, die wegen ihrer Kinder nicht erwerbstätig sind, müssen sicher sein können, daß ihnen ihr Beitrag zum Generationenvertrag im Alter nicht negativ angerechnet wird. Eine stärkere Anerkennung von Erziehungsleistungen in der Rentenversicherung ist ein Gebot der Gerechtigkeit.
  • Eltern, die wegen ihrer Kinder ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, müssen beim Wiedereinstieg in den Beruf Unterstützung erhalten. Darüber hinaus brauchen wir verbesserte gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu gehören eine flexible Arbeitszeitgestaltung ebenso wie ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuung.

Schutz und Förderung von Ehe und Familie erfordern eine Prioritätensetzung in Politik und Gesellschaft. Es geht dabei um die grundsätzliche Frage, ob unsere Gesellschaft sich auf einen Entwicklungspfad einlassen will, der einseitig Effizienz, Leistungswillen, Durchsetzungsfähigkeit und materielle Orientierung in den Vordergrund stellt oder ob sie auch der Sensibilität, der Rücksichtnahme, der Solidarität und dem Schwachen Raum gibt. In einer Gesellschaft, in der Familien einen guten Platz haben, ist auch Raum für viele andere Formen unverzweckter menschlicher Beziehungen: für Nachbarschaft und Freundschaft, für soziales Engagement und sorgsamen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Eine Gesellschaft, die Familien fördert, fördert nicht nur die Familien, sondern die Humanität der Gesellschaft selbst.

Bonn, 24. April 1998