Das rechte Wort zur rechten Zeit

Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8

4. Zu wem spricht die Kirche?

  1. Die Äußerungen der Kirche richten sich nach "innen" und nach "außen", wobei beide Bereiche sowohl aufgrund des kirchlichen Selbstverständnisses als auch in soziologischer Hinsicht nicht trennscharf voneinander zu separieren sind, sondern ineinander übergehen und Wechselwirkungen aufweisen.
  2. Nach "innen" wendet sich die Kirche an diejenigen, die sich um Wort und Sakrament versammeln und das Evangelium verkündigen, an die Mitarbeitenden der Kirche und an alle evangelischen Christen. Ihnen allen gibt die Kirche aus evangelischer Sicht Orientierung für wichtige Fragen der Zeit.
  3. Von Mitarbeitenden der Kirche, jedenfalls in theologischen, diakonischen und pädagogischen Diensten, wird erwartet, dass sie sich über Grundpositionen und wesentliche Aussagen ihrer Kirche informieren und in ihrem Wirkungsfeld darauf aufmerksam machen.
  4. Für die einzelnen Christinnen und Christen sind diese Orientierungen ein Angebot, das aufzeigt, welche ethischen Gesichtspunkte aus evangelischer Sicht im beschriebenen Themenfeld zu bedenken und welche Handlungsoptionen verantwortbar sind.
  5. Äußerungen nach "außen" umfassen unterschiedliche Aspekte: Zum einen nimmt die Kirche Stellung zu gesellschaftlich-politischen Fragen und Problemen. Sie erfüllt den Auftrag ihres Herrn, sich für eine friedfertige und gerechte Welt einzusetzen. [22] Wenn die Kirche in diesem Sinn spricht, dann nimmt sie eine anwaltschaftliche Haltung ein, etwa für mehr Frieden und Gerechtigkeit. Ein Beispiel für solche Anwaltschaft ist das kirchliche Eintreten für den Schutz der Sonntagsruhe, die zugleich dem Schutz von Ehe und Familie, dem Schutz des Ehrenamts sowie dem Schutz der Lebensqualität der Menschen insgesamt dient. Die evangelische Kirche redet hier nicht primär im eigenen Interesse. Wenn sie sich so an der gesellschaftlichen Diskussion beteiligt, hat sie deutlich zu machen, dass sie im Interesse des Gemeinwesens spricht ­ um auch die, die sich ihr nicht stark verbunden fühlen, als Bündnispartner für ein menschlicheres Miteinander zu gewinnen.
  6. Die evangelische Kirche muss sich auch dann zu Wort melden, wenn über Dinge diskutiert und entschieden wird, die sie und ihren Auftrag unmittelbar betreffen (z. B. Wertschätzung und Organisation des Religionsunterrichts, Finanzierung von Kindergärten). Sie darf und muss um der Wahrnehmung und Erfüllung ihres Auftrages willen für eigene Interessen und Belange streiten.
  7. Kirchliche Äußerungen nach "innen" und nach "außen" können in dem Maß verstanden und aufgenommen werden, in dem sie den Wissens- und Verstehenshorizont sowie das Kommunikationsverhalten derer, die angesprochen werden sollen, berücksichtigen. Sie müssen grundsätzlich klar und verständlich sein. Deshalb ist es unverzichtbar, dass bei der Vorbereitung kirchlicher Äußerungen die Fragen nach der Verstehbarkeit sowie der erhofften Evidenz und Akzeptanz in die Überlegungen über Sprache, Inhalt und Vermittlung einbezogen werden (siehe dazu unten Abschnitt 6).
  8. Zu bedenken ist insbesondere, dass auch Grundkenntnisse über Kernelemente des christlichen Glaubens und des kirchlichen Auftrags nicht stillschweigend vorausgesetzt, sondern in ihrer fundierenden Bedeutung erklärt werden sollten. In weiten Teilen der Öffentlichkeit, auch bei nicht wenigen Kirchenmitgliedern, sind diese Kenntnisse nicht oder nur latent vorhanden und bedürfen der Neuvermittlung oder Erinnerung. Die Sorge für eine angemessene Rezeption kirchlicher Äußerungen ist deshalb immer auch eine Herausforderung an kirchliche Bildungsarbeit.
  9. Die Rezeption kirchlicher Äußerungen nach "innen" und nach "außen" geschieht unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Pluralismus. Eine kirchliche Äußerung ist also nur eine Stimme im vielstimmigen Chor der öffentlichen Diskussion, jedoch eine Stimme mit eigenem Gehalt, eigenem Rang und eigenem Gewicht. Hinzu kommt: Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen werden, wie die Erfahrung lehrt, oft nur in bestimmten Öffentlichkeiten zur Kenntnis genommen, die ihrerseits nur ein Segment gesellschaftlicher Pluralität repräsentieren.
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