Statement auf der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung der Orientierungshilfe

Prof. Dr. Ute Gerhard, Universität Frankfurt a.M. / Bremen, Stellv. Vorsitzende der Ad-hoc-Kommission des Rates der EKD

Mit dem Hinweis auf zwei Kernbotschaften des neuen EKD-Textes zu Familie möchte ich das Gesagte ergänzen:

  1. Das neue Leitbild einer partnerschaftlichen, an Gerechtigkeit orientierten Familie, das eine Vielfalt unterschiedlicher Formen des privaten Lebens zulässt, ist nicht lediglich als Anpassung an den sozialen und kulturellen Wandel oder an gesellschaftlich problematische Entwicklungen zu verstehen. Im Gegenteil, maßgeblich sind die Werte und Normen, die unsere Verfassung und eine christliche Gemeinschaft tragen: Verlässlichkeit, Solidarität, Fürsorglichkeit sowie Fairness und Gerechtigkeit gerade auch in den privaten Beziehungen. Dass dies in der Vergangenheit nicht selbstverständlich war, wissen wir aus der historischen Familienforschung, die nicht nur die Idealisierung der Familie in der Vergangenheit und den Mythos von Großfamilie infrage gestellt hat, sondern auch zeigen konnte, dass die Vielfalt der Familienformen in Europa der Normalfall war. Dabei haben das sog. christlich-abendländische Eheverständnis und die Lehren von der Ehe als Institution bis in die jüngste Vergangenheit dazu gedient, patriarchale Vorrechte des Ehemannes und die "Gewalt" des Vaters über die Kinder zu stützen. Mit ihrem Kurswechsel öffnet sich die evangelische Kirche nicht nur der gelebten Wirklichkeit der Familien, sie befreit sich und andere auch von Vorurteilen und Abgrenzungen gegenüber denen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise in der Kirche nicht verstanden oder ausgeschlossen fühlen.

    Den meisten Menschen heute ist gar nicht bewusst, welche weitreichenden Veränderungen im Familienrecht durch höchstrichterliche Rechtsprechung und Gesetzgebung in den vergangenen 20 Jahren erfolgt sind, oft genug beschleunigt durch Vorgaben des europäischen und internationalen Rechts (vgl. die UN-Kinderrechtskonvention): Z.B. die Gleichstellung der nicht in einer Ehe geborenen Kinder, der nicht verheirateten Väter im Kindschafts- und Sorgerecht, die weitgehende Gleichstellung der registrierten gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Immer war der Grund die Gleichberechtigung der Partner und insbesondere der Kinder und davon ausgehend die Anerkennung und der Schutz all jener solidarischen und verlässlichen familiären Beziehungen, die im Alltag und im Notfall füreinander Sorge und Verantwortung tragen und für jede/n Einzelne/n von unschätzbarer Bedeutung sind.

    Schutz- und förderungswürdig ist die Familie in ihren verschiedenen Formen daher aus vielen Gründen: Sie ist Quelle und Übungsstätte gesellschaftlicher Solidarität. Sie bietet einen Lebensraum für das Aufwachsen, für die Erziehung und Bildung der Kinder. Sie schafft alltäglich die Voraussetzung für die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des/der Einzelnen. Durch die Bereitschaft, Angehörige, Enkel und Groß-Eltern zu unterstützen bilden Familien über die Generationen hinweg soziale Netzwerke, die wesentlich sind für die allgemeine Wohlfahrt und für privates Glück. Darum aber sieht sich Familie heute kaum zu erfüllenden Erwartungen und Anforderungen gegenübergestellt, wenn es darum geht, zwischen Autonomie und Angewiesenheit ihrer Mitglieder eine Balance zu finden.

    Weil aber aufgrund tief greifender demographischer und ökonomischer Veränderungen, neuer Anforderungen in Bildung und Beruf gerade in den wirtschaftlich erfolgreichen Industrieländern die familiale Alltagsarbeit bzw. die Möglichkeit, für andere zu sorgen, zu einer knappen Ressource geworden ist – die Rede ist vom sog. Care-Defizit - , ist die Stütze und Förderung der fürsorglichen und verantwortlichen Beziehungen im "Familienleben heute" gleichsam der "rote Faden" der Orientierungshilfe. Der evangelischen Kirche in Gemeinde und Diakonie mit ihrem spezifischen Zugang zu Familien, ihren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, nicht zuletzt dem großen Kreis der ehrenamtlich Tätigen stellt sich hiermit ein breites Aufgabenfeld. Die Kirche hat damit die Chance, Leitbildfunktionen zu übernehmen und ihr soziales Handeln an einem "Ethos fürsorglicher Praxis" auszurichten.

  2. Mit dieser Akzentsetzung und Orientierung aber ist die evangelische Kirche – und dies ist mein Interesse als Sozialwissenschaftlerin – ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Akteur, um für einen Perspektivenwechsel auch in der Politik einzutreten. Mit der Erkenntnis, dass die private Alltagsarbeit in Familie und Partnerschaften sowie die Erziehung und Pflege der Kinder und Alten, überhaupt jede Form sozialer Hilfeleistung und gesellschaftlicher Solidarität – das ist die Sorge für andere – die eigentliche und unverzichtbare Grundlage gesellschaftlichen Reichtums und Zusammenhalts bilden, sind die Prioritäten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik grundlegend neu zu bestimmen. Familienpolitik erweist sich als tragende Säule der Sozialpolitik. Nicht zuletzt aufgrund des in Deutschland so offensichtlichen Defizits an Pflegekräften, ihrer zu geringen Bezahlung und schlechten sozialen Absicherung sowie der unwürdigen und ungesicherten Rechtslagen von Arbeitsmigrantinnen in diesem Bereich ist Deutschland im europäischen Vergleich noch weit entfernt von einem caring state. Mit den von der Europäischen Sozialplattform 2011 verabschiedeten Empfehlungen an die europäischen Regierungen, die von Care als Menschenrecht sprechen, wird noch einmal die Bedeutung ‚fürsorglicher Praxis‘ für eine neue Form sozialer Politik betont, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Integration von Benachteiligten und derer, die auf Hilfe angewiesen sind, zu gewährleisten.

    Auch außerhalb der Kirche kann die evangelische Kirche somit als Bündnispartner für eine Politik der Umkehrung politischer Prioritäten wahrgenommen werden – einer Kirche, die sich den Veränderungen und Problemen nicht nur stellt, sondern den Herausforderungen zuwendet; die den neuen Lebensformen kompetent, lebensnah und fürsorglich begegnet und sie in ihrem kirchlichen Handeln gleichermaßen berücksichtigt. Dann können der soziale Wandel und die neuen Formen familialer Solidarität auch als Bereicherung erfahren werden.