Zum Gedenken an D. Theophil Wurm anlässlich seines 50. Todestages in der Markuskirche zu Stuttgart
Manfred Kock
Es gilt das gesprochene Wort
Wir feiern diesen Gottesdienst im Gedenken an D. Theophil Wurm, dessen fünfzigster Todestag am 28. Januar wiederkehrt. Theophil Wurm war 1929 im Alter von 61 Jahren zum Nachfolger des ersten württembergischen Kirchenpräsidenten Johannes Merz gewählt worden und hatte am 08. Juli 1933 auf Antrag des ständigen Ausschusses des Landeskirchentags den Titel Landesbischof angenommen. Sein kirchliches Einigungswerk mündete 1945 in die Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland, in deren erstem vorläufigem Rat ihm der Vorsitz übertragen wurde.
Theophil Wurm war eine der herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn wir dieses bedeutenden Mannes der Kirche gedenken, so kann dies mit der Nüchternheit geschehen, die uns der Glaube ermöglicht. Große Leistungen werden nur dann angemessen gewürdigt, wenn Schatten und Irrtümer nicht unterschlagen werden.
Theophil Wurm wurde am 07. Dezember 1868 in Basel geboren, wo sein Vater theologischer Lehrer am Missionshaus war. Er besuchte er später die Seminare in Maulbronn und Blaubeuren und studierte in Tübingen Theologie. Nach achtjährigem Vikariat trat er 1899 als Pfarrer in den Dienst der Inneren Mission und wurde 1901 Geschäftsführer der Ev. Gesellschaft in Stuttgart. Im Jahr 1900 heiratete er Marie Bruckmann aus Blaubeuren. Dem Ehepaar Wurm wurden zwei Söhne und drei Töchter geboren, von denen eine in früher Kindheit verstarb.
1913 kehrte Wurm aus der Diakonie in den Dienst der verfassten Kirche zurück und wurde 2. Stadtpfarrer in Ravensburg. Nach der Novemberrevolution und dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 ließ er sich als Abgeordneter der deutsch-nationalen Bürgerpartei in die verfassunggebende Landesversammlung bzw. den württembergischen Landtag wählen. Er legte sein Mandat allerdings bereits 1920 nieder, nachdem er, wie er 1938 aus Anlass seines 70. Geburtstages sagte „den ganzen Jammer des parlamentarischen Systems am eigenen Leib mitgemacht“ hatte, und wurde Dekan in Reutlingen. 1927 ernannte man ihn zum Prälaten in Heilbronn. Knapp drei Jahre später folgte seine Wahl zum Kirchenpräsidenten.
Theophil Wurm stammte aus einer alteingesessenen, im schwäbischen Pietismus verwurzelten Familie, die eine ganze Reihe von Geistlichen und Gelehrten hervorgebracht hatte. Für seine Generation war die Kirche nach eigenen Worten noch „kein Problem; sie war etwas Gegebenes“. In der Monarchie sah man eine gottgegebene Obrigkeit, in der patriarchalischen Familie die Keimzelle aller gesellschaftlichen Ordnung, in der evangelischen Volkskirche ein geistiges Bindeglied zwischen beiden. Dass die Deutschen ein christliches Volk waren, galt als selbstverständlich. Wie die meisten evangelischen Pfarrer seiner Zeit sah er es als seine selbstverständliche Aufgabe an, christlich-nationale Tugenden gegen die lauernden Kräfte des Aufruhrs, des Unglaubens und des sittlichen Verfalls zu verteidigen. Das konservative Gesellschaftsideal verband sich bei Wurm mit einer pietistischen Tradition, die nicht nur die Notwendigkeit eines persönlichen Zugangs zum Glauben und eines persönlichen Erlebnisses von göttlicher Führung betonte, sondern auch ein Wort- und Tatchristentum anstrebte, das durch Volksmission und praktische Nächstenliebe in vielfältiger Weise Menschen dem Reich Gottes näher zu bringen suchte.
Theophil Wurms Jugendzeit stand unter dem Eindruck von Bismarcks Reichsgründung von 1870/71. Wie viele seiner evangelischen Zeitgenossen verehrte Wurm den „Eisernen Kanzler“ und sah in der neu erschaffenen nationalen Einheit die gottgegebene Gelegenheit für einen volksmissionarischen Aufbruch großen Stils mit dem Ziel, einen endgültigen Bruch mit dem Säkularismus herbei zu führen. Die Hoffnungen seiner Jugendzeit auf ein „heiliges protestantisches Reich deutscher Nation“ bildeten eine wichtige Grundlage für seine spätere zunächst positive Deutung der „nationalen Erhebung“ des Jahres 1933. Andererseits äußerte er freimütige Kritik sowohl an Bismarcks politischen Missgriffen etwa im Kulturkampf, als auch später an der Hitlerdiktatur. Er war auch darin Kind seiner Zeit, dass er ganz selbstverständlich meinte, man müsse die Fehler der Regierenden wohl ernst nehmen, ohne jedoch die grundsätzliche Legitimität der staatlichen Autorität in Frage zu stellen.
Wurms Kirchenverständnis war wie das vieler seiner protestantischen Zeitgenossen eingebettet in ein Gewebe vaterländischer, antisäkularer und antimodernistischer Einstellungen. Noch im August 1933 ermunterte Wurm die Vertreter des kirchlich-theologischen Ausschusses in Württemberg zur Mitarbeit in der Glaubensbewegung Deutsche Christen mit den Worten: „Das Evangelium soll eine Kraft der nationalen Entfaltung werden“, so belegt es ein Protokoll vom 29.08.1933. Die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche wurde am 11. Juli 1933 auch von Wurm unterschrieben. Er war einer der ganz wenigen Kirchenführer, die sich im September 1933 für die Wahl des Deutsch-Christlichen-Pfarrers Ludwig Müller zum Reichsbischof einsetzten. Bei den Kirchenwahlen jenes Jahres erhielten die Deutschen Christen auch die Mehrheit im württembergischen Landeskirchentag. Als deren eigentliche Zielsetzung, die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen in der Kirche, klar erkennbar wurde, versuchte Wurm - wenn auch vergebens - Hitler in zwei Gesprächen am 25. Januar und 13. März 1934 dazu zu überreden, Ludwig Müller als Reichsbischof zu entlassen.
Eine allgemeine Bekenntnisfront bildete sich jedoch bei der Zusammenkunft lutherischer Bischöfe in Ulm am 22. April 1934 und auf der ersten Bekenntnissynode von Barmen am 30. und 31. Mai 1934, auf der Wurm zum Mitglied des Reichsbruderrats, des Leitungsgremiums der Bekennenden Kirche, gewählt wurde. Im September versuchte der Reichsbischof dann, die württembergische Landeskirche endgültig in die Reichskirche einzugliedern. Diesem Gleichschaltungsversuch verweigerte sich Wurm und wurde dafür wie andere nicht gefügige Mitglieder des evangelischen Oberkirchenrats beurlaubt und unter Hausarrest gestellt. Ein kommissarischer Landesbischof wurde eingesetzt, doch der größte Teil der württembergischen Pfarrerschaft stand hinter Wurm. Tausende von Gemeindemitgliedern versammelten sich sonntags vor seiner Wohnung in Stuttgart, um gegen den Hausarrest ihres Bischofs zu protestieren. Das waren wohl die größten Demonstrationen dieser Art in der Geschichte des Dritten Reiches. Die Gleichschaltungspolitik musste schließlich aufgegeben werden, die eingesetzten provisorischen Kirchenregierungen in Württemberg und Bayern wurden am 25. Oktober 1934 zurückgezogen und am 30. Oktober die Bischöfe Wurm und Meiser noch einmal von Hitler empfangen. Die bayerische und die württembergische Landeskirche blieben damit strukturell relativ „intakt“.
Prägend für Wurms geistliche Einstellung wirkte sich sein Engagement für die „soziale Frage“ Anfang der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts aus. Nach anfänglicher Begeisterung für Naumanns evangelisch-soziale Initiativen orientierte er sich mehr und mehr am patriarchalischen und nationalkirchlichen Sozialkonservatismus Adolf Stoeckers. Theophil Wurm teilte den weitverbreiteten, von Stoecker leidenschaftlich vertretenen Antisemitismus und berief sich in seinen Predigten und Erklärungen vor und nach 1933 immer wieder auf die von Adolf Stoecker stereotyp behauptete Unvereinbarkeit des jüdischen mit dem christlich-deutschen Volkscharakter. Noch im März 1938 beteuerte er in einer Unterredung mit dem Reichsstatthalter Wilhelm Murr die judenfeindliche Einstellung des evangelischen Kirchenvolks. Die Ausschreitungen der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 weckten zwar wegen des Bruchs von Recht und Gesetz seine Entrüstung. Aber noch am 6. Dezember, dem Tag vor seinem 70. Geburtstag, schrieb er an Reichsjustizminister Fritz Gürtner: "Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für zutreffend gehalten [...]". Aber er fügt auch hinzu: "Weil wir unserem Volk ersparen möchten, dass es später dieselben Demütigungen und Leiden über sich ergehen lassen muss, denen jetzt andere preisgegeben sind, erheben wir im Blick auf unser Volk fürbittend, warnend, mahnend unsere Hände, auch wenn wir wissen, dass man uns [...] mit ähnlichem Vorgehen bedroht, wie es gegen die Juden angewandt worden ist." Dieser Satz liest sich im Nachhinein wie ein prophetischer.
Den Anschluss Österreichs am 13. März 1938 bejubelte er noch als "Befreiungstat des Führers". Doch mit Kriegsbeginn verschärfte sich der Blick Wurms gegenüber dem nationalsozialistischen Unrecht. Es häuften sich Meldungen über die Misshandlung von sogenannten „Nichtariern“ und die Vernichtung von so genanntem "lebensunwertem Leben". Wurms Hoffnung auf eine mit der „nationalen Erhebung“ von 1933 verbundene Rechristianisierung Deutschlands zerbrach vollends. In einem Vortrag am 8. Oktober 1940 erklärt er: "Es hat keinen Sinn, sich zu verbergen, dass wir nicht bloß in einer totalen Säkularisierung, sondern in einer totalen Entchristianisierung des deutschen Volkes begriffen sind." Nach einer lebensbedrohenden Krankheit im Frühjahr 1941 kam Wurm zu dem festen Entschluss, sich nunmehr vorbehaltlos einer künftigen Erneuerung Deutschlands auf der Grundlage des Evangeliums zu widmen. Eine Voraussetzung dafür sah er in der Einigung der evangelischen Kirche.
Wurms Verteidigung kirchlicher Rechte gegenüber dem Staat verband sich stets mit seinen seelsorgerlichen Bemühungen, das innerkirchliche Leben Deutschlands zu vertiefen und christliche Traditionen wiederzubeleben. Die historische Vielfalt des deutschen Protestantismus erschien ihm dabei keineswegs als problematisch, vielmehr sah er darin einen Vorzug. So bezeichnete er die verschiedenen Landeskirchen gern als „kirchliche Dialekte“ des Volkes. „Wie eine Verwischung der Mundarten eine Verarmung der deutschen Sprache bedeuten würde, so würde auch die Einebnung des Bekenntnis- und Stammescharakters der einzelnen Kirchen einen Verlust für das Ganze mit sich bringen“ Einzelheiten über das kirchliche Einigungswerk Theophil Wurms wird uns Herr Professor Thierfelder nachher in der Gedenkveranstaltung im Hospitalhof nahe bringen.
Vor gut sieben Jahren, im Oktober 1995, ist hier in der Markuskirche des 50. Jahrestags der Stuttgarter Schulderklärung gedacht worden. Theophil Wurm war einer ihrer Inspiratoren. Er hat gemahnt und zur Buße gerufen. Dabei hat er sich selbst aufrichtig in die Anklage eingeschlossen, "nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt" zu haben. In seiner Rede auf der Konferenz der Evangelischen Kirchenführer in Treysa am 28. August 1945 steht zu lesen: "... auch wir haben lange Zeit gebraucht, um den Betrug ganz zu durchschauen und wir haben unsere Zeugenpflicht sehr zaghaft angefasst". Und gegen Ende dieser Rede: "Als wir vor ein paar Wochen über die altkirchliche Perikope Luc. 18,9-14 zu predigen hatten, war es mir wieder ganz groß, dass Jesus die Gedanken des dem Weltgeschehen schweigend zusehenden Gottes über den Gerechten und Ungerechten offenbart und dass er uns als Gottes Urteil mitteilt: Der Ungerechte, der seine Schuld erkennt, steht meinem Herzen näher als der Gerechte, der sich seiner Vorzüge bewusst ist. Weil es so ist, darum ist diese Gerichtsstunde für Volk und Kirche auch eine Gnadenstunde." Und er schloss mit der Frage, die immer am Beginn eines neuen Anfangs gestellt werden muss: "Wird diese Stunde verstanden und genützt werden?"