Ethischer Pluralismus? - Votum im Nationalen Ethikrat

Wolfgang Huber

Wenn denn schon die Frage nach dem Pluralismus in der Ethik nicht mehr einfach mit dem Hinweis auf die zehn Gebote beantwortet werden kann, will ich wenigstens meine Überlegungen zum Thema in zehn Punkte gliedern. In der Kürze der Zeit kann ich diese Punkte nur knapp skizzieren.

1. So klar der Anlass auch ist, der zur Behandlung dieses Themas geführt hat, so schwer ist es doch präzise zu erfassen. Der Nationale Ethikrat hat nun zwei Mal die Erfahrung gemacht, dass er sich in wichtigen Fragen der bioethischen Debatte nicht auf ein Votum verständigen konnte, sondern der Öffentlichkeit divergierende Voten übergeben hat. Bei der Debatte über den Import embryonaler Stammzellen standen vier ethische Antworten zur Diskussion, die dann in zwei Voten zusammengefasst wurden. Die Stellungnahme zu den ethischen Problemen vorgeburtlicher Diagnostik umfasst drei Voten, auch wenn in der öffentlichen Rezeption immer nur vereinfachend von einem Mehrheits- und einem Minderheitsvotum die Rede ist. Zeigt sich in diesem Auseinandertreten von Stellungnahmen ein ethischer Pluralismus? Spiegelt sich in diesen Arbeitsergebnissen des Ethikrats ein ethischer Pluralismus in der Gesellschaft? Und selbst wenn das so wäre, sollte dann von ethischem – oder, wie Wolfgang van den Daele das tut – von moralischem Pluralismus die Rede sein? Wenn uns in den bisherigen Bemühungen eine Einigung nicht gelungen ist, braucht dies ja nicht zu bedeuten, dass sie unmöglich ist. Oder besteht unter den Bedingungen der Gegenwart das Wesen der Ethik etwa in ihrer Pluralität?

2. Der jüdische Rabbi Naftali Zvi Jehuda Berlin plädierte in einem monumentalen Torakommentar aus dem Jahr 1865 für epistemische Demut. Er tat das mit folgenden Worten: „Wie es für den klugen Erforscher der Natur unmöglich ist, sich jemals der Kenntnis aller Geheimnisse der Natur zu rühmen ... und wie es keinerlei Gewähr dafür gibt, dass das, was er in seinen Forschungen erreicht hat, nicht von seinen Kollegen ... , die sich entscheiden, dieselben Dinge auf andere Weise zu studieren, entwertet wird, so kann auch derjenige, der die Tora erforscht, nicht behaupten, er habe jeden einzelnen Punkt, der Aufmerksamkeit beansprucht, bedacht, und selbst bei dem, was er erklärt, ist niemals bewiesen, dass er die Wahrheit der Tora ermittelt hat.“ Die Pluralität wissenschaftlicher Erkenntnis ist eine Herausforderung zu besserer Erkenntnis. Wenn epistemische Demut schon im Feld der „harten Wissenschaften“ angezeigt ist, dann erst recht in einem vergleichsweise weichen Feld wie demjenigen der Ethik.

3. Wenn vom Pluralismus in der Ethik gesprochen wird, ist zugleich mehr gemeint. Man sieht in ihm eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Pluralismus, der als Signum der Moderne gilt. Der weltanschaulich-religiöse Pluralismus gilt manchen sogar als das entscheidende Moment dieses gesellschaftlichen Pluralismus. Entscheidend ist also nicht die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als solche, auch nicht die Bildung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, entscheidend ist das Auseinandertreten unterschiedlicher weltanschaulicher, religiöser und handlungsleitender Orientierungen. Freilich wird der Begriff des Pluralismus dabei sowohl deskriptiv als auch präskriptiv verwendet; der Übergang zwischen beschreibend-evaluativen und normativen Verwendungsweisen des Begriffs ist oft gleitend. Deskriptiv ist mit Pluralismus die Beziehung vieler Elemente zueinander und zu ihrem Bezugsfeld gemeint, die nicht durch ein übergeordnetes Einheitsprinzip bestimmt und begrenzt ist. Normativ ist damit eine sich selbst zum Programm gewordene Pluralität gemeint (Chr. Schwöbel). Ethischer Pluralismus konzentriert sich dann ganz und gar auf die Frage, inwiefern das Zusammenleben der Verschiedenen möglich ist, ohne dass sie für alle verbindlichen handlungsleitenden Prinzipien unterworfen werden müssen.

4. Von einem radikalen Pluralismus spricht man gegenwärtig insofern, als die Identität der einzelnen nicht mehr durch ihre Gruppenzugehörigkeit geprägt – oder jedenfalls nicht vollständig definiert – ist. Insofern lässt sich der gesellschaftliche Pluralismus nicht mehr mit einer Pluralität von Gruppen gleichsetzen; und der Pluralismus der Ethiken ist auch nicht mehr dadurch bestimmt, dass man unterschiedliche Ethiktypen unterscheidet, die jeweils verschiedenen religiösen oder weltanschaulichen Gruppen oder auch unterschiedlichen philosophischen Schulrichtungen zugeordnet sind. Radikaler Pluralismus zeigt sich vielmehr darin, dass die Subjekte der zu Grunde liegenden Pluralität die einzelnen sind, die ihre handlungsleitenden Orientierungen selbst erwerben und über sie selbst Rechenschaft ablegen müssen. Die Frage heißt, in welchen Grenzen ein solcher radikaler Pluralismus lebbar ist.

5. Wenn man den faktischen Pluralismus in der Ethik – egal ob in radikaler oder in gemäßigter Fassung – normativ wendet, kann das auf zweierlei Weisen geschehen. Entweder zieht man daraus relativistische Folgerungen und nimmt die beobachtete Pluralität ethischer Positionen zum Anlass, die Möglichkeit verbindlicher ethischer Urteile überhaupt zu bestreiten. Oder man zieht die Folgerung, dass ein begründetes ethisches Urteil sich nicht darauf beschränken darf, ethische Folgerungen aus den eigenen handlungsleitenden Prämissen zu ziehen. Vielmehr müsse man auch die handlungsleitenden Prämissen anderer in die eigene Urteilsbildung mit einbeziehen. Man kann einen solchen Typus ethischer Argumentation als eine Ethik des reflexiven Prinzipiengebrauchs bezeichnen. Der Übergang von einer reinen Gewissensethik zur Verantwortungsethik lässt sich auch als Übergang von einer reinen Prinzipienethik zu einer Ethik des reflexiven Prinzipiengebrauchs verstehen.

6. In der Tradition der Ethik ist immer mit der Möglichkeit einer Pluralität ethischer Antworten gerechnet worden. Auf die Frage nach dem Guten gibt es nicht nur eine Antwort. Das gute Leben kann vielmehr unterschiedliche Formen annehmen. Standesethiken lassen sich nur daraus erklären, dass für unterschiedliche Stände auch unterschiedliche Formen des guten Lebens möglich sind. Die Frage nach dem Guten zielt darauf, was für mich jetzt hier die richtige Handlungsweise ist. Das kann gerade eine Handlungsweise sein, die von einem anderen oder zu anderer Zeit oder an anderem Ort gerade nicht zu erwarten ist. Die Frage nach dem Gerechten dagegen erlaubt im Grundsatz nur eine Antwort. Denn es muss eine Antwort sein, die für alle Gültigkeit beanspruchen kann. Man hat den Unterschied zwischen diesen beiden Fragehinsichten der Ethik auch in der Unterscheidung zwischen moralischen Fragen, die sich auf das Gerechte beziehen, und ethischen Fragen, die auf das Gute gerichtet sind, zu fassen versucht (J. Habermas). Diese terminologische Unterscheidung ist nicht zwingend. Soweit man so unterscheidet, spitzt sich die Frage dahingehend zu, ob es einen moralischen Pluralismus, einen Pluralismus in Fragen des Gerechten, geben kann.

7. Damit tritt eine weitere Ebene des ethischen Pluralismus in den Blick. Heute gehört zu seinen Kennzeichen, dass die Unterschiede ethischer Orientierungen nicht als bekannt vorausgesetzt werden können. Ethische Orientierungen, von denen Menschen ausgehen, verstehen sich nicht von selbst. Über sie muss Auskunft gegeben werden. Ethischer Pluralismus, unter welchen Einschränkungen auch immer, ist nur möglich, wenn Menschen zu beidem befähigt werden: zur Beheimatung im Eigenen und zur Wahrnehmung des Fremden. Die Pluralität ethischer Orientierungen stellt gesteigerte Anforderungen an die ethische Kultur und Bildung im Gemeinwesen.

8. Auch wenn man behauptet, die Pluralität ethischer Orientierungen sei nicht in einen vorgegebenen Rahmen gemeinsamer moralischer Werte hineingestellt, ist sie doch nur dann lebbar, wenn zweierlei gewährleistet ist: die gemeinsame Anerkennung einer Rechtsordnung, die das Zusammenleben der Verschiedenen möglich macht, und die immer wieder erneuerte Suche nach einem overlapping consensus (Rawls), aus dem sich die für das gesellschaftliche Zusammenleben nötigen Kohäsionskräfte erneuern können. Dazu ist eine dialogische Differenzkultur in ethischen Fragen nötig. So lange der Nationale Ethikrat sich nicht auf einvernehmliche Voten einigen kann, ist es deshalb wichtig, dass er zumindest einen erkennbaren Beitrag zu einer solchen dialogischen Differenzkultur leistet. Er hat das nach meinem Urteil durch die Qualität seiner Voten bisher getan, durch ihre Firmierung als Mehrheits- und Minderheitsvoten dagegen nicht.

9. Die Frage verdient Aufmerksamkeit, ob diese divergierenden Voten sich eigentlich aus unterschiedlichen handlungsleitenden Prinzipien ergeben, ob diese einander wirklich ausschließen oder ob sie nur unterschiedlich gewichtet werden, oder ob es sich in Wahrheit bei den unterschiedlichen ethischen Urteilen um Folgen unterschiedlicher Problemwahrnehmungen oder um die verschiedene Gewichtung unterschiedlicher Interessen handelt. Das lässt sich nur in einer kritischen Selbstreflexion wahrnehmen, die den Gang der ethischen Urteilsbildung in einem iterativen Prozess noch einmal überprüft. Beispielsweise wäre es interessant, dieser Frage im zeitlichen Abstand noch einmal am Beispiel des Votums zum Import embryonaler Stammzellen nachzugehen.

10.  Pluralismus ist kein Selbstzweck. Dort, wo man mit ihm zu tun bekommt, ist er eine Schule der Toleranz. Dort wo in Fragen der Moral im strengen Sinn des Worts Einigkeit nicht erreicht wird, ist er Anlass zu epistemischer Demut. Er nötigt zu erneuter Prüfung. Denn in moralischen Fragen muss man einen Konsens immer für möglich halten – auch unter pluralistischen Bedingungen. Der Vorrat an gemeinsamen moralischen Überzeugungen ist dafür groß genug.