Heilige Räume

Hermann Barth

Vortrag bei der Veranstaltungsreihe "Treffpunkt Marktkirche" in Hannover

Ich beginne mit zwei Erinnerungen.

Das pfälzische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hat wie die Pfalz insgesamt eine bewegte Territorialgeschichte durchgemacht. Die Herrschaften wechselten häufig und mit ihnen die Bevorzugung der einen oder der anderen christlichen Konfession. Im pfälzischen Erbfolgekrieg führten französische Truppen 1688 wieder den römisch-katholischen Gottesdienst ein. Dies hatte schwerwiegende Folgen. Auch ein längerer Rechtsstreit konnte nicht verhindern, daß 1723 den Katholiken das alleinige Recht an der Kirche und den Pfarrgütern zugesprochen wurde. Für über 100 Jahre wich die protestantische Mehrheit des Dorfes für ihre Gottesdienste in eine Scheune aus. Über diese Scheunenkirche heißt es in der Ortsgeschichte: Die ganze Einrichtung bestand zunächst aus "einer Notkanzel und ein paar Bänken. Aber die dünnen Lehmwände und das einfach gedeckte Dach schützten die Gemeinde nicht genug vor Wind und Wetter, so daß z.B. im Winter der Wind den Schnee durch das Dach wehte. Zur Besserung bewilligte 1817 die Regierung des Königreichs Bayern, zu dem die Pfalz seit 1816 gehörte, das Gesuch um eine Holzunterstützung aus benachbarten Gemeinden. 1823 wurde aus dem Erlös des geschlagenen Holzes der gottesdienstliche Raum durch eine Zwischenwand von der Scheune des Nachbarn getrennt. An dieser Wand wurde eine Empore angebracht und diese mit einer kleinen Orgel versehen, die man gebraucht ... erworben hatte. Schließlich gab ein kleines stumpfes Türmchen auf dem Dach dem Bau auch nach außen das Aussehen eines Kirchleins. Aber man sehnte den Tag herbei, an dem der Gemeinde wieder ein würdiges Gotteshaus zur Verfügung stehen würde." 1834 war das dann der Fall. Die Darstellung in der Ortsgeschichte gibt eine Anschauung davon, unter wie kümmerlichen Umständen die Gemeinde über viele Jahrzehnte ihre Gottesdienste gefeiert hat. So wenig braucht es für einen heiligen Raum! Auch eine zugige, armselige Scheune kann die Funktion eines heiligen Raums übernehmen. Aber zugleich wird deutlich, daß man die kümmerlichen Verhältnisse als unangemessen empfand. Ein heiliger Raum sollte mehr sein als eine Scheune mit ein paar Bänken. Die Bevölkerung des Dorfes bestand aus einfachen Leuten. Die beschriebenen Empfindungen zu einem heiligen Raum sind also nicht eine Frage des kultivierten Geschmacks, sondern Ausdruck eines elementaren Gefühls.

Eine zweite Erinnerung. Als Theologiestudent habe ich Mitte und Ende der 60er Jahre   - des vorigen Jahrhunderts, so muß man ja jetzt sagen - schneidig und kompromißlos für multifunktionale Kirchenräume gefochten. Was sei das für eine Verschwendung, beim Neubau von Gemeindezentren einen Kirchenraum vorzusehen, der den allergrößten Teil der Woche unbenutzt bleibt! Von dieser Verirrung wurde ich später gründlich geheilt. Meine Eltern lebten im Ruhestand in einer Gemeinde, deren Gemeindezentrum genau so multifunktional angelegt ist, wie ich es in meinen unreifen Jahren vehement gefordert hatte. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern am Sonntag besuchte und mit ihnen zum Gottesdienst ging, empfand ich den Raum als ausgesprochen defizitär: ohne Inspiration, ohne Andacht, ohne geistliches Aroma. Es kostete mich Anstrengung, gottesdienstliche Gefühle zu entwickeln. Da stimmte etwas nicht: ordinäres Fensterglas, Stühle wie beim Gemeindefest, eine Beleuchtung wie in einem Vortragssaal, die Falttür zum angrenzenden Raum voll im Blickfeld. Mit Beschämung und Erschrecken dachte ich an meine eigenen Irrtümer zurück, die freilich nicht allein die meinigen waren, sondern dem Geist der Zeit entsprachen. Heute denkt man anders darüber. Ich bin überzeugt: Hier handelt es sich nicht um einen periodischen Wechsel wie in den Fragen des Geschmacks oder der Mode. Hier ist der Irrtum durch bessere Einsicht überwunden worden. Der Protestantismus beginnt wieder ein Gefühl für den heiligen Raum zu entwickeln.

Mit meinen beiden Erinnerungen habe ich beiläufig schon eine Reihe von Sachfragen angesprochen. Ich möchte dies nun im folgenden auf systematischere Weise tun und werde dabei in drei Abschnitten vorgehen:
Der erste Abschnitt ist der Verständigung über die Kategorie des Heiligen gewidmet und hat die Aufgabe, näher zu beschreiben, was es mit dem Heiligen auf sich hat. Der zweite Abschnitt wendet sich der Frage zu, ob und wieso Räume heilig sein können. Der dritte Abschnitt schließlich beschäftigt sich mit einigen jüngeren Erfahrungen, in denen sich ein wiedererwachendes Gefühl für heilige Räume und ein dadurch neu ausgelöstes Interesse an ihnen zeigen.

I. Verständigung über die Kategorie des Heiligen

Der Protestantismus hat in den vergangenen Jahrhunderten - trotz einiger bemerkenswerter Ausnahmen - im allgemeinen gegenüber der Kategorie des Heiligen große Fremdheit und großes Unverständnis gezeigt. Die Gründe sind vielfältig. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte die Abgrenzung zur römisch-katholischen Frömmigkeit. Seit einiger Zeit zeichnen sich nachhaltige Veränderungen ab. Auf breiter Front findet im Protestantismus eine Wiederentdeckung des Heiligen statt. Es tut diesem Veränderungsprozeß gut, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was es mit dem Heiligen auf sich hat und was seine besondere Faszination ausmacht.

"Was ist Ihnen persönlich heilig?" So fragte vor Jahren eine Wochenzeitung Juden und Muslime, Christen und Atheisten. Die Antworten fielen bunt aus: "meiner Tochter die Boygroup 'Take That', meinem Sohn der KSC, mit beiden haben sie schwere Enttäuschungen erlebt", "unsere Klosterkirche", "meine Frau", "der Schabbat", "daß man auch für die Menschen um einen herum zu sorgen hat", "vor allen Dingen Gott" (so die Muslimin).

"Heiligkeit" und "heilig" gehören nicht zu den Begriffen, die heute Konjunktur haben. Es gibt aber ein paar alltagssprachliche Wendungen, die die Sache erschließen. Da sagt jemand: "Mein Mittagsschlaf ist mir heilig!" Oder da wird ein Mensch, der skrupellos alle Grenzen überschreitet, mit den Worten charakterisiert: "Dem ist nichts heilig." In beiden Fällen wird ein Unterschied gemacht: Es gibt gewöhnliche Dinge in der Welt, und es gibt Dinge und Zeiten und Orte und Handlungen, die das Gewöhnliche sprengen. Und damit sind wir beim Kern dessen, was "Heiligkeit" und "heilig" meinen.

Das Heilige ist das ganz andere. In der Welt ist nicht alles gleich, es ist nicht alles profan, sondern aus dem Meer des Gewöhnlichen und Verfügbaren ragt das Besondere, das Ausgesonderte, das Unberechenbare und Unverfügbare, also das Heilige heraus. Das Heilige führt über die Welt hinaus. Es stört den Lauf der Welt, aber gerade deswegen hat es die Kraft, den Lauf der Welt zu verändern und zu erneuern.

Einer der bedeutendsten Alttestamentler des vergangenen Jahrhunderts, Gerhard von Rad, hat es - religionswissenschaftliche und biblische Einsichten bündelnd - in seiner "Theologie des Alten Testaments" so beschrieben: "Die Erfahrung des Heiligen ist ... ein religiöses Urphänomen, d.h. das Heilige ist begrifflich in keiner Weise von irgendwelchen anderen menschlichen Wertmaßstäben ableitbar. Es ist nicht deren Überhöhung, gesellt sich ihnen auch nicht zusätzlich bei, viel eher könnte man das Heilige als den großen Fremdling in der Welt des Menschen bezeichnen, d.h. als eine Erfahrungswirklichkeit, die sich der dem Menschen vertrauten Welt nie wirklich einordnen läßt und der gegenüber der Mensch zunächst viel eher Furcht als Vertrauen empfindet."

Einem so bestimmten Verständnis des Heiligen steht in der christlichen Welt noch immer die moralisierende Deutung vergangener Epochen im Wege. Heiligkeit wird hier gleichgesetzt mit sittlicher Vollkommenheit. Das Gegenteil von "heilig" ist dann nicht "profan", sondern "böse", nicht die alltägliche Welt, sondern das moralisch angreifbare Verhalten. Im Katechismus für die Pfalz aus dem Jahr 1833, der von Geist und Theologie der Aufklärungszeit geprägt ist, wird auf die Frage: "Was heißt: Gott ist heilig?" geantwortet: "Gott ist selbst vollkommen gut und rein; er liebt und will daher nur das Gute und kann das Böse nie billigen; er hat Wohlgefallen an den guten Menschen, Mißfallen an den Bösen." Mit denselben moralischen Kategorien wird auch die "Heiligung" des Menschen definiert. Aber so unerläßlich es ist, die ethischen Konsequenzen aufzuzeigen, die aus dem Achthaben auf das Heilige folgen - ein schon im Ansatz moralisierendes Verständnis steht in der Gefahr, das Heilige bloß in die gängige Moral einzuzeichnen.

Durch die Bibel, vor allem durch das Alte Testament, zieht sich der Gedanke hindurch, daß Gottes Heiligkeit mit einem "penetranten Immanenzwillen" (Gerhard von Rad) auf die Welt übergreift. "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott" heißt es prägnant in 3. Mose 19,2. Heiligkeit ist nicht die Vergötzung irdischer Dinge, sondern sie ist bestimmt als die Teilhabe und Widerspiegelung der Heiligkeit Gottes selbst. Der Streit um heilige Dinge und Zeiten und Orte und Handlungen ist darum immer ein Streit um das rechte Verständnis Gottes und den rechten Weg zur Erkenntnis Gottes. Die Bibel wird von den Christen Heilige Schrift genannt, weil sie ihnen nicht bloß als Weltliteratur gilt (das auch, so daß sie zu Recht im Feuilleton der Zeitung als "Fortsetzungsroman" abgedruckt und im Hörfunk "am Morgen vorgelesen" werden kann), sondern als Sammlung der Schriften, in denen Gottes Wort zu uns spricht. Das Essen von einem Brot und das Trinken aus einem Kelch wird, wo es der Einsetzung gemäß geschieht, zum Heiligen Abendmahl, weil es nicht um eine gewöhnliche Mahlzeit, sondern um die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch geht. Beim Bau und bei der Ausstattung gottesdienstlicher Räume wächst auch im Protestantismus - der sich in theologischer Überkorrektheit lange Zeit damit beschieden hat, daß Predigt und Gotteslob an jedem Ort laut werden können - wieder der Sinn fürs Sakrale. Es ist gemeinsame (!) christliche Überzeugung, daß es Christenmenschen gibt, die aus dem Volk Gottes weit herausragen und darum "Heilige" genannt werden können, und "daß ein Gedenken an die Heiligen öffentlich stattfinden kann, damit wir so wie sie glauben und Gutes tun" (so das evangelische Augsburgische Bekenntnis von 1530 in Art. XXI).

Das Verständnis des Heiligen und der Umgang mit ihm sind in der römisch-katholischen und der evangelischen Tradition neben aller Gemeinsamkeit auch charakteristisch unterschieden. Im Blick speziell auf die Verehrung der Heiligen grenzt sich das Augsburgische Bekenntnis von einer Lehre und Praxis ab, durch die es das reformatorische "Christus allein" beeinträchtigt sieht: "Die Schrift lehrt nicht, daß man Heilige anrufen oder von den Heiligen Hilfe erbitten soll. Denn sie stellt uns den einen Christus als Mittler, Versöhner, Priester und Fürsprecher vor Augen. Den soll man anrufen, und er hat verheißen, daß er unsere Bitten erhören werde." Generell wird man die katholisch-evangelische Differenz so beschreiben können: Die Stärke des katholischen Weges besteht darin, die sinnliche, also weltliche Erfahrung Gottes zu erleichtern. Darum werden viele Orte und Zeiten und Dinge angegeben, an denen die Begegnung mit dem Heiligen geschehen kann. Umgekehrt hat der evangelische Weg seine Stärke darin, das "Christus allein", Gottes "Gnade allein", der "Glaube allein" zu betonen. Aller Verwechslung von Gottes Handeln und menschlichem (auch kirchlichem!) Tun soll gewehrt werden. Darum stößt die Tendenz zur Vermehrung heiliger Zeiten, Orten, Dinge und Personen auf Zurückhaltung und Mißtrauen. Aber jeder Stärke korrespondiert eine Schwäche. Ohne falsche Harmonisierung wird man sagen dürfen: Der katholische und der evangelische Weg gehören in versöhnter Verschiedenheit zusammen. Sie korrigieren und bereichern sich gegenseitig.

Die Menschen sind in ihrem Verhältnis zum Heiligen einer doppelten Versuchung ausgesetzt: das Heilige nach eigenen Wertmaßstäben zu bestimmen und damit falsche Götter zu verehren oder auf der anderen Seite das, was nach Gottes Willen geheiligt werden soll, zu ihrem eigenen Schaden wieder in das Meer des Gewöhnlichen zurückzunehmen und alles gleich zu behandeln.

Heilig werden, Heiliges tun - das liegt nicht in der Reichweite menschlicher Möglichkeiten. Wenn alle Heiligkeit in der Welt nur aus der Teilhabe an Gottes Heiligkeit oder aus ihrer Widerspiegelung entsteht, dann ist sie den Menschen nur als erbetene und geschenkte zugänglich. Das kommt in einem Gebet Augustins wunderschön zum Ausdruck: "Atme in mir, du heiliger Geist, daß ich Heiliges denke. Treibe mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges tue. Locke mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges liebe. Stärke mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges hüte. Hüte mich, du heiliger Geist, daß ich das Heilige nimmer verliere."

II. Die Heiligkeit von Räumen

Alle Heiligkeit in der Welt - so sagte ich - entsteht nur aus der Teilhabe an Gottes Heiligkeit oder aus ihrer Widerspiegelung. Dieser Gedanke macht die Zweifel und Vorbehalte nachvollziehbar, die im Protestantismus über lange Zeit gegenüber der Vorstellung von heiligen Räumen vorgeherrscht habe. Denn besteht bei dieser Vorstellung nicht die Gefahr, daß Menschen fälschlich glauben, das Heilige sei in ihre Hand gegeben und sie besäßen die Verfügungsgewalt über es? Ist es - in der Konsequenz einer solchen Befürchtung - nicht die angemessenere Vorstellung, daß Räume niemals an und für sich das Prädikat "heilig" erhalten können, sondern lediglich durch ihren Gebrauch geheiligt werden?

Um die gestellten Fragen aufzunehmen und zu beantworten, gehe ich einen kleinen Umweg. Ein paralleles Problem stellt sich nämlich im Blick auf heilige Zeiten. Der noch andauernde Streit um den Schutz des Sonntags ist ein lehrreiches Beispiel. Dreh- und Angelpunkt auch der christlichen Sonntagsheiligung ist das alttestamentliche Gebot: "Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest!" Heiligen heißt hier wie sonst: absondern, aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Den Sonntag heiligen bedeutet demnach: ihn von den übrigen sechs Tagen unterscheiden. Ohne Sonntag gibt's nur Werktage. Das Gebot Gottes sagt in aller Klarheit, worin sich Alltag und Feiertag unterscheiden sollen: "Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt." Im Gebot der Feiertagsheiligung geht es der Sache nach um die heilsame Unterbrechung der täglichen Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Heiligung des Sonntags, ja schon die bloße Existenz des Sonntags erinnern daran: Der Mensch definiert sich nicht allein über seine Arbeit, der Mensch ist nicht einfach das, was er aus sich macht. Aber der Mensch definiert sich nur zu gern über seine Arbeit und seine Leistung. "Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung", wie die Weimarer Reichsverfassung und mit ihr das Grundgesetz die Sonn- und Feiertage in einer klugen Formulierung beschreiben, sind ein Stachel im Fleisch. Sie stören und verunsichern. Es ist menschlich nur zu verständlich, daß der heilsame Charakter dieser Verunsicherung verkannt und die als Störung empfundene Unterbrechung abgeschwächt oder beseitigt wird.

Daraus geht deutlich hervor: Wer die Auffassung verträte, die Zeit werde allein durch den Gebrauch geheiligt, der hätte den Sonntag, jedenfalls argumentativ, bereits preisgegeben. Würde die Zeit allein durch den Gebrauch geheiligt, dann bekämen diejenigen recht, die das Gebot der Sonntagsheiligung im Zeichen zunehmender Individualisierung schon dadurch als erfüllt ansehen, daß jeder genügend arbeitsfreie Zeit bekommt und den arbeitsfreien Tag nach eigenem Belieben wählt. Im jüdisch-christlichen Verständnis aber ist der Sabbat oder der Sonntag als heilige Zeit, die ebenso heilsam wie störend wirkt, vorgegeben. Es wäre allerdings eine falsche Alternative, das Vorgegebensein der heiligen Zeit gegen die Heiligung der Zeit durch ihren entsprechenden Gebrauch auszuspielen. Der Sonntag ist vorgegebene heilige Zeit, das findet im gesetzlichen Schutz des Sonntags seinen wirksamen Ausdruck. Aber die heilsame Unterbrechung der täglichen Arbeit, die damit intendiert ist, kann im individuellen Gebrauch sowohl angeeignet als auch verspielt werden.

Ich kehre zurück zur Frage nach den heiligen Räumen. Hier nicht anders als bei der Frage nach den heiligen Zeiten ist die Entgegensetzung von vorgegebener Heiligkeit und Heiligung durch Gebrauch eine falsche Alternative. Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Ich erinnere an die schöne und eindrückliche Formulierung Gerhard von Rads, wonach man das Heilige als den großen Fremdling in der Welt des Menschen bezeichnen könne. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, vielleicht sogar furchterregend: fascinosum et tremendum.

Daß der Protestantismus lange Zeit mißtrauisch war gegen das fascinosum et tremendum heiliger Räume, hat sicher auch mit einer einseitigen Betonung der Jesusüberlieferung und der urchristlichen Verhältnisse zu tun. Die biblische Tradition ist aber reicher. In der Jesusüberlieferung, also den Geschichten von dem jüdischen Wanderprediger Jesus und seinen Jüngern, spielen heilige Räume eine völlig untergeordnete Rolle. Wer den Ernst der Nachfolge damit beschreibt, daß 'die Füchse Gruben haben und die Vögel unter dem Himmel Nester, der Menschensohn aber nichts habe, wo er sein Haupt hinlege' (Matthäus 8,20), der hat andere Prioritäten gesetzt, als seinen Nachfolgern den Sinn für heilige Räume zu vermitteln. Aber während Jesus und seine Jünger im Bewußtsein des nahe bevorstehenden Hereinbrechens der Königsherrschaft Gottes lebten - "Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt" (Matthäus 10,23), -, müssen sich Kirchen und Christen in der Welt einrichten, auch mittels heiliger Räume. Auch die frühen christlichen Gemeinden entwickelten keinen Sinn für heilige Räume, konnten ihn nicht entwickeln. Teils waren sie Gemeinden im Werden, die sich hin und her in den Häusern trafen, teils waren es Gemeinden in Verfolgungssituationen, Untergrundgemeinden, die andere Sorgen hatten als die Einrichtung heiliger Räume. Wer in der Bibel etwas über heilige Räume erfahren will, der muß zu den Teilen des Alten Testaments greifen, die sich auf die kultischen Ordnungen, den Jerusalemer Tempel oder die Vorstellung eines neuen Tempels beziehen, also vor allem zu den Psalmen, den Büchern Exodus und Leviticus und einem Teil der prophetischen Literatur. Der Protestantismus hat bis zum heutigen Tage einen gewissen Nachholbedarf, seine Fremdheitsgefühle gegenüber den dort anzutreffenden prallen und schwelgerischen Schilderungen heiliger Räume zu überwinden, und sich zu öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung: "In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch" (Jesaja 6,1-4).

In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, daß Gott - von dem alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist - die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar. Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Zeiten oder Orten oder Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen mit heiligen Zeiten oder Orten oder Räumen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. In dieser Beziehung erweist es sich geradezu als ein kritisches Korrektiv, die Heiligkeit von Räumen zugleich an den entsprechenden Gebrauch zu binden. Kein heiliger Raum - weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendeine Synagoge noch irgendein christlicher Kirchenraum - kann gewährleisten, daß in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist. Darum das inbrünstige Gebet Augustins, Gott selbst möge uns locken, stärken und hüten, daß wir Heiliges denken, Heiliges tun, Heiliges lieben.

Peter Beier, der allzu früh verstorbene frühere Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, hat 1993 beim Evangelischen Kirchbautag ein Referat gehalten und es unter die Überschrift gestellt: "Über die Schwierigkeiten der Protestanten, mit Räumen umzugehen". Er beginnt, wie auch ich es getan habe, mit einer Erinnerung:

"Es ist lange her und fast nicht mehr wahr, was ich 1971 dem Architekten Professor Striffler an Allgemeinplätzen für den Bau eines Gemeindezentrums in Düren-Birkesdorf vorgab. Schon der Begriff 'Gemeindezentrum' erscheint mir heute monströs, sprachlos, und sollte nicht mehr gebraucht werden. Damals schrieb ich: 'Kirchbau ist Zweckbau. Kirchbau ist nicht Sakralbau, nicht gebaute Liturgie und nicht umbautes Mysterium. Wenn der Ort der versammelten Gemeinde die Welt ist, wird die Unterscheidung zwischen Sakral- und Profanbau hinfällig. Wie an Werk und Person Jesu erkennbar ist, bleibt der Ort Gottes die Welt in ihrer vom Menschen erkannten Wirklichkeit, die sich durch keine sakrale Optik außer Kraft setzen läßt. Diese Erkenntnis muß sich in der Baugestalt der Kirche ausdrücken. Theologische Redlichkeit soll sich mit redlicher Architektur verbinden. In Geltung stehen allein die ästhetischen Prinzipien moderner Profanbauten - also keine Heuchelei in Form und Material.'"

Peter Beier merkt dann selbstironisch an: Jene Sätze, die ich damals Professor Striffler vorgab, sind

"Nachweis dafür, daß Protestanten in der Tat Schwierigkeiten im Umgang mit dem Raumproblem haben. Es wird nämlich in diesen steilen Sätzen einiges unterschlagen. Es wird die Tatsache unterschlagen, daß es im Kirchraum urtümlich um Gottesdienst, um Feier und Fest, um die Darreichung der Sakramente in der Form von Ritualen geht. Deshalb reicht die uninterpretierte Behauptung 'Kirche ist Zweckbau' nicht aus. Die Behauptung stellt sich nicht ausreichend dem Formproblem, der Frage, was formal und aufgrund von Inhalten bei der Versammlung der Gemeinde möglich sein kann und was ausgeschlossen werden muß. Ausgeblendet wird die psychologische Komponente des Kirchbaus, die insofern beachtlich bleibt, als Gemeinde sich ja eben nicht ... in gewöhnlichen Räumen versammeln will, sondern im 'anderen' Raum, nicht in einer anderen Welt, aber im von gewohnten Räumen unterschiedenen Raum ... Schließlich findet die grundlegende Dialektik kaum Ausdruck, daß nämlich Kirche bergenden, beschützenden Raum anzubieten hat, ohne die Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit auszublenden" [in: R. Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, 1995, S. 39-45].

Peter Beier steht in besonderer Weise für die Bewahrung protestantischen, reformatorischen Bewußtseins: Nicht der Raum ist die Vorbedingung für das an die Gemeinde Jesu Christi ergehende Wort Gottes, sondern das Wort selbst schafft Raum im Ereignis des Hörens. Um so bemerkenswerter ist es, daß und wie er Abstand gewinnt von unzureichenden Auffassungen über Charakter und Zweck des Kirchenraums und sensibel wird und sensibel macht für die Notwendigkeit des "anderen", des "von gewohnten Räumen unterschiedenen Raums".

III. Anzeichen für die Wiederentdeckung heiliger Räume

In jüngerer Zeit gibt es immer wieder Erfahrungen, die auf ein wiedererwachtes Interesse an heiligen Räumen hinweisen. Ich beschränke mich exemplarisch auf die Vorgänge, die jetzt mehrfach im Zusammenhang von Unglücksfällen, Schreckenserfahrungen und Krieg zu beobachten waren. Ich denke an das ICE-Unglück von Eschede im Jahr 1997, natürlich auch an den Schock des 11. September 2001, hier in Deutschland ebenso wie in den USA, den Amoklauf eines Todesschützen im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt vor einem knappen Jahr, zuletzt den Ausbruch des Irak-Krieges. Immer war es so, daß unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe, aber nicht minder anderswo Menschen einen Ort brauchten und dann auch aufsuchten, an dem sie ihren Gefühlen der Erschütterung, der Klage und Anklage, der Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer Ausdruck verleihen konnten. Als solche Orte erwiesen sich wieder und wieder die Kirchen, also die in unserer Kultur vom Christentum geschaffenen und gepflegten heiligen Räume. Daß die Kirchenräume, aber ebenso die in ihnen gefeierten Gottesdienste, die dort begangenen Rituale und die bei diesen Gelegenheiten verwendeten überlieferten Texte zu Orten der Zuflucht, des Trostes und Ermutigung wurden, gilt im übrigen nicht nur für die dem christlichen Glauben verbundenen Menschen, sondern auch - und vielleicht noch mehr - für die kirchenfremden, die "religiös unmusikalischen" Menschen.

In den Medien ist diese Erfahrung häufig berichtet und reflektiert worden. Als Beispiel seien einige Sätze aus der Meldung einer Nachrichtenagentur vom 1. Mai 2002, also wenige Tage nach dem Massaker in Erfurt, zitiert:

Die Erfurter Kirchen, so heißt es dort, erleben "nach den Todesschüssen den größten Zustrom an jungen Menschen seit der Wendezeit. Dabei ist für viele die Atmosphäre eines Kirchenraumes unübersehbar eine neue Erfahrung ... Als Beweggründe nennen sie vor allem die Stille des Ortes, die ihnen angesichts des grausamen Geschehens wichtig ist. Hier könne man selbst zur Besinnung kommen ... 'Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?', sagt eine Lehrerin, die eine Gruppe jüngerer Schülerinnen und Schüler begleitet."

Es ist vor allem der Satz der Lehrerin, der sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: "Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?" Das ist in kürzest möglicher, aber zugleich intensiv verdichteter Form das treibende Motiv für die Wiederentdeckung heiliger Räume. Sie haben eine Kraft, eine Ausstrahlungs- und Anziehungskraft, die in unserer Lebenswelt nicht ihresgleichen hat.

Ich habe schon angedeutet: Wenn die Ausstrahlungs- und Anziehungskraft heiliger Räume in den Blick genommen wird, dann geht es nicht allein um den nackten Raum, sondern zugleich um all das, was sich in einem Kirchenraum befindet und in ihm geschieht: die über Jahrhunderte gewachsene Gestalt der Gottesdienste, die kraftvolle und unverbrauchte Sprache der Bibel, insbesondere der Psalmen, die Zeichensprache von brennenden Kerzen oder der Segensgebärde, nicht zuletzt das Zur-Sprache-Kommen von Inhalten, die ansonsten aus lauter Hilflosigkeit verschwiegen oder doch an den Rand gedrängt werden.

Der Verweis auf die Erfahrungen, die im Zusammenhang von Unglücksfällen und Katastrophen gemacht werden, hat eine Schattenseite. Denn dies könnte den Eindruck hervorrufen, die Kirchen machten sich hierbei zu "Profiteuren" des Schreckens. Um so mehr kommt es darauf an, sich zu vergegenwärtigen, daß dieselben Erfahrungen - wenngleich naturgemäß nur auf kleinerer Flamme - nicht nur in Extremsituationen, sondern auch unter "normalen" Bedingungen gemacht werden können. Das zeigt sich beispielsweise an dem ungebremsten, ja wachsenden Interesse an offenen Kirchen, an der großen Nachfrage nach pädagogisch gut konzipierten Kirchenführungen oder an der Resonanz, die das Angebot von stiller Zeit, Retraiten oder Meditationswochenenden in Klöstern findet.

Weil die Marktkirche einer der Vorreiter für die Kirchenpädagogik in Deutschland gewesen ist, will ich es bei dieser vor allem von Ehrenamtlichen getragenen Arbeit nicht mit der summarischen Aufzählung bewenden lassen. Das Pflänzchen Kirchenpädagogik hat sich mittlerweile zu einem kräftigen, blühenden Baum entwickelt. Dabei werden sehr unterschiedliche Zielgruppen und Lebensalter erreicht: Touristen, Gelegenheitsbesucherinnen und -besucher, kirchliche Gruppen, Schulklassen. Im vergangenen Jahr hat sich der Bundesverband Kirchenpädagogik auf gemeinsame Thesen verständigt. Ich greife einige Formulierungen daraus auf, um zu demonstrieren, wie bedeutsam diese Arbeit für die Wiederentdeckung der Kirchen als heilige Räume sind:

"Kirchenpädagogik will Kirchenräume für Menschen öffnen und den Sinngehalt christlicher Kirchen mit Kopf, Herz und Hand erschließen und vermitteln ... Kirchenräume mit ihren in Architektur und Ausstattung bewahrten christlichen Glaubensaussagen und Traditionen können neue Bedeutung gewinnen, indem sie mit dem Lebenshorizont der beteiligten Menschen in Beziehung gesetzt werden ... Die besondere Ausstrahlung des Raumes sowie die persönliche Ansprache, die Konzentration der Wahrnehmung und die Verlangsamung des Alltagstempos in der kirchenpädagogischen Arbeit können Zugänge zu oftmals verschütteten religiösen Erfahrungen und Sehnsüchten der beteiligten Menschen anbahnen ... Kirchenpädagogik ist eine langfristige Investition in die kommende Generation. Die Zukunft der Kirche in der multikulturellen Gesellschaft hängt nicht unerheblich davon ab, ob den Menschen aus säkularisierten und anderen kulturellen Kontexten christliche Inhalte verständlich und zugänglich gemacht werden können. Als ein Projekt der Übersetzung an der Schwelle zwischen Kirche und Gesellschaft leistet die Kirchenpädagogik für die Begegnung mit der biblischen Botschaft einen unverzichtbaren Beitrag."

In diesen Wochen ist die Marktkirche Ausstellungsort für Bilder von Anja Teske. In ihren inszenierten Aufnahmen sind jeweils einzelne Personen mit manchmal ungewöhnlichen Posen in die Weite eines Kirchenraumes gestellt. Dabei wird gerade durch die Schwarz-Weiß-Technik die Faszination der Räume - ihre Höhe, die Lebendigkeit des Steinfußbodens, die auf den Chor zulaufende Fluchtlinie des Mittelgangs - deutlich spürbar. Ich habe mich allerdings gefragt, ob es den Aufnahmen gelingt, ja, ob sie überhaupt die Intention haben, die Heiligkeit des Kirchenraumes zu erschließen. Die Aufnahmen beziehen ihre Wirkung aus dem Kontrast zwischen dem Kirchenraum und der Pose der abgebildeten Personen. Der Kirchenraum ist interessant, weil er die Kontrastwirkung verstärkt. Er wird Mittel zum Zweck. Dann ist der Weg nicht mehr weit, um den Kirchenraum als aufregende - um nicht zu sagen "geile" - "Location" für Techno-Raves ins Spiel zu bringen. Wer jedoch Kirchenräume als heilige Räume ernst nehmen will, muß erkennbar machen, daß sie aus dem Meer des Gewöhnlichen und Verfügbaren ausgesondert sind und dem Unberechenbaren und Unverfügbaren mitten in der Welt einen Platz freihalten.

***********

Ich schließe mit einer Hommage an Fulbert Steffensky. Er ist unter den zeitgenössischen Theologen derjenige, bei dem man am meisten über heilige Räume lernen kann. Vor fünf Jahren hat er unter dem Titel "Das Haus, das die Träume verwaltet" eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen veröffentlicht. Sie sind mittlerweile in 7., unveränderter Auflage erschienen - auch ein Zeichen dafür, wie sehr das Gespür für das Heilige gewachsen ist und wie sehr Fulbert Steffensky als Interpret des Heiligen geschätzt wird. Im vergangenen Herbst hat er beim Evangelischen Kirchbautag in Leipzig, der unter der Überschrift "Sehnsucht nach heiligen Räumen" stattfand, einen Vortrag unter dem Titel gehalten: "Der heilige Raum, der die Sehnsucht birgt". Am liebsten hätte ich Ihnen heute Nachmittag einfach nur diesen Vortrag vorgelesen. Aber das wäre zu ungewöhnlich gewesen. Ich bringe meine Verehrung für Fulbert Steffensky wenigstens so zum Ausdruck, daß ich eine kurze Passage seines Textes an das Ende meines Vortrags stelle:

"Ich habe es immer als Problem empfunden, daß die Stimme des Kirchenraumes unhörbar gemacht wird durch lautes Gerede vor dem Gottesdienst. Damit läßt man nicht zu, daß der Raum einen erbaut. Das Gelärme zerstört die Fremdheit des Raumes, die ein köstliches Gut ist ... Wir lieben die Fremde nicht! In narzißtischen Lagen versuchen Menschen, alles sich selber gleichzumachen und sich alles anzueignen. Sie wollen dauernd selber vorkommen, sie wollen die Wärme und die Unmittelbarkeit einer sich selbst feiernden Gruppe. Und so soll es auch im Gottesdienst und in der Kirche gemütlich sein wie zu Hause im Wohnzimmer ... Die Gemeinde will unmittelbar zu sich selber sein, und so verliert der Gottesdienst seine Fremdheit, seine Andersheit. Das Verhalten der Menschen wird ununterscheidbar vom Verhalten zu Hause, im Wirtshaus oder auf einer Party ... Die alten Räume stellen sich in ihrer Fremdheit zum Glück solchen Versuchen noch in den Weg, damit wird die Komik solcher Selbstinszenierungen wenigstens durchschaubar. Ich hoffe, die Kirchen behalten ihre Fremde, und die narzißtischen Selbstinteressen finden keinen Niederschlag in Kirchbaukonzeptionen ... Der heilige Raum ist der fremde Raum, nur in der Fremde kann ich mich erkennen. Der Raum erbaut mich, insofern er anders ist als die Räume, in denen ich wohne, arbeite und esse. Ich kann mich nicht erkennen, ich kann mir selbst nicht gegenübertreten, wenn ich nur in Räumen und Atmosphären lebe, die durch mich selbst geprägt sind, die mir allzu sehr gleichen und die mich wiederholen. Die Räume, die mich spiegeln - das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer -, gleichen mir zu sehr. Der fremde Raum ruft mir zu: Halt! Unterbrich dich! Befreie dich von deinen Wiederholungen! Er bietet mir eine Andersheit, die mich heilt, gerade weil sie mich nicht wiederholt, sondern mich von mir wegführt. Kirchen heilen, insofern sie nicht sind wie wir selber."

Wie wahr gesprochen! Jetzt fehlt nur noch, daß wir die Wahrheit nicht allein erkennen, sondern daß wir von ihr ergriffen werden.

Als Anhang folgt die Leipziger Erklärung, die nach dem 24. Evangelischen Kirchbautag am 6. Januar 2003 veröffentlicht wurde:
 

Leipziger Erklärung: Nehmt eure Kirchen wahr!

Nach dem 24. Evangelischen Kirchbautag (31.10. – 3.11.2002) in Leipzig mit dem Thema »Sehnsucht nach heiligen Räumen» wenden wir uns an die Landeskirchen und Kirchengemeinden in Deutschland:

Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Menschen nach »heiligen Räumen« sehnen: nach Rastplätzen für ihre Seele, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben.

Wir erleben, dass Menschen unsere Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens aufsuchen – ganz gleich, ob sie Kirchenmitglieder sind oder nicht.

Wir wissen, dass unsere Kirchengebäude hilfreiche Zeichen des Anderen in einer diesseitigen Welt und Wegweiser für Sinn in einer fragenden Welt sind.

Wir erfahren, dass in der sich verhärtenden Konkurrenz um Wirtschaftsräume auch die Räume unserer Städte immer enger werden, dass der öffentliche Raum zunehmend wirtschaftlichen Nutzen bringen muss und die Verdichtung der Stadträume auf Kosten der »Anderorte« und damit auch zu Lasten der Kirchen geht.

Wir erinnern daran, dass unsere Kirchengebäude »Seelen und Gedächtnis« der Dörfer und Städte sowie des Gemeinwesens sind, worin wir wurzeln. Als Gemeinden sind wir zwar Eigentümer und Nutzer unserer Kirchengebäude, diese sind aber auch unaufgebbares Kulturgut der Allgemeinheit. Deshalb ist immer wieder für eine gesamtgesellschaftliche Erbemitverantwortung zu werben und zu sensibilisieren.
Wir empfehlen, selbstbewusst und mutig die Chancen unserer sakralen Räume zu nutzen, mit diesem Pfund zu wuchern und die uns überkommenen Gebäude verlässlich zu erhalten, denn

Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinden:
Mit ihren Glocken sagen sie eine andere Zeit an. Durch das, was in ihnen geschieht - Gottesdienste und Andachten, Hören und Beten, Loben und Klagen - werden sie erst zu »heiligen« Räumen. Hier versichern sich Menschen ihrer religiösen Identität, hier erfahren sie Begleitung in den Schwellensituationen ihres Lebens (Taufe, Hochzeit, Trauerfeier). Hier findet der Ausgegrenzte Asyl, hier kann die Erschöpfte aufatmen – in einem offenen, zweckfreien Raum.

Kirchen sind Schatzkammern des christlichen Glaubens:
Ihre Mauern und Steine predigen, mit ihren Räumen sind sie ein Asyl für die letzten Dinge, ihre Altäre stiften Gemeinschaft, mit ihren Orgeln und Glocken loben sie Gott, mit ihren Kunstwerken legen sie Zeugnis ab und erzählen die Geschichte unserer Kultur, mit ihren Kerzen erinnern und mahnen sie, mit ihrem Schmuck danken sie für alle guten Gaben des Schöpfers. Lassen Sie uns unsere größten Schätze treu bewahren, sie bewusst wahrnehmen und ihre Botschaft vermitteln.

Kirchen sind Kraftorte:
Sie bauen an unserer Innerlichkeit. Sie erbauen uns, sie reden mit uns, sie heilen uns. Sie sind Orte des Hörens und des Sehens. Kirchräume gehören allen. Darum müssen sie geöffnet und allen Menschen zugänglich sein. Lassen Sie uns alle Anstrengungen unternehmen, dass unsere Türen offen stehen. Wir kennen die Bedenken. Aber wir meinen, dass es für jede Gemeinde Wege gibt, diese Bedenken zu überwinden. Der Wert von Kirchen, die »offen für alle« (so das Motto der Nikolaikirche Leipzig) sind, ist größer als der Schaden, der eventuell eintreten könnte.

Kirchen sind gestaltete Räume:
Ihre Ästhetik und Atmosphäre berührt uns Menschen. Die Gestaltung unserer Kirchräume darf nicht kurzweilig herrschendem Geschmack oder scheinbar unabwendbaren Erfordernissen zum Opfer fallen. Der Erhalt der ursprünglichen, von der Liturgie bestimmten Gestaltungsintention bewahrt dem Gebäude seine Sprachgestalt. Bei Fragen der Gestaltung sollte immer das Gespräch mit Architekten und Architektinnen als den »Experten des Raums« gesucht werden.

Kirchen sind Freiräume:
Das Experiment darf hier zuhause sein. Das Wagen des Neuen, das Ausprobieren des Ungewohnten, das Versuchen der Grenzgängerei ist den »heiligen Räumen« nicht fremd, sondern eigen. Wir ermutigen deshalb, dem Dialog mit der Kunst die Türen zu öffnen mit Musik, bildenden Künsten, Literatur und anderen zeitgenössischen Mischformen des künstlerischen Ausdrucks. Wir regen an, als Fragende das Gespräch aus evangelischer Perspektive mit Künstlerinnen und Künstlern zu suchen.
Wo es allerdings um die bisweilen sicher auch nötigen veränderten Nutzungen der Kirchräume geht, erinnern wir daran, dass nicht jedes Experiment nützt und es zum Schaden aller gereicht, wenn unsere Räume Gegenstand einseitiger Schlagzeilen werden.
 
Es ist höchste Zeit für den Aufbruch. Lassen Sie uns gemeinsam die überkommenen und die verborgenen Schätze und Chancen unserer Kirchräume neu entdecken und zur Geltung bringen!

Berlin, den 6. Januar 2003 

Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautages

gez. Helge Adolphsen
 (Vorsitzender)