Predigt zum Karfreitag in der Auferstehungskirche in Köln-Bocklemünd (Johannes 19, 16-30)
18. April 2003
Predigttext: Johannes 19, 16-30
Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, daß
er gekreuzigt würde.
Sie nahmen ihn aber,
und er trug sein Kreuz und ging hinaus
zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf
hebräisch Golgatha.
Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm
zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber
in der Mitte.
Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und
setzte sie auf das Kreuz; und es war ge-
schrieben: Jesus von Nazareth, der König
der Juden.
Diese Aufschrift lasen viele Juden,
denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt
wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war
geschrieben in hebräischer, lateinischer
und griechischer Sprache.
Da sprachen die Hohepriester der Juden
zu Pilatus: Schreib nicht: Der König
der Juden, sondern, daß er gesagt hat: Ich
bin der König der Juden.
Pilatus antwortete: Was ich geschrieben
habe, das habe ich geschrieben.
Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt
hatten, nahmen sie seine Kleider und
machten vier Teile, für jeden Soldaten
einen Teil, dazu auch das Gewand. Das
war aber ungenäht, von oben an gewebt in
einem Stück.
Da sprachen sie untereinander: Laßt
uns das nicht zerteilen, sondern darum losen,
wem es gehören soll. So sollte die Schrift
erfüllt werden, die sagt (Psalm 22, 19): „Sie
haben meine Kleider unter sich geteilt
und haben über mein Gewand das Los
geworfen.“ Das taten die Soldaten.
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu
seine Mutter und seiner Mutter Schwester,
Maria, die Frau des Klopas, und Maria
von Magdala.
Als nun Jesus seine Mutter sah und bei
ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht
er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist
dein Sohn!
Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe,
das ist deine Mutter! Und von der Stunde
an nahm sie der Jünger zu sich.
Danach, als Jesus wußte, daß schon
alles vollbracht war, spricht er, damit die
Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.
Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber
füllten einen Schwamm mit Essig und
steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten
es ihm an den Mund.
Als nun Jesus den Essig genommen
hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und
neigte das Haupt und verschied.
1. Das Bild des Kreuzes ist lebendig
Von Alters her ist es das christliche Erkennungszeichen. Kirchen und Gräber tragen Kreuze. „Wir gehören zu ihm“ bekennen Menschen und bekreuzigen sich, zeichnen sich mit dem Kreuz. Sie vertrauen sich einer Macht an und versuchen das Böse zu bannen.
Missbrauch ist nicht ausgeschlossen. Das Kreuz als magisches Zaubermittel. Eiserne Kreuze, Ritterkreuze, Mutterkreuze, Ordenskreuze, jede menschliche Macht stattet (sich) damit aus. Oder man braucht es ganz einfach als Ornament, als Schmuck, am Kettchen um den Hals getragen, in Silber oder Gold...
Karfreitag ist heute.
Viele sind in die Kirchen gekommen. Sie hören die Geschichte vom Sterben Jesu, singen die Lieder von der Passion, lassen sich aufwühlen durch die großen Werke der Musik, welche die Leidensgeschichte des Mannes aus Nazareth in unser Inneres bringen.
Das Kreuz Jesu ist nicht im Dunkeln versunken, wie so viele andere Kreuze - es ist Signal. Es lässt uns auf die vielen Kreuze aufmerken, die unsere Sterblichkeit anzeigen, - die die Toten von Krieg und Gewalt markieren - und es schenkt die Kraft, dass wir trotz der vielen Kreuze leben können.
2. Es ist vollbracht
Das ist das letzte Wort Jesu im Johannesevangelium. Nicht erschöpft oder verzweifelt stirbt dieser Jesus, sondern in fester Gewissheit. Das Werk ist vollendet. Der Sieg ist vollbracht.
„Es ist vollbracht“ - ein ärgerliches Wort ist das. Denn offensichtlich ist nichts vollbracht, von dem was Jesus wollte. Der Zustand dieser Welt und unserer Geschichte zeigen das erschreckend deutlich. Die Qualen der Seele und des Leibes, die Nöte vieler Menschen, die Härte der Herzen, die ungetrösteten Tränen sind Kennzeichen der Realität unserer Welt. Wo das Leben amputiert wird, wo Angst die Seele frisst, wo Fantasie verkrüppelt, da spricht scheinbar alles gegen den Sieg.
Dennoch: - „Es ist vollbracht!“ So glaubt Johannes, der Evangelist, den Tod Jesu. – Es ist vollbracht gegen allen Anschein. Gottes Ja zu seiner Schöpfung bleibt das letzte Wort. Jedes zerstörende Nein ist ans Kreuz geschlagen. Und darüber steht die Inschrift: „Jesus aus Nazareth, König der Juden“.
Unbewusst ist es das richtige Bekenntnis.
Man verlangt von Pilatus, er müsse das ändern. Der Mann habe sich angemaßt, er sei der König der Juden. Doch Pilatus lässt sich nicht umstimmen.
Dornenkrone, Purpurmantel und die johlenden Soldaten, sie spielen ein grausam spöttisches Spiel. Eine Karikatur zeichnet der Evangelist Johannes. Aber hinter der Karikatur huldigen die Menschen doch dem wahren König.
So will Johannes, der Evangelist, uns den Kreuzestod Jesu nahe bringen. Es ist der Sieg des Königs. Er hat sein Werk vollbracht. - Die Auferstehungswirklichkeit scheint schon wie das Licht durch ein Transparent.
Für „kreuzigen“ benutzt Johannes das Wort „erhöhen“.
Bildlich heißt dieses Wort: Das Kreuz aufrichten und einen Menschen daran aufhängen. Gleichzeitig bedeutet es im übertragenen Sinn: Jemanden zur Herrschaft bringen.
So erklären die Henkersknechte, ohne es zu wissen, ihr Opfer zum Herrn des Lebens. Und das Evangelium sagt: Hier vollendet einer alle Hoffnung für die Welt.
Einer hält das Sterben aus. Er wurde entehrt und ohne Würde, ein Spott der Menschen; verlassen, geschlagen und unter die Verbrecher gezählt. Aber dieses Leiden verbindet mit Gott. Es ist Vollendung, es ist vollbracht.
Welch ein Mensch - welch ein Gott.
3. Unter dem Kreuz mitten in unserer Welt geht der Schacher weiter
Die Kleider werden geteilt, um den Rock wird das Los geworfen.
„Die Schrift wurde erfüllt“, sagt Johannes, der Evangelist. Auch dieses Spiel ist einbezogen in das Werk des Heils. „Es ist vollbracht.“ - Denn unter dem Kreuz beginnt eine neue Gemeinschaft. Vier Frauen und die Jünger, Menschen, die dem Wort des Erhöhten gefolgt waren. Eine Gemeinschaft von Müttern und Söhnen, von Brüdern und Schwestern.
Die Urzelle der Kirche!
„Maria, das ist dein Sohn.“ „Johannes, das ist deine Mutter.“
Je näher Menschen zum Kreuz kommen, desto näher kommen sie zusammen. Sie nehmen einander auf, sorgen füreinander und sind die Gemeinde des Gekreuzigten.
4. Unsere Kirche ist Kirche unter dem Kreuz
In ihr wird man das Leiden der Menschen an Gott ernst nehmen. Das Hungern nach Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach Liebe und Frieden. In dieser Kirche haben alle ein zu Hause. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott.
So kann seine Herrschaft unter uns beginnen. So wird sie nicht folgenlos sein. Sie hat ihre Konsequenzen, die uns verändern und die Spuren in die Geschichte zeichnen.
Ich bin sicher: es hat mit uns ja längst angefangen. Wir müssen nur einen Blick haben für die Spuren.
Ich nenne einige dieser Spuren:
- Unsere Erfahrungen von Schuld, Leid und Tod brauchen wir nicht zu verdrängen.
Wir können sie annehmen und verarbeiten. Dann sind sie nicht mehr die Ketten, an die unser Leben geschmiedet ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, die dem Leiden keinen Sinn abgewinnen kann. Ängstlich versucht man, die Berührung mit dem Leid zu vermeiden. Das macht zunehmend unfähig, das Leben zu gestalten, wenn man selber Leid erfährt. Und ganz gewiss macht es auch blind für die Leiderfahrung anderer.
Dass ich nicht missverstanden werde: Nicht jedes Leid sollen wir ergeben annehmen. Es ist die Pflicht, jedes von Menschen verursachte Leid zu bekämpfen mit den Mitteln des Verstandes, der Politik, der Medizin. Soziales Unrecht, brutale Willkür, menschenunwürdige Lebensbedingungen gehören beseitigt. Jesu Kreuz ist zugleich Protest gegen das Leid.
Aber wir sind auch Leiden ausgesetzt, die wir nicht vermeiden können: Abschied, Trennung, Sterben. Diese Leiden sind Bestandteile unseres Lebens. Sie zu verdrängen, bedeutet, das Leben verdrängen.
Wachsen und reifen, empfindsam werden für andere Menschen - das geht nur, wenn wir Ja sagen zu diesem Leiden und Ja sagen zu unserer eigenen Endlichkeit.
- Wir brauchen keine Sündenböcke mehr, unsere Vorurteile dürfen wir berichtigen.
Wir brauchen nicht mehr andere für eigenes Versagen schuldig zu sprechen. Wir können den eigenen Anteil an der Bosheit dieser Welt akzeptieren. Wir werden offen für die Not um uns herum, weil wir uns nicht ständig selber rechtfertigen müssen.
- Wir können erkennen, wie das Kreuz Christi die Mächte entlarvt, die das Leid gebären – die Niedertracht der Menschen.
Die dunklen Mächte sind nicht immer so offensichtlich wie bei den finsteren Antihelden der Wildwestfilme.
Natürlich, es gibt die dunkle Brut derer, die nicht vom Rassismus lassen. Es gibt die viel subtilere Scheinheiligkeit derer, die davon ablenken durch Beleidigung derer, die vor dem Ungeist warnen.
Ja, es gibt auch die Bombenwerfer und Killer. Bei all denen ist das Böse offensichtlich.
Aber es gibt auch noch viel unscheinbarere – nicht minder schreckliche Formen der Bosheit. Es gibt die scheinheiligen Beschäftigungspolitiker, die den Waffenhandel liberalisieren wollen. Sie sagen: Damit schaffen wir Arbeitsplätze und kurbeln die Wirtschaft an. Aber sie nehmen in Kauf, dass Tausende umkommen.
Es gibt, vielleicht in uns allen, auch das Interesse daran, andere zu überflügeln und beiseite zu drängen. Konkurrenzkampf, der viele an den Rand drängt und Elend hervorruft.
Alle diese Bosheiten werden vom Kreuz entlarvt.
- Wir brauchen die Machtstrukturen, die das Leid gebären, nicht mit Gewalt zu zerstören.
Die Gegengewalt schafft nicht das Ende der Gewalt, sondern neues Leiden.
Der Weg Jesu - sein Kreuz - durchbricht die Spirale der Gewalt, ist der Weg der Versöhnung. Die Welt nennt das Torheit, aber es ist der einzige Weg aus dem Leiden heraus. Gewiss können wir mit Mitteln irdischer Macht die ein oder andere Bosheit eindämmen. Wirklich heraus aus diesem Kreislauf finden wir nicht.
- Wir können Hilfe annehmen. Wir können den Dienst Jesu annehmen.
Das versteht sich nicht von selbst. Hilfe anzunehmen gehört zum Schwersten, was wir Menschen lernen müssen. Jedenfalls bei Krankheit und Alter ist es schwer, Hilfe anzunehmen. Unser Leben ist immer Tun und Geschehen lassen. Geben und Nehmen. Wir brauchen den Austausch gegenseitiger Hilfe. Ohne sie werden die Menschen um uns und wir selbst von steinernen Herzen zerdrückt.
Das Bild vom Kreuz ist lebendig
Es ist in Wahrheit nicht das Bild des Scheiterns und der Katastrophe.
Gottes Weg in die Welt ist nicht gescheitert, es ist der Weg der Befreiung, der Erlösung. Gescheitert ist der menschliche Traum von eigener Erlösung.
Lebendig ist die Kraft der Liebe, lebendig ist das Kreuz, das Jesu Nachfolger tragen. In der ganzen Welt gibt es die Zeichen dafür. Die Liebe kommt nach unten und mischt sich ein.
So lasst uns diesen Karfreitag nutzen, lasst die Geschichte vom Kreuz in euch nachklingen.
Vielleicht haben Sie noch die Chance, eine Passionsmusik zu hören. Um 15.00 Uhr heute Nachmittag, in der Sterbestunde, gibt es gewiss über den Rundfunk gesendete Musik.
Oder tragen Sie einfach das Bild des Kreuzes in sich - „Es ist vollbracht“ ist das letzte Wort. Es ist das Heil der Welt darin beschlossen.
Hannover, 16. April 2003
Pressestelle der EKD