Ökumenischer Gottesdienst bei der 14. Gedenkveranstaltung für die Opfer des NKWD-Speziallagers Nr. 5 Ketschendorf (Jeremia 11,19f)

Hermann Barth

Predigt über Jeremia 11,19f

Liebe Gemeinde!

Von den Propheten des Alten Testaments kennen wir im allgemeinen nur ihre Botschaft: eine aufrüttelnde, aufdeckende, aber immer wieder auch aufrichtende Botschaft für die Menschen im alten Israel, in Juda und in Jerusalem. Von der Person der Propheten, ihren Lebensumständen, ihren Gefühlen, ihrem Schicksal wissen wir wenig. Aber es gibt Ausnahmen, und zu diesen Ausnahmen gehört der Prophet Jeremia. Wir wissen, wann er auftrat - nämlich vor mehr als 2.500 Jahren - und aus welchem Dorf er stammte. Wir hören ein paar Geschichten aus seinem Leben. Und wir haben einige Texte, in denen er uns in sein Herz blicken läßt, in denen er gewissermaßen das Innerste nach außen kehrt. Man nennt diese Texte die "Konfessionen" Jeremias, Bekenntnisse seiner gepeinigten Seele. Eine dieser Konfessionen bezieht sich nicht ausschließlich auf das besondere Geschick dieses Propheten, sondern läßt sich ebenso vor dem Hintergrund der Leiderfahrung anderer Menschen lesen. So, ungefähr so könnten auch die Opfer des Internierungslagers Ketschendorf - und ungezählte weitere Opfer von Unmenschlichkeit und Unrecht - sprechen:

Ich war wie ein argloses Lamm gewesen, das zur Schlachtbank geführt wird, und wußte nicht, daß sie gegen mich beratschlagt und gesagt hatten: Laßt uns den Baum in seinem Saft verderben und ihn aus dem Lande der Lebendigen ausrotten, daß seines Namens nimmermehr gedacht werde. Aber du, Herr Zebaoth, du gerechter Richter, der du Nieren und Herzen prüfst, laß mich sehen, wie du ihnen vergiltst; denn ich habe dir meine Sache befohlen.

Die Lektüre des Buches von Renate und Jan Lipinsky über die Geschichte des Speziallagers Nr. 5 hat mich sehr berührt. Bevor ich dieses Buch las, gehörte ich zu den vielen in unserem Land, die von Ketschendorf und von den Ereignissen, die sich im dortigen Speziallager zutrugen, noch nie etwas gehört haben. Gewiß - in dem pfälzischen Dorf, in dem ich als Pfarrer tätig war, haben mir Gemeindeglieder von ihrer Internierung in dem amerikanischen Lager bei Bad Kreuznach erzählt. Das war schlimm genug. Aber die Schicksale, die mir Renate und Jan Lipinsky vor Augen gestellt haben, erreichen noch eine andere Stufe des Schreckens und der Härte. Nicht alle, aber doch viele, die in die Internierungslager verschleppt wurden, konnten und können von sich sagen: "Ich war wie ein argloses Lamm gewesen, das zur Schlachtbank geführt wird, und wußte nicht, daß sie gegen mich beratschlagt und gesagt hatten: Laßt uns den Baum in seinem Saft verderben und ihn aus dem Lande der Lebendigen ausrotten". Das Bild von einem Baum, der im Saft steht, trifft sehr genau die Lebenssituation der Internierten: Die große Mehrheit von ihnen stand in der Blüte ihrer Jahre; wo sie mit dem Leben davongekommen sind, hat ihnen die Internierung kostbare Jahre geraubt.

Das Ziel derer, die sich gegen Jeremia verschworen haben, beschränkt sich aber nicht darauf, "ihn aus dem Lande der Lebendigen auszurotten". Dabei scheint es etwas Furchtbareres gar nicht zu geben. Was kann ich einem Menschen mehr antun, als ihm das Leben zu nehmen? Jeremia kann die Frage beantworten. Denn seine Gegner verfolgen das Ziel: "Laßt uns den Baum in seinem Saft verderben und ihn aus dem Lande der Lebendigen ausrotten, daß seines Namens nimmermehr gedacht werde." Jeremia soll nicht allein physisch aus dem Weg geräumt werden. Sein Name, sein Gedächtnis soll von der Erde verschwinden. Das macht das Leid derer, die in den Internierungslagern festgehalten waren, und das Leid ihrer Familien und Freunde so groß, daß, als die Lager aufgelöst waren, vom Geschick dieser Menschen nicht mehr gesprochen wurde oder gar nicht mehr gesprochen werden durfte. Auch im Blick auf die Internierungslager, die in den westlichen Besatzungszonen eingerichtet waren, gab und gibt es kaum eine lebendige Erinnerung. Aber es ist noch einmal eine Steigerung, wenn aus politischen Gründen sogar jeder Ansatz zu einer lebendigen Erinnerung abgewiesen und unterdrückt wird. Der Wille zur Vernichtung menschlichen Lebens hat dort seine äußerste Zuspitzung erreicht, wo nicht einmal mehr das Gedächtnis des erlittenen Leides gepflegt wird und die Opfer ebenso wie die Orte vergessen werden. Um so bedeutsamer ist es, was von 1990 an von der Initiativgruppe Ketschendorf geleistet wurde und sich in der nunmehr 14. Gedenkveranstaltung niederschlägt. Wir gedenken der Opfer des Speziallagers Nr. 5. Und deshalb haben die Urheber des dort erlittenen Leides - ob sie nun an Schreibtischen saßen oder im Lager selbst am Werk waren - ihr äußerstes Ziel nicht erreicht: Die Namen der Opfer und der Orte sind nicht aus dem Gedächtnis gelöscht, sie werden - nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch öffentlich - in Erinnerung gebracht.

Das, was Jeremia aufrechterhalten hat - in der Zeit der Not selbst, aber nicht minder im Rückblick auf sie -, ist dreierlei: die Gewißheit, daß Gott ein "gerechter Richter" ist, die Zuversicht, daß seine "Sache" bei Gott in guten Händen ist, und schließlich die Aussicht darauf, daß Untaten sich niemals lohnen und daß es so etwas wie eine Vergeltung gibt.

Unter den in Ketschendorf Internierten waren viele gänzlich unschuldige Opfer, Menschen, die bloß durch Zufall oder Willkür in das Räderwerk der Verfolgung kamen. Aber auch ein unschuldiges Opfer kann von der quälenden Frage heimgesucht werden: Was habe ich bloß getan, daß mir das widerfährt? Was ist meine Schuld? Was habe ich mir denn vorzuwerfen? In dieser Situation findet Jeremia Zuflucht bei dem Gedanken, daß - wenn schon die Menschen nicht nach Recht und Gesetz fragen, doch jedenfalls - Gott ein "gerechter Richter" bleibt.

Er prüft, wie wir bis heute sagen, "auf Herz und Nieren". Er blickt selbst in die Abgründe meines Herzens. Auf seinen Urteilsspruch kann ich mich deshalb verlassen. Ihm kann ich "meine Sache befehlen". Oder mit den Worten der Liedstrophe, die wir vor der Predigt gesungen haben: "Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit; es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid. Ihm sei es heimgestellt; mein Leib, mein Seel, mein Leben sei Gott dem Herrn ergeben; er schafft's, wie's ihm gefällt!"

Jeremia geht darüber aber noch einen Schritt hinaus. Er sagt: Ich will "sehen, wie du ihnen vergiltst". Mit dem Gedanken der Vergeltung, erst recht mit dem Gedanken der Rache tun wir uns schwer. Dabei ist der Wunsch nach Vergeltung und Rache so naheliegend und so elementar: Denn zu Recht können wir uns nicht damit abfinden, daß Unrecht und Untat folgenlos bleiben. Das darf doch nicht wahr sein, daß die Opfer unschuldig ihr Leben oder jedenfalls kostbare Jahre verlieren, während die Untaten, unter denen die Opfer leiden mußten, auf sich beruhen. In der Tat: Das darf doch nicht wahr sein! Aber die Gefühle der Vergeltung und der Rache sind gefährlich - um so mehr dann, wenn die Opfer die Vergeltung selbst in die Hand nähmen. Eine der wichtigsten Antworten auf das berechtigte Verlangen, daß Unrecht und Untat nicht folgenlos bleiben dürfen, ist der Rechtsstaat. Nach seinen Regeln werden Unrecht und Untat vergolten, ohne daß die Rachegefühle der unmittelbar betroffenen Menschen das Heft selbst in der Hand haben. Vieles freilich fällt durch die Ritzen des Rechtsstaats hindurch, sei es, daß es nicht in der erforderlichen Weise nachgewiesen werden kann, sei es, daß es unentdeckt bleibt und nie zur Anklage gebracht wird. Schon deshalb ist die Perspektive auf Gottes Vergeltung, wie Jeremia sie formuliert, nicht überholt. "Gebt Raum dem Zorn Gottes", schreibt der Apostel  Paulus [in Röm 12,19]. "Denn es steht geschrieben [in 5. Mose 32,35]: 'Die Rache ist mein; ich will vergelten', spricht der Herr." Nicht: Schwamm drüber, nicht: findet euch ab mit der Ungerechtigkeit der Welt. Sondern: "ich will vergelten, spricht der Herr". Wie das vergeltende Handeln Gottes im einzelnen aussieht und funktioniert, das werden wir nie vollständig erfassen und durchschauen. Unsere Erwartung, daß es so etwas wie Vergeltung geben müsse, ist berechtigt, aber manchmal auch ziemlich kleinkariert. Wir möchten in unserer Empörung zu gern Gleiches mit Gleichem vergelten und bewirken dadurch nur eine nicht endende Kette von Vergeltung und Gegen-Vergeltung. Aber bei Gott gehören Gerechtigkeit und Güte zusammen. Er will die Kette der menschlichen Vergeltung sprengen. Seine Gedanken sind, wie ein anderer Prophet gesagt hat, nicht unsere Gedanken, und seine Wege sind nicht unsere Wege, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch seine Wege höher als unsere Wege und seine Gedanken als unsere Gedanken. Auch in diesem Sinne ist es gut, wenn wir ihm unsere "Sache befehlen".

Amen.