Predigt zum Gedenkgottesdienst am 17. Juni 2003 (Psalm 126)

17. Juni 2003, in der Marienkirche zu Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

"Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete,
da waren wir alle wie Träumende.
Da war unser Mund voll Lachen
und unsere Zunge voll Jubel.
Da sagte man unter den anderen Völkern:
"Der Herr hat an ihnen Großes getan."
Ja, Großes hat der Herr an uns getan.
Da waren wir fröhlich.
Wende doch, Herr, unser Geschick,
wie du versiegte Bäche wieder füllst im Südland.
Die mit Tränen säen,
werden mit Jubel ernten.
Sie gehen hin unter Tränen
und tragen den Samen zur Aussaat.
Sie kommen wieder mit Jubel
und bringen ihre Garben ein."

Der Friede Jesu Christi sei mit euch!

I.
Ein Wallfahrtslied aus der Tradition des Volkes Israel: Es trägt die Erfahrung von Gefangenschaft und Unterdrückung, und es atmet das Erlebnis der wiedergeschenkten Freiheit.
"Man sagt unter den Völkern: Der Herr hat Großes an ihnen getan."
Erinnerung an Not und an die Befreiung aus der Not mündet in neues Gebet: "Wende doch unser Geschick, wie du versiegte Bäche wieder füllst." Der Saat der Tränen möge im Jubel der Ernte Erfüllung folgen. Mit diesem Psalm lassen wir uns die Sprache der Erinnerung und der Hoffnung von Israel schenken für den Gedenktag heute.
Vor 50 Jahren standen Arbeiter und Studenten auf gegen die SED-Herrschaft. Ein Glaubenskampf war es nicht, auch kein Kirchenkampf. Es war ein Aufstand gegen die Alleinherrschaft einer Clique, gegen deren Willkür der Leistungsnormen; es war ein Kampf für Reformen der Arbeit und für eine freie selbstbestimmte Gestaltung des Lebens.
Ein Freiheitswille brach auf, der schließlich nur mit der Macht sowjetischer Panzer niedergedrückt werden konnte.

II.
Der Psalm Israels atmet solche Erfahrung mit all seinen Bildern, Gefangenschaft - Knechtschaft in Ägypten, Deportation nach Babylon, diese geschichtlichen Krisen Israels weisen über die Erfahrung des Gottesvolkes hinaus, sind Sinnbild für Gewalterfahrungen bis heute; auch für die schuldhafte Verstrickung, die solchen Unterdrückungsmächten in die Hände gespielt hat.

Die Klage des alten Gebets spiegelt die Sehnsucht nach dem Ende der Dunkelheit.
Zion, Jerusalem, die Stadt, auf die sich alles Hoffen richtete. Zugleich Name für das Gottesvolk, das wartet auf die Befreiung seiner verschleppten Bewohner, auf die Heimkehr der Verbannten, auf Wiederherstellung seiner Häuser und des Tempels - als ein Zeichen der Völker.

Wie die Träumenden nehmen die Betenden des Psalms die Befreiung vorweg, noch ehe die Erlösung vollends Wirklichkeit geworden ist.

III.
Nicht dass wir die Sprache des Gebetes missverstehen!
Die Sehnsucht der Aufständischen des 17. Juni 1953 zielte nicht auf Gottes Reich, da "alle Tränen abgewischt und kein Leid und kein Geschrei" mehr ist.
Aber dieser Wechsel von Zerfall und Aufschwung, wie es der Psalm beschreibt, diese Erinnerung an Leid und die Sehnsucht nach Freiheit beschreiben einen Horizont vor dem das Ereignis des 17. Juni gedeutet werden soll. Die Erinnerung an den Aufruhr des Jahres 1953 macht die menschliche Tragik der Getöteten, der Gefangenen und Verfolgten bewusst.
Der Aufstand des 17. Juni war nicht von Erfolg gekrönt. Befreiung hat nicht stattgefunden. Aber eins wurde dokumentiert - und die Herrschenden müssen es auch gewusst haben:

Dieses Regime hatte damals keinen Rückhalt im Volk. Aber die Machthaber ließen nicht locker. Die Vernichtung der selbständigen Berufe, des Handwerks und der freien Bauern waren die nächsten Aktivitäten zur Gleichschaltung der Menschen. Hunderttausende verließen das Land, weil sie keine Perspektive mehr sahen, viele auch weil sie wegen ihrer Glaubenshaltung oder ihrer politischen Überzeugungen bedroht und verfolgt wurden.

Auch ein hastiges Einlenken der SED-Herrschaft kurz vor dem Aufstand gegenüber den Kirchen hatte Vertrauen nicht hergestellt. Die Verfolgung der 'Jungen Gemeinden' und der Studentengemeinden, die Verweisung ihrer Mitglieder von den Oberschulen, und von den Universitäten, die Verhaftung von Pfarrern und Diakonen waren als Ausdruck einer "Macht ohne Liebe" erlebt worden.

Auch die taktische Rücknahme der Maßnahmen hatte nicht darüber hinweggetäuscht, dass dieses System die einzige nicht angepasste Organisation, nämlich die Kirche, hasste. Das materialistische Bekenntnis einer Weltanschauung, die sich des Zwanges bediente, hat in den folgenden Jahrzehnten durchaus gewirkt. Die atheistische Jugenderziehung hat bei vielen die Saat des Spottes und des Hasses gegen Glauben und Kirche aufgehen lassen.

Aber die Grundskepsis gegenüber den Herrschern ist nicht gebrochen. Die Kirchen waren kleiner geworden aber intakt geblieben, sie konnten durchhalten auch bei wechselndem Druck. Obwohl sie behindert und bespitzelt wurden, konnten sie Flucht- und Kristallisationspunkt für eine große Zahl von Menschen werden, die ihre Grundskepsis gegenüber dem Regime nicht verloren hatten.

Bis dann 1989 sich der Widerstand erneut Bahn brach, dieses mal Gott sei dank von sowjetischen Panzern nicht behindert.

IV.
"Es gibt nichts Lebendigeres als die Erinnerung", hat der Schriftsteller Garcia Lorca einmal gesagt. Der 126. Psalm ist ein Lied, dass die Kraft der Erinnerung eindrücklich besingt. Es ist eine Erinnerung, die nicht rückwärts gewandt ist, sondern nach vorn weist, in die Zukunft.
Der Mund wird voll Lachen, die Zunge voll Jubel sein, weil Gott die Gefangenschaft Zions gewendet hat.
Aus dieser Erinnerung bezieht das Gebet seine Hoffnung: "Wende doch, Herr, unser Geschick!"

Das endgültige Ziel ist noch nicht erreicht. Wer sich vor Augen stellt, was Israel durchgetragen hat in den Zeiten der Verfolgung spürt die Quelle, aus der man auf dem Weg in die Zukunft schöpfen kann. Auch die erlebten Niederlagen können Kraft sein für neuen Aufbruch, wenn sie transformiert werden durch den Glauben an Christus, der die Verlassenheit der Menschen geteilt hat.

"Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten".
Der uralte Mythos von Saat und Ernte als Wechsel von Trauer und Jubel ist ein Bild für den Weg durch das Leiden hin zur Freude.
Das Psalmgebet setzt auf diese Wendekraft Gottes auch im Alltag. Trotz aller Trübsal lohnt es, mit Vertrauen in die Zukunft zu gehen.
Eine Kraft will dieses Gebet sein für die Glaubenden, wie auch für alle, die in ihrem Glauben verzagt sind oder ihn gar aufgegeben haben.

Die Erfahrungen von Ohnmacht und Mut, von Angst und Hoffnung dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Sie sind ein Schatz, den es zu bewahren gilt um künftiger Freiheit willen.
Nach 1953 und dem Scheitern des Aufstandes, nach 1989, dem Gelingen der Wende brauchen wir neue Kraft in unserem Land, damit die Einheit vollendet wird.

Denn noch sind die Lasten der geteilten Vergangenheit groß, größer als viele es für möglich gehalten haben. Noch sind die Chancen der jungen Generation auf Arbeitsplätze und Zukunftsperspektive viel zu gering. Darum ist die Solidarität mit den Opfern so wichtig, denn sie erinnert an den Kampf um die Wahrheit und die Freiheit.
Das heutige Gedenken mahnt uns, beieinander zu stehen und alles daran zu setzen, das nicht hinnehmbare Ost-West-Gefälle zu überwinden.
"Mit Tränen säen und mit Jubel ernten" - das ist die Sehnsucht unserer Gebete.

Wir haben sie von denen empfangen , die vor uns waren. Ach, dass wir sie doch als eine zukunftsfrohe Gemeinde an die kommende Generation weiterreichen! Der Schatz dieser Glaubensquelle darf nicht verloren gehen.

So schwingt sich der Glaube auf, mit dem großen Gottesziel vor Augen die kleinen Schritte zu gehen, die die Hoffnung lenkt.

Amen