Predigt im Gottesdienst "Mein Psalm"
18. Juni 2003, Ev. Kirche am Hohenzollernplatz
I.
Warum sollte gerade der 127. Psalm mein Psalm sein? Warum unter den einhundertundfünfzig Psalmen des Psalters gerade dieser?
Die Antwort ist so einfach wie schlicht. Wer Bischof ist, predigt über keinen Psalm mehr als über diesen. Wenn eine Kirche errichtet oder wiederhergestellt wird, wenn ein Kirchenjubiläum zu feiern ist, wenn ein Haus gebaut und eingeweiht wird, kann man oft diese Worte des Psalmisten hören: „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst“. Zwar werden in unseren kärger gewordenen Zeiten auch die Einweihungen von Kirchen oder Gemeindehäusern seltener. Aber es kommt doch immer wieder vor; und dann ist häufig der 127. Psalm dabei. Wie oft ich selbst über diese Worte gepredigt habe, weiß ich nicht. Aber seien Sie unbesorgt: Ich habe keine dieser Predigten hervorgeholt.
Psalmen haftet etwas Urtümliches an. Gerade deshalb sprechen sie über die Jahrtausende zu uns. Aber das Interesse an einem festen Haus oder gar einer ganzen Stadt steht keineswegs am Anfang der Menschheitsgeschichte. Die erste Stadt, von der die Bibel berichtet, wurde ausgerechnet von Kain gegründet, dem Brudermörder. Das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Ob die Ansiedlung in Häusern und Städten die Menschen unbedingt friedlicher macht, kann man bezweifeln.
Am Anfang der Menschheitsgeschichte jedenfalls steht nicht die Sesshaftigkeit, sondern die Mobilität. Die Menschen waren Nomaden, bevor sie sich in Dörfern und Städten niederließen. Sie zogen umher und hatten allenfalls Zelte, bevor sie sich feste Unterkünfte errichteten. Häuser zu bauen oder gar Städte zu errichten, war zunächst ungewohnt; und es war in jedem Fall ein Abenteuer. Es ist nur zu verständlich, dass der Psalm für dieses Abenteuer Gottes Hilfe in Anspruch nimmt. Alltägliche Verrichtungen mag man auch einmal ohne Gottes Hilfe riskieren. Aber ein Haus bauen, eine Stadt errichten: so etwas Wagemutiges unternimmt man, wenn überhaupt, nur mit Gottes Hilfe.
Aber wie ist es denn mit Gott selbst? Braucht er eine feste Unterkunft? Verlangt er ein Haus aus Stein? Will er gar in einer Stadt zu Hause sein? Bezieht sich die vom Psalm angenommene Bereitschaft, dass Gott selbst mitbaut, gar auf Häuser, die ihm geweiht sind – wie das Gotteshaus, in dem wir uns gerade befinden?
Ein erstaunliches Wort – dieses Wort „Gotteshaus“. Schutz vor Wind und Wetter braucht Gott nicht, ein Schlafstatt auch nicht; ein Kissen, auf dem er sein müdes Haupt bettet, ist völlig unnötig. Und Jesus, den wir als Gottessohn bekennen und der sich „Menschensohn“ nannte, hat diesen Verzicht auf ein festes Haus ausdrücklich zum Programm erhoben: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt. 8, 20). Aber auch die erste Unterkunft Gottes, von der die Bibel überhaupt berichtet, ist kein Haus. Sie ist ein Zelt, leicht auf- und abzubauen, ein Heiligtum für die Wanderschaft. Man muss sich diese Bescheidenheit Gottes vergegenwärtigen, um zu verstehen, dass dieser so häufig gebrauchte und missbrauchte Psalm überhaupt nichts Selbstverständliches an sich hat. Gott jedenfalls braucht kein Haus, von einer Stadt ganz zu schweigen.
II.
Im Buch Exodus, dem 2. Buch Mose, wird von der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei berichtet. Der Weg durch die Wüste wird geschildert, auf dem die religiöse und politische Ordnung Gestalt annahm, die sich dann nach dem Einzug in das Land Kanaan bewähren sollte. Diese Zeit in der Geschichte des Volkes Israel war es, in der Mose die „Stiftshütte“ errichtete, ein zeltartiges Gebäude, einen Ort der Begegnung mit Gott und seinem Wort.
Dem waren dramatische Ereignisse vorausgegangen. Am Berg Sinai werden Mose die zehn Gebote offenbart. Für das ungeduldige Volk braucht er dafür zu lang. Während seiner Abwesenheit drängt das Volk auf ein Unterpfand für die Gegenwart Gottes. Man zwingt Aaron, den Bruder des Mose, dazu, in die Erschaffung eines Götterbilds einzuwilligen. Aus den Ohrringen des Volks wird das goldene Kalb gegossen. Dieses Kalb beten sie an und rufen: „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat“ (2. Mose 32, 4). Dramatisch sind die Folgen dieses Abfalls, dramatisch ist der Neubeginn. In Buße muss das Volk vor Gott treten, ohne allen Schmuck. Das ist der Augenblick für das „heilige Zelt“, für die Stiftshütte. Draußen, vor dem Lager, wird das Zelt aufgerichtet. Und Gott zeigt sich, indem er sich verbirgt. In einer Wolkensäule kommt er zu den Menschen. Von dem unnahbaren Gott wird gesagt, dass er in der Wolkensäule mit Mose redet, „wie ein Freund mit einem Freunde redet“. Das rührt mich an; ja, es kann eine große Sehnsucht wecken. So nah kann Gott kommen; wie ein Freund mit einem Freunde kann er mit dir sprechen. Doch der Wunsch des Mose, Gottes Herrlichkeit ganz unmittelbar zu sehen, wird abgewehrt.
Die Enttäuschung über sein Volk hatte die Gottessehnsucht des Mose noch stärker gemacht. Er sucht nach einem unzweideutigen Halt; deshalb die Bitte: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Gib mir einen festen Punkt; und ich bewege die Erde. Seine Bitte wird zugleich überboten und zurückgewiesen. Der Blick in Gottes Angesicht wird verweigert; aber seine Barmherzigkeit wird überwältigend zugesagt. Ganz dicht beieinander begegnen hier Gottes unbedingte Barmherzigkeit und seine vernichtende Kraft: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ So stellt Gott sich selbst vor, in einer bedingungslosen Erklärung seiner Güte. Aber zugleich warnt er vor der Nähe seiner Herrlichkeit, seiner Kraft, seines Glanzes. Das Gewicht der Nähe Gottes kann kein Mensch ertragen. Gottes Herrlichkeit wirkt vernichtend auf die Menschen; nur seine Gnade lässt sich anschauen. Deshalb bekennt sich die christliche Gemeinde dazu, dass Gottes Herrlichkeit in Jesus Christus als Gnade begegnet; nur dadurch können wir vor ihr bestehen. Im Johannesevangelium heißt es dazu: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1, 14).
III.
Der Konflikt zwischen dem selbst gemachten Bild und der Herrlichkeit Gottes bestimmt diese Geschichte aus früher Zeit. Das selbst verfertigte Gottesbild erweist sich als Ausdruck menschlicher Anmaßung; der Glanz Gottes in seiner Unnahbarkeit droht den Menschen zu vernichten. Dazwischen tritt jedoch Gottes Bereitschaft, von sich aus Raum zur Begegnung mit den Menschen zu schaffen. Nicht auf einen Ort lässt er sich dabei festlegen; denn er ist mit den Menschen unterwegs, er wandert mit seinem Volk. Überall kann es zu überraschenden Gottesbegegnungen kommen. Wer einen Ort haben will, an dem Gott sich finden lässt, ist gut beraten, ein Zelt zu wählen, einen Raum, das mitwandert.
IV.
Aber die Vorstellung, es müsse immer ein festes Haus sein, wird uns durch diese anfängliche Beheimatung Gottes gründlich ausgetrieben. Die frühen Christen haben sich daran erinnert. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, sagten sie. Wenn sie sich irgendwo niederließen, bezeichneten sie sich bestenfalls als Fremdlinge, Beisassen, zeitweilige Gäste. Der Name der „Pfarrei“ und des „Pfarrers“ geht übrigens auf diesen Sprachgebrauch und diese Betrachtungsweise zurück.
Zu allen Zeiten haben Christen gewusst, dass die Sehnsucht nach dem festen Haus und der ummauerten Stadt gefährlich ist. Hans Graf Lehndorff hat das Gegenbild eindrucksvoll in Verse gefasst: „Komm in unsre laute Stadt, / Herr, mit deines Schweigens Mitte, / dass, wer keinen Mut mehr hat, / sich von dir die Kraft erbitte / für den Weg durch Lärm und Streit / hin zu deiner Ewigkeit. // Komm in unser festes Haus, / der du nackt und ungeborgen. / Mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen; / denn wer sicher wohnt, vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.“
Ich gebe es zu: Ich liebe mein Haus, ich lebe gern in unserer Stadt. Aber die Freude daran, dass Gott an meinem Haus baut, die Dankbarkeit dafür, dass er unsere Stadt behütet: beides muss etwas tiefer ansetzen. Erst wenn wir uns wieder daran erinnern, dass Menschen auf der Wanderschaft waren, bevor sie sich niederließen, rückt unsere Sesshaftigkeit ins rechte Licht. Erst wenn wir bekennen, dass die Kirche ein wanderndes Gottesvolk ist, können wir uns auch – unter Vorbehalt – an den Gebäuden freuen, in denen sie sich so häuslich einrichtet. Erst wenn wir einsehen, warum Jesus, der Bürge Gottes, darauf verzichtete, ein Haus, ein Dach über dem Kopf, ja sogar einen Platz zu haben, an dem er sein müdes Haupt bettete, fangen wir an zu ahnen, worin die umwerfende Radikalität des christlichen Glaubens besteht. Erst wenn wir den Gott preisen, dessen Haus sich auf die Wanderung durch die Wüste mitnehmen ließ, hören wir auf, unsere Häuser und Städte zu Götzen zu machen.
Das hat der Psalmist geahnt. Wenn Gott an unserem Haus mitbaut, können wir unseren Besitz nicht zum Götzen machen. Wenn Gott die Stadt bewacht, kann sie nicht mehr vom Mammon regiert werden. Man braucht ihn, den schnöden Mammon, aber ihm kommt nicht die Herrschaft zu. „Du kannst nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon.“ Das Ende des Götzendienstes, den wir mit unseren Häusern und Städten treiben, das ist für mich der tiefste Sinn unseres Psalms.
Dazu gehört auch das Ende der Vergötzung von Sicherheit „Wenn der Herr nicht die Stadt schützt, so wacht der Wächter umsonst.“ So sagt es der Psalm. Martin Luther hat zu unserem Psalm gesagt: Gott „behütet die Stadt, er geht nicht hinweg, wenn das Haus gebaut ist, wie ein Architekt, sondern er hat es gemacht und bleibt dabei.“ Im Vertrauen auf Gottes Dabeibleiben können wir uns leichter damit abfinden, dass unsere eigenen Bemühungen um die Standfestigkeit des Hauses und die Sicherheit der Stadt höchst vorläufig und zerbrechlich sind. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Deshalb genügt es, wenn wir das uns Mögliche tun und über all das uns Mögliche hinaus unser Vertrauen auf Gott setzen. Um noch einmal Luthers wunderbare Auslegung dieses Psalms zu zitieren: „Du sollst wissen, dass du nur ein Werkzeug bist, ein anderer aber der oberste Politiker, Rat und Hausherr ist, nämlich der Herr.“ Wenn wir dagegen die von uns selbst produzierte Sicherheit zum Götzen machen, dann verschwindet der Mensch. Er erstarrt zur Salzsäule, wie wir das vorhin erlebt haben.
Auch wenn wir nicht mehr in Zelten leben, sondern in festen Häusern, tut es uns gut, wenn wir uns daran erinnern, dass wir unterwegs sind. Unterwegs sind wir, wie Frère Roger Schutz, der Prior von Taizé, einmal gesagt hat, von einem Provisorium zum andern. Unterwegs sind wir von einer Generation zur andern. Am Aufwachsen einer neuen Generation Freude zu haben, ist wichtiger, als sich in einer Ideologie von absoluter Sicherheit zu verschanzen. „Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn“. Dieser Ton froher und dankbarer Bejahung des Lebens ist die Alternative zum Götzendienst vermeintlicher Sicherheit. Mit Gott mitzugehen in diesem Ja zum Leben – dazu lädt der Psalm ein. Deshalb sage ich gern zu ihm: „Mein Psalm“. Er ist mir immer voraus. Amen.