Weihnachtspredigt

Manfred Sorg

Neustädter Marienkirche zu Bielefeld

- Es gilt das gesprochene Wort! -

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn und Heiland Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Wir haben als Lesung die Weihnachtsgeschichte gehört. Ihre Gestalten und Bilder stehen uns vor Augen. Eine vertraute Geschichte ist das. Vielleicht ist sie so vertraut, dass die meisten Menschen sie als reine Poesie verstehen, als etwas sprachlich Schönes und auch Behaltbares, als etwas Romantisches, als Anstoß zum Erinnern empfinden an eigene Kindertage, an erfüllte Stunden und verdichtete Erfahrungen, als Einladung zu Ferien vom Ich, aber letztlich als etwas Unwirkliches, etwas Vergangenes.

Diese unsere möglichen Reaktionen werden aber dieser Weihnachtsgeschichte nicht gerecht. Diese Geschichte ist nämlich eine aktuelle, eine bedeutsame, ja eine durch und durch notwendige Geschichte; eine Geschichte voller menschlicher und welthafter Wirklichkeit.

Ich lade Sie deshalb ein, noch einmal auf diese Geschichte zu hören, übertragen in unsere Gegenwart und Wirklichkeit.

I

Es begab sich aber zu der Zeit,

· als Terroristen ihre Flugzeuge in das World Trade Center in New York rasen ließen und Tausende Menschen mit in den Tod rissen;
· als die amerikanische und englische Regierung den Irak mit Krieg überzogen, um die Achse des Bösen zu zerstören und mit tödlichen Mitteln den Frieden zu erzwingen;
· als der Diktator Sadam Hussein nach monatelanger Suchaktion gefasst wurde;
· zu der gleichen Zeit, als die scheinbar ausweglose Gewaltspirale im Israel-Palästina-Konflikt Entsetzen auslöste;
· zu der gleichen Zeit, als die Regierungen in Bund und Ländern der bedrückenden Arbeitslosigkeit den vorerst theoretischen Kampf ansagten;
· zu der gleichen Zeit, als die Armut der Menschen in manchen Gebieten dieser Erde unmenschliche Formen annahm;
· zu der gleichen Zeit, in der Flüchtlinge und Verfolgte von Angst vor der Abschiebung in Ungewissheit und Lebensbedrohung erfüllt waren;
· zu der gleichen Zeit, in der die Perspektiven und die soziale Sicherheit der jungen und älteren Generation aus dem Lot zu geraten schienen;

zu dieser Zeit begab es sich, dass Gott auf dieser Erde und in dieser Gesellschaft immer noch so viel Platz fand wie damals in dem engen Stall in Bethlehem. Obwohl die Sehnsucht der Menschen nach etwas Höherem nicht verloren gegangen war, wurde Gott an Stellen verortet und in Zusammenhänge verwiesen, die nicht zu den Schaltzentren dieser Welt gehören, auch nicht zu den Bereichen, in denen menschliches Leben sich abspielt. Denn es war alles von den Menschen genau geplant und verplant:
nach strengen wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Modellen und Gesichtspunkten, nach selbstentwickelten Kriterien. So war in dieser Welt für die Liebe, die nicht den eigenen Vorteil sucht, wenig Platz und damit auch für das Mitleid und die Menschlichkeit.

Denn wo Gott nur wenig Platz hat, da hört auch die Menschlichkeit auf, weil sie nicht mehr atmen kann. Da bedrängen sich die Menschen, da schieben sie sich aus dem Weg oder übersehen sich.

Mitten in dieser Welt aber redete Gott weiter und sprach zu den Menschen durch mancherlei Boten: Fürchtet euch nicht! Ihr sollt atmen können und andere auch atmen lassen, weil ich euch atmen und leben lasse.
Ich liebe die armen Kontinente und auch die reichen,

- die Ausgebeuteten, aber auch die Ausbeute,
- die Unterdrückten, aber auch die Unterdrücker,
- die Hirten, aber auch den Herodes,
- die Kulis, aber auch die Herrschenden.

Aber Gottes Liebe ist eine Frage an uns alle: Wollen wir ihr in unserer Welt Platz geben? Wollen wir Gott Raum geben in unserer Herberge - in der räumlichen und geistigen?

Die Menschen, so scheint die Weihnachtsgeschichte heute weiterzugehen, sprachen zueinander: Lasst uns nicht nach Bethlehem gehen. Was wird dort schon Wichtiges zu finden sein? Sollen wir unsere Macht und unseren Einfluss, unsere Stellung und unser Ansehen, unsere Sicherheit und unseren Besitz, unsere Menschen- und Weltbilder aufgeben und verlassen für ein Phantom von Liebe und Gott?

Und so blieben manche auf dem freien Feld, jeder bei seinem Besitz:

- die Reichen bei ihrem Geld,
- die Mächtigen bei ihrem Einfluss,
- die Armen und Unterdrückten bei ihrer Enttäuschung und bei ihrem Hass,
- die Jungen bei ihrer Hoffnungslosigkeit,
- die Flüchtlinge bei ihrer unbändigen Lebensangst.

Aber trotzdem leuchtet der Stern von Bethlehem, steht er als Stern der Hoffnung über dieser Welt. Er zeigt an, dass Gott in diesem unauffälligen Stall sich in eine unerhörte Nähe zu den Menschen begeben hat:

· zu den Ängstlichen, die ohne Lebensmut sich in ihr eigenes Schneckenhaus zurückziehen;
· zu den Hungrigen, denen die Existenzsicherheiten fehlen,
· zu den Ruhelosen, die sich quälen und um das Leben abhetzen;
· zu den Eingesperrten, die im Netz ihrer Ansprüche hängen,
· zu den Machern und Gestaltern,
· zu uns allen.

Gott wartet, dass wir Menschen unsere Augen zu diesem Stern erheben, sein Licht entdecken,
das Licht, das nicht mit menschlichen Glimmversuchen zu verrechnen ist,
das Licht, mit dem sich Gott in diesem Kind für Mensch und Welt lichtet,
das Licht, in dem Gott zum nahen, zum diesseitigen, zu unserem Gott wird,
in dem sich der Himmel für diese Erde öffnet.


II

Wir sollten noch einmal auf die Weihnachtsgeschichte hören, um sie noch ein wenig näher an uns heranzuführen. Denn diese Geschichte meint nicht nur die Welt, sie meint uns auch ganz persönlich.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass in einer ostwestfälischen Stadt wieder eine große Menschenmenge in den Kirchen zusammenströmte, um Weihnachten im festlichen Lichterglanz und bei vertrauter Musik zu begehen. Und die Küster schätzten ihre Zahl, und die Zahl war wieder sehr hoch. Denn fast jedermann ging, dass er sich schätzen ließe;
der eine seine fromme Gesinnung,
der andere seine Stimmung,
vielleicht aber auch seine Sehnsüchte und Hoffnungen, seine Resignation und Ängste.

Und sie waren ganz mit ihrem Feiern, mit ihren Stimmungen und Sehnsüchten, ganz mit sich beschäftigt. Aber weil Gott auf dieser Erde sich trotz allem einen Raum schaffen will, auch heute, so wurde das Kind in der Krippe überblendet von dem redenden, handelnden, leidenden, gestorbenen und auferstandenen Jesus.

Und es lebten Menschen in dieser ostwestfälischen Stadt:

- Einsame,
- vom Schicksal Geschlagene,
- Gestrauchelte,
- Verachtete
- Verzweifelte
- Traurige.

Ihnen galt die Weihnachtsbotschaft: Euch ist heute der Heiland geboren. Euch zuerst! Er kommt zuerst zu euch und zu den Menschen, die im Schatten leben. Denn die Gesunden und Erfolgreichen verstehen oft nicht, dass die Welt ihn braucht, dass sie Gottes Liebe und Barmherzigkeit nötig hat. Sie sind oft blind von ihrer Tüchtigkeit und taub von ihrem Erfolg. Gehet hin nach Bethlehem und findet dort die göttliche Barmherzigkeit:
Und es waren Menschen in den Weihnachtsgottesdiensten, die gingen nach Hause und sagten: Es war wieder eine stimmungsvolle Feier. Für sie blieb alles beim Alten.

Es waren aber andere da. Die spürten, dass sie und eigentlich alle Menschen nichts nötiger im Leben brauchen als die Liebe Gottes. Als ihnen das aufging, wurden ihre Augen aufgetan. Und sie entdeckten Menschen, die um sie herum im Schatten lebten. Und sie entdeckten weiter, dass es nicht nur die Armen sind, die im Schatten leben. Dass dieses Im-Schatten-Leben nicht eine Frage des Kontos ist, sondern der Liebe und der Aufmerksamkeit.

Für den einen tauchte aus dem Dunkel das lang ersehnte oder übersehene Gesicht seines Lebenspartners auf; für den anderen seine heranwachsenden Kinder, die ihm entwachsen und fremd geworden sind. Ehemalige Freunde und Bekannte, Nachbarn, Kollegen und Konkurrenten tauchten auf.
Und sie nahmen sich vor, wieder Zeit füreinander zu haben, sich nicht immer nur selbst zu sehen und zu umkreisen. Begegnungen, Gemeinschaften und Gespräche wurden wichtig, Visionen und neue Maßstäbe. So begann das Weihnachtsfest für sie: Sie gingen nach Bethlehem und fanden in der Unscheinbarkeit das göttliche Kind. Und begannen, für dieses Kind und den erwachsenen Sohn Gottes ihr Leben und die Erde zu öffnen. Amen.

Der Friede Gottes, der größer ist als unser Denken erfassen kann, der komme über euch jetzt und immerdar. Amen.