Aufstand für ein besseres Deutschland - Überlegungen bei der 60. Wiederkehr von Stauffenbergs Attentat am 20. Juli 1944

Bischof em. Dr. Löwe

Darmstadt

Vortrag beim Kreisverband der CDU

1. Haben wir heute das bessere Deutschland?

Die Frage mag verständnisloses Achselzucken auslösen. Kaum einer wird die Provokation annehmen. Und doch wiederhole ich sie, weil sie uns zur Klärung helfen kann: Haben wir heute das bessere Deutschland, für das die Männer des 20. Juli ihr Leben einsetzten?

Die Antwort scheint einfach zu sein wie eine auf Kinderfragen. Aber ja doch, das ist doch evident, wir sonnen uns im Glück eines besseren Deutschland. Es gibt keine Konzentrationslager und keinen Staatsterrorismus. Anstelle der Ausrottung fremder Völker haben wir ein passables Ausländergesetz. Der Rechtsstaat bietet den Bürgerinnen und Bürgern Schutz, auch vor der Willkür staatlicher Organe. Freie Meinungsäußerung ist selbstverständlich, die Medien unterliegen keiner Zensur. Eine weltanschauliche Indoktrination der Jugend findet nicht statt. Missliebige Bücher werden nicht verbrannt. Vor allem: Wir leben mit unseren Nachbarn in Frieden, Angriffskriege sind von der Verfassung ausdrücklich untersagt...!

Die Liste des „besseren Deutschland“ ist noch viel länger. Was ich genannt habe, sind nur einige wichtige, aber fast beliebige Beispiele.

Kinderfragen freilich haben es in sich und lassen sich mit einer Fülle von Richtigkeiten nicht schon beantworten. Deshalb spitze ich die Frage noch einmal konkret zu und möchte wissen: Können die Verschworenen des 20. Juli, Militärs und Zivilisten aus dem vielfältigen Widerstand, in unserem besseren Deutschland das Deutschland erkennen, für das sie gestorben sind? Vielleicht werden jetzt doch einige Zweifel wach. Es wäre zu billig, unsere Verhältnisse als Einlösung der Vorstellungen der Männer des 20. Juli – Frauen spielten ihre Rollen fast nur im Hintergrund, dort aber kräftig und bewundernswert – auszugeben.

Am 29. Juni strahlte das ZDF einen Film über den Widerstand aus. Wie das heute so üblich ist, eine nicht ungeschickte Montage aus Photographien, szenischer Darstellung, Einblendungen von alt gewordenen Zeitzeugen. Vieles war nicht schlecht gemacht. Aber das Ganze hinterließ nicht nur bei mir einen faden Geschmack. Für das Charisma eines Claus von Stauffenberg, den Charakter von Henning von Tresckow haben Filmemacher unserer Tage offenbar keine Antenne. Also bleiben die Figuren langweilig. Selbstlos dem Land zu dienen, Gottes Gebot ernster nehmen als die eigene Karriere, die Bereitschaft, für eine große Sache das Leben dranzugeben, Erschrecken vor dem Gericht Gottes, das teuflischer Handlungen wegen ein ganzes Volk treffen kann, am Ende nicht einmal mehr nach dem Erfolg fragen, vielmehr alles wagen im Bewusstsein, es könne doch kaum gelingen – das gibt es nicht mehr unter uns, oder vorsichtiger: die dazu in der Lage wären, kennen wir nicht. Es ist auf jeden Fall denen, die für die tägliche Unterhaltung sorgen und dafür auch die Geschichte aufbereiten, unerreichbar fern geworden, eine fremde Welt. Ich sage das nicht als Vorwurf, ich stelle nur fest. Denn Menschen, die für ihr Tun und Unterlassen mehr als nur sogenannte „Werte“ ins Feld führen, die sich vielmehr fragen, wie sie in Gottes Gericht Antwort geben können, kennt man ja kaum noch in den Kirchen, kann mal also noch weniger beim Personal von Politik, Wirtschaft, Militär erwarten. Die Eigeninteressen überlagern das Gemeinwohl. Vom Vaterland spricht man am Sonntag – vielleicht, auch das ist nicht sicher – schön klingende Worte, in der Woche ist es ein Spielball von Interessen oder gar vergessen.

Ich klage niemanden an. Ich sage lediglich: So ist das bei uns. Damit niemand den 20. Juli für sich vereinnahmt, als seien die Ziele, die er sich setzte, im Deutschland von heute eingelöst oder wenigstens ein Gesprächsthema. Die Männer des 20. Juli waren für das Deutschland ihrer Zeit fremde, einsame Gestalten und sind es ebenso für uns heute. Darin besteht dann auch eine Chance: daß wir von etwas Fremdem angerührt werden, einen Mangel entdecken in unseren Üblichkeiten, begreifen, was uns fehlt.

2. Warum das „schlechte“ Deutschland so lange ertragen worden ist

Als vor dem 30. Januar 1933 Hindenburg sich mit dem Gedanken trug, das Amt des Kanzlers Adolf Hitler anzutragen, hat General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord dem Reichspräsidenten die Bedenken der Heeresleitung vorgetragen und, als das sich als zwecklos herausstellte, noch im Herbst desselben Jahres seinen Abschied genommen. In Verhältnissen, die sich zu totalitären entwickeln, ist ein erfolgreicher Widerstand am Anfang nötig, am Ende kommt er immer zu spät.

Es bleibt für die Nachgeborenen unbegreiflich, daß die Eliten des Landes, die bis Mitte Oktober 1933 26.000 Polizeigefangenen einfach hinnahmen, und sich über die Einrichtung von Konzentrationslagern kaum aufregten. Das Militär sah während der Morde der Röhm-Affäre – das war 1934 – seine Hauptaufgabe darin, selber die einzige bewaffnete Streitkraft zu bleiben, und nannte nicht die Lynchjustiz beim Namen. Der Eid auf den Führer, in der deutschen Militärgeschichte eine Übung ohne Vorbild, die vielen Verschwörern später solche Gewissensqualen bereitete, wurde vom Kriegsminister, der ein General war, verfügt, nicht von Hitler. Auf die infame und verlogen inszenierte Bloßstellung des Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, brachte die Generalität keinen Protest zustande. Alle, oder doch die tonangebende Mehrheit, hatten die eigene Karriere im Blick und zusammen mit ihr die Rehabilitierung des Militärs nach dem Desaster des ersten Weltkriegs.

Ähnliche Rücksichten und Entschuldigungen sind uns aus eigenem Erleben vertraut. Das kennen wir. Die Akteure in der Zeit von Weimar und danach taktierten und finassierten, wie das der Brauch ist seit eh und je bis heute. Aber der Preis war hoch. Eine um die andere Freiheit wurde abgeschafft. Als das Militär nicht aus Selbstachtung handelte, verachtete es Hitler um so mehr und sah sich nicht gehindert, sein verbrecherisches Regime weiter auszubauen. Einmal schien es, der „Führer“, wie er jetzt hieß, sei zu weit gegangen. Als er 1938 seine Kriegsabsichten offenbarte, Versailles und die Landkarte Europas durch einen großen Krieg revidieren wollte, ging das einem Mann wie General Beck mit seinen „strengen Auffassungen“, seiner Klarheit und Unbestechlichkeit (1) zu weit. Das Militär will jetzt Hitler in den Arm fallen. Aber als die Termine sich ändern, der Führer im Zenit seiner Erfolge steht, verlässt die Verschwörer immer wieder die Courage. So wird es bleiben. Einer resümmiert: „Mitunter drängt sich doch der Eindruck auf, die Mehrzahl der Verschwörer habe das Abwarten geradezu zur heimlichen Strategie des Widerstandes gemacht, und in aller Erleichterung über den geretteten Frieden spiele auch die andere Erleichterung über die unversehens losgewordene Qual zum Handeln hinein.“ (2)

Es gab Ausnahmen. Der Oberstleutnant und spätere Generalmajor Hans Oster blieb unbeirrbar in seiner Überzeugung, Hitler müsse beseitigt werden. Aber die erste Reihe der Generale, Fedor von Bock, Hans Günther von Kluge, Erich von Manstein, Friedrich Fromm, Erwin Rommel, entzog sich solchen Notwendigkeiten vollständig oder schwankte und zog sich zurück auf das bloß militärische Handwerk, wollte unpolitisch sein, nachdem Hitler die politische Mitverantwortung der Wehrmacht in den Fragen von Krieg und Frieden abgeschafft hatte.

Mir ist nicht begreiflich, daß die Maxime vom „Primat der Politik“ auch heute in der Bundeswehr fraglos gilt. Bezieht sie sich auf das Verbot, daß sich Militärs in innenpolitische Auseinandersetzungen einmischen, überholte staatliche Ordnungen stabilisieren, nicht mehr gerechtfertigte Privilegien absichern, dann ist sie berechtigt. Aber längst ist sie – vonseiten der Regierenden – zum Vorwand geworden, den Sachverstand der Militärs von politischen Entscheidungen auszuschließen, oder – auf der Seite der Soldaten – sich über die Gründe zum militärischen Handeln politisch nicht Rechenschaft geben zu müssen. Der Bürger in Uniform darf aber seinen militärischen Sachverstand nicht der politischen Meinungsbildung vorenthalten. Niemals ist er nur technokratischer Vollstrecker politischer Entschlüsse. Gibt man den Soldaten ihren Anteil an der „Politik“ zurück, so führt das nicht, wie manche befürchten, zu einer Militarisierung der Politik, sondern ganz im Gegenteil zu größerer Vorsicht beim Einsatz militärischer Mittel. Denen, die viel, vielleicht am meisten von den Gefahren und den Grenzen militärischer Machtmittel verstehen, darf nicht die politische Mitsprache untersagt sein. Wie sie praktisch gestaltet wird, damit es nicht zum Gegeneinander von ziviler und militärischer Verantwortung bei politischen Entscheidungen kommt, darüber wird freilich zu reden sein.

3. Wie es zum Widerstand kommt. Motive der Attentäter

Der Hauptmann Axel von dem Bussche war im Oktober 1942  24 Jahre jung. Der Aufstieg des 3. Reiches hatte ihn in den Bann geschlagen. Er war begeistert, wie ein gedemütigtes Volk wieder zu sich selber fand. Als er aber Anfang Oktober auf dem Flugplatz von Dubno in der Ukraine Zeuge einer Massenexekution von einigen Tausend Juden geworden war, kehrte er um. Nur drei Wege sah er, wollte ein Offizier seine Ehre erhalten: „Fallen, Fahnenflucht oder Rebellion.“ So war er bereit, sein Leben zu opfern und sich anlässlich der Vorführung von neuen Uniformen mit Hitler in die Luft zu sprengen. Aber der Termin wurde immer wieder verschoben.

Als sich eine zweite Chance bot, von dem Bussche an der Front verwundet war und deshalb ausschied, trat Stauffenberg an den Leutnant Ewald Heinrich von Kleist heran. Der fragte seinen Vater, der von Anfang an dem Ungeist Hitlers widerstanden und in England für den Widerstand geworben hatte, - mir verschlägt es den Atem, wenn ich mir die Szene vorstelle, wie der Vater ans Fenster tritt und nach kurzem Nachdenken antwortet: „Ja, das musst du tun. Wer in einem solchen Moment versagt, wird nie wieder froh in seinem Leben.“

Es waren die Verbrechen schon beim Polenfeldzug, der Kommissarbefehl beim Russlandfeldzug, der Kampf Hitlers gegen die Kirchen, die schließlich den Widerstand mobilisierten. Ob es die von Helmuth James Graf von Moltke zusammengebrachte Gruppe war, die Widerständler um den früheren Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, die Angehörigen der „Weißen Rose“, die militärischen Verschwörer um Henning von Tresckow und Claus von Stauffenberg – alle sind sich einig im kompromisslosen Protest gegen die nationalsozialistischen Staatsverbrechen, insbesondere die Judenmorde. (3)

Es waren nicht eigentlich politische Ziele oder gemeinsame Zukunftsprogramme, es war auch nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht – obwohl die alten Eliten einen beachtlichen Anteil stellen - , die den Widerstand zusammenführen und zusammenhalten: Es ist in der Situation höchster Verkehrung von Recht und Gerechtigkeit die Parteinahme für Recht und Gerechtigkeit, in den lapidaren Worten Hans Osters an seinen Sohn: „bis zum letzten Atemzug der anständige Kerl zu bleiben, wie wir es in der Kinderstube“ (- Oster kam aus einem sächsischen Pfarrhaus -)“ und in der Soldatenzucht gelernt haben.“ (4)

Für viele Männer des Widerstandes war dabei der christliche Glaube Antrieb und Halt. Nicht wenige entdeckten neu die Kraft des Christentums. Moltke schreibt im April 1942 von Schweden aus an seinen Freund Lionel Curtis: „... Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich in Gesprächen vor dem Kriege der Meinung war, daß der Glaube an Gott nicht wesentlich sei, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Heute weiß ich, daß ich unrecht hatte, ganz und gar unrecht. Sie wissen, daß ich die Nazis vom ersten Tage an bekämpft habe, aber der Grad von Gefährdung und Opferbereitschaft, der heute von uns verlangt wird und vielleicht morgen von uns verlangt werden wird, setzt mehr als gute ethische Prinzipien voraus, besonders da wir wissen, daß der Erfolg unseres Kampfes wahrscheinlich den totalen Zusammenbruch unserer nationalen Einheit bedeuten wird. Aber wir sind bereit, dem ins Gesicht zu sehen...“ (5) Dabei macht sich Moltke über die Situation des Christentums in seiner Gegenwart keine Illusionen, wenn er schreibt: „Ja, das Christentum ist heute bankrott. Aber nicht widerlegt. Das Christentum ist verschiedentlich bankrott gewesen. Wenn es  bankrott macht, beginnt es von vorne; darin liegt seine Kraft.“(6)

Henning von Tresckow, erschrocken über die Erlasse Hitlers zur Kriegsgerichtsbarkeit im Osten und den Kommissarbefehl, versucht seinen Oberbefehlshaber zu drängen, unverzüglich bei Hitler zu protestieren, weil sonst „dem deutschen Volk eine Schuld aufgeladen wird, die die Welt uns in Hunderten von Jahren nicht vergessen wird. Diese Schuld“ – sagt er zu von Gersdorff – „betrifft nicht nur Hitler, Himmler, Göring und Genossen, sondern ebenso Sie und mich, Ihre Frau und meine Frau, Ihre Kinder und meine Kinder...“ (7)

Es war eine fatale Fehleinschätzung vor allem der englischen Regierung, den deutschen Widerstand in seiner moralischen Substanz zu verkennen und ihm zu unterstellen, letztlich die Ziele Hitlers zu teilen und nur auf andere Weise erreichen zu wollen. Hitler war für sie nicht nur der „Verderber des eigenen Landes“, sondern auch „der Urgrund des Übels.“ (8)

4. Vorstellungen im Widerstand für die Zeit nach Hitler. Das bessere Deutschland

Bedeutsamer als Pläne für die Zukunft war im Widerstand die Entschiedenheit, Deutschland und die Welt von einem üblen Tyrannen, einer Inkarnation des Bösen, zu befreien. Die Einmütigkeit in diesem Ziel ließ für die Gestaltung eines Deutschland nach Hitler unterschiedliche Konzepte zu. Vieles auch war dem Wandel unterworfen, die oft wenig konkreten Überlegungen waren für unterschiedliche Realisierungen offen. Einem Sozialdemokraten wie Julius Leber war die theoretisierende Leidenschaft etwa des Kreisauer Kreises, dem er selber nahestand, nicht geheuer. „Was danach kommt, regelt sich von selbst“, pflegte er zu sagen. (9) Es ist deshalb wenig sachgemäß, vor allem auf die Neuordnungspläne zu blicken und dort, wo sie den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen, grundsätzliche Einwände gegen den deutschen Widerstand zu formulieren. Das ist Beckmesserei ex post, die zum Verständnis nicht beiträgt.

Aber selbstverständlich gab es mehr als nur personelle Überlegungen für die Zeit nach einem geglückten Staatsstreich. Carl Goerdeler hat dazu immer neue Denkschriften verfasst, die Kreisauer haben eine Neuordnung Deutschlands detailliert vorbereitet.

Vor allem der konservativ geprägte Widerstand um General Beck, den einstigen Oberbürgermeister Goerdeler, den preußischen Finanzminister Popitz und den Diplomaten von Hassell neigte zu einer autoritären Verfassung. Anfangs trat diese Gruppe sogar für die Wiederherstellung der Monarchie ein. Der politischen Verhältnisse von Weimar wegen war man demokratieskeptisch und wollte ein schwaches Parlament vor allem mit kontrollierenden und weniger gestaltenden Aufgaben. Aus heutiger Sicht kann man die Affekte gegen den Streit der Parteien „antimodern“ (10) nennen, jedenfalls sofern man nicht nur seine Wucherungen eindämmen wollte, sondern insgesamt einer Utopie konfliktfreier Ordnungen anhing. Das Mehrheitswahlrecht sollte helfen, starke Persönlichkeiten in die wichtigen politischen Ämter zu bringen und bloßen Funktionären der Parteien den Weg zu versperren. Der Typus des Berufspolitikers genoß keine Sympathien. Der Nationalstaat in seiner überkommenen Rolle blieb unbestritten. Goerdeler forderte noch spät für Deutschland eine herausgehobene und zentrale Stellung.

Die Kreisauer dachten in dieser Frage schon anders. Für sie gehörte der überkommene Nationalstaat der Vergangenheit an. Sie können für sich in Anspruch nehmen, Väter des Gedankens eines europäischen Gesamtstaates gewesen zu sein. Allerdings haben ihre Gedanken beim späteren europäischen Einigungswerk keine Rolle gespielt.

Zu den Kreisauern gehörten auch Sozialisten wie Adolf Reichwein, Theodor Haubach und Carlo Mierendorff. Hier waren neben den nationalen auch die bürgerlichen Grenzen weiter gezogen worden. Über Reichwein und Julius Leber gab es sogar Kontakte zum kommunistischen Widerstand, der durchaus nicht immer der verlängerte Arm von Stalin war. Die starken religiösen Impulse, die im Lebensweg von Moltke zu finden sind, zeigen sich in der Einbeziehung katholischer und evangelischer Kirchenvertreter: Katholisch die Jesuiten Rösch und Delp, evangelisch der Mitarbeiter des kirchlichen Außenamtes Gerstenmaier und der später für den letzten Gang vieler Verschwörer so wichtige Gefängnispfarrer Harald Poelchau.

Die Dokumente der Kreisauer verlangen zuerst, daß Deutschland wieder ein Rechtsstaat werden müsse: „Das zertretene Recht muß wieder aufgerichtet und zur Herrschaft über alle Ordnungen des menschlichen Lebens gebracht werden.“ (11) Eine möglichst dezentrale und in überschaubare Einheiten gegliederte Selbstverwaltung soll der Vermassung als Folge des Industriezeitalters entgegenwirken und die Voraussetzungen für eine Demokratie schaffen: „Die politische Willensbildung des Volkes vollzieht sich in einem Rahmen, der für den einzelnen überschaubar bleibt.“ (12) Für das System indirekter Wahlen gab man übriges den Familienoberhäuptern für jedes minderjährige Kind eine zusätzliche Stimme – eine Idee, die heute in einer Zeit des Kindermangels und der Zukunftsvergessenheit von manchen Seiten neu entdeckt wird. Parteien spielten keine Rolle, die Minister sollten „mehr Fachexperten als Politiker sein.“ (13) Die Dezentralisierung war gedacht als Schutzwall gegen eine autoritäre Regierung. Entsprechend dem Grundsatz, daß das „Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes ist“ (14), plädierte man für eine starke Stellung der Kirchen – ob völlig getrennt vom Staat, wofür Moltke wie auch Goerdeler eintraten oder in der überkommenen Verbindung, darüber gingen die Meinungen auseinander. Moltke jedenfalls hatte Kardinal Faulhaber den Ratschlag gegeben, das Konkordat aufzugeben. Die Neuordnung der Länder hätte zur Ablösung der Landeskirchen und zur Schaffung einer evangelischen Kirche geführt. Auch die katholischen Vertreter forderten nicht die Wiederherstellung der Konfessionsschulen, es sollte eine staatliche, christliche Gemeinschaftsschule verbindlich werden. Der Leistungswettbewerb der Wirtschaft sollte im Rahmen staatlicher Wirtschaftslenkung und staatlicher Aufsicht erfolgen. Das übergreifende Interesse, der Vermassung zu wehren und jedem Einzelnen Mitsprache und Mitverantwortung in seinem Lebensbereich zu geben, führte zur Idee der Mitbestimmung, aber auch zur Forderung der Auflösung der Gewerkschaften, die „die Werktätigen als Instrument der Durchsetzung ihrer Interessen nicht mehr benötigen.“ (15) Die Arbeiter sollten am Wertzuwachs ihrer Unternehmen beteiligt werden.

Ich breche das Referat Kreisauer Vorstellungen hier ab. Manches steht in Spannung zueinander, anderes ist nicht ohne romantische Züge, vieles weist nach vorne. Überwiegen die rückwärts- oder die zukunftsgewandten Impulse? Vielleicht soll man kein Fazit ziehen, die Bedingungen, unter denen die Vorschläge gemacht wurden, bedenken, jedenfalls nicht kleinlich zensieren, das anregend Fremde und Uneingelöste ins Zentrum stellen. Ich finde die folgende Charakterisierung von Moltkes Absichten sympathisch: „Er hatte Ansichten, die heute nicht weit verbreitet sind; so glaubte er, das Leben habe einen Sinn, Pflichten seien genauso wichtig wie Rechte, und Freiheit sei so wichtig wie Gleichheit. Er lehnte es ab, die Gesellschaft unter dem Aspekt des Klassenkampfes zu sehen oder dem materiellen Gewinn oder dem technischen Fortschritt Vorrang einzuräumen. Man würde ihn wohl heute noch als unorthodox bezeichnen.“ (16) Doch wo gibt es in führenden Stellungen Leute mit solchen Grundsätzen?

5. Erbe und Vermächtnis

Noch in der Nacht des 20. Juli hat sich Hitler an das deutsche Volk gewandt und die Tat einer „kleinen Clique ehrgeiziger und gewissenloser Offiziere“ zugeschrieben. Zunächst glaubte die Gestapo, mit rund 600 Festnahmen das Nest des Widerstandes ausgehoben zu haben. Bald wurden die Machthaber eines anderen belehrt. Der Zossener Aktenfund belegte, daß der Widerstand bis in das Jahr 1938 zurückreichte. Ab Mitte August kommt es noch einmal zu 5.000 Verhaftungen.

„Ehrgeizig“ in einem weiteren Sinne sind die Verschwörer in der Tat gewesen. Sie gaben sich mit den von ihnen erreichten Stellungen nicht zufrieden. Sie setzten ihre Ehre dafür ein, dem deutschen Volk die ihm von Hitler geraubte ehrenvolle Stellung unter anderen Völkern zurückzugeben. Sie verstanden ihre Privilegien als Auftrag, dem Schicksal nicht seinen Lauf zu lassen, sondern ins Rad der Geschichte zu greifen. Bevor Henning von Tresckow aus dem Leben scheidet, um keinen Namen der Mitverschworenen unter Folter preiszugeben, sagte er: „Jetzt wird die ganz Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, daß wir recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird. Niemand von uns kann über seinen Tod Klage führen. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen  beginnt  dort, wo er bereit ist,  für seine Überzeugung sein Leben  hinzugeben.“ (17)

Joachim Fest hat diese und andere Äußerungen mit einiger Verwunderung kommentiert und den Eindruck festgehalten, daß es diesen Männern des Widerstands „zwar jederzeit um die Rettung des Landes und der Menschen und um ein Ende des unsäglichen Massenmordes ging; aber auch und womöglich mehr noch um das eigene Seelenheil.“ 18 Doch das scheint mir gerade des Bedenkens und der Aneignung wert: das eigene Leben mit einer Aufgabe an anderem so zu verbinden, daß beides zusammenrückt, ja zusammenfällt. Der Ernstfall verlangt Bindungen, die über diese Welt hinausweisen.

Allerdings haben die Länder, mit denen Hitler Kriege angezettelt hatte, die Tat des 20. Juli nicht dem Land gutgeschrieben, über das sie gesiegt hatten. Die Existenz eines „anderen“ Deutschland hat niemand wahrhaben wollen, nicht die Engländer, nicht die Amerikaner, schon gar nicht die Russen. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Den Märtyrer-Theologen Dietrich Bonhoeffer verehrt man in England und Amerika, vom Widerstand, zu dem er gehörte, nimmt man keine Notiz. Die Einsamkeit der Verschwörer ist nur im eigenen Land einer allmählichen Beachtung und Achtung gewichen. Nach anfänglichem Widerspruch hat die Bundeswehr die Männer des 20. Juli in ihre Tradition aufgenommen, um die anderen Möglichkeiten militärischen Handelns neben der Führung von Kriegen deutlich zu machen. In einem totalitären Überwachungsstaat kann nur noch der Soldat handeln.

Der Historiker Gordon A. Craig hat die Verschwörer „Romantiker“ genannt, und ihnen damit eine gewisse Weltferne und Befangenheit in hehren Ideen bescheinigt. Sicher ist es ungewöhnlich, wenn ein Soldat wie Stauffenberg Tage vor dem Attentat immer wieder Stefan Georges Gedicht „Der Widerchrist“ zitiert. Richtig ist auch, daß die Verschwörer, als es endlich soweit war, kaum noch an einen Erfolg ihres Unternehmens glaubten. Aber die schließlich fast nur noch „symbolische Tat“ 19 war etwas anderes als die Suche nach der blauen Blume; das Opfer diente der Selbstreinigung, gerade im Scheitern ist eine Hoffnung verborgen.

So wichtig es zumal in der Politik ist, Erfolg und Misserfolg zu bilanzieren, nicht nur das Gute zu wollen, sondern auch das Gute zu tun, gibt es doch für alles Urteilen eine Grenze, so daß sogar der Misserfolg eine große Tat nicht ins Unrecht setzen kann. Aus Furcht vor dem Scheitern die Hände in den Schoß zu legen und dem Unheil seinen Lauf zu lassen, das wäre ein fauler, ein unchristlicher Fatalismus gewesen.

Seit ich politisch wach geworden bin und an den Dingen des Gemeinwesens Anteil nehme, bin ich dankbar, daß es den 20. Juli 1944 gegeben hat. Er hat mich mit den Schatten des Landes, zu dem ich gehöre, versöhnt. Es ist gut, daß es Menschen gegeben hat, die den Wurf gewagt haben, um nicht Verräter vor ihrem Gewissen zu werden. 20 Sie haben ein Anrecht auf unsere Erinnerung. Sie bleiben Mahnung und Vorbild.

Bischof em. Dr. Hartmut Löwe


Anmerkungen

1.) So charakterisiert Joachim Fest in seinem Buch „Staatsstreich“, 1994, auf S. 87
Ludwig Beck, nennt ihn den Philosophen unter den Generalen, vermerkt aber auch – trotz seiner unbestrittenen Autorität – seinen „Mangel an Härte und Durchsetzungskraft.“
2.) a.a.O., S. 115
3.) Joachim Mehlhausen in : „Zeugen des Widerstands“, 1996, S. 263
4.) Fest, a.a.O., S. 330
5.) Freya von Moltke/Michael Balfour/Julian Frisby/Helmuth James von Moltke
1907-1945. Anwalt der Zukunft, 1975, S. 176
6.) ebd.
7.) Fest, a.a.O., S. 178
8.) a.a.O., S. 193
9.) a.a.O., S. 160
10.)  a.a.O., S. 155
 11.)  Freya von Moltke etc. (vgl. Anm. 5) S. 235
12.) ebd., S. 237
13.) ebd., S. 239
14.) ebd., S. 235
15.) ebd., S. 244
16.) ebd., S. 251
17.) Zitat u.a. bei Fest, a.a.O., S. 291
18.) a.a.O., S. 244
19.) Fest, a.a.O., S. 342
20.) Wenige Tage vor dem 20. Juli hat Claus von Stauffenberg geäußert: „Es ist Zeit, daß jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muß sich bewusst sein, daß er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterläßt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“ Das Zitat findet sich bei Fest, S. 244