Predigt im Gottesdienst zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau (Hebräer 13,7-16)

Wolfgang Huber

Versöhnungskirche Dachau

„Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen die keinen Nutzen haben, die damit umgehen. Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.“         

(Hebräer 13,7-16)


Liebe Gemeinde,

Es wird wieder nach den Maßstäben des Lebens gefragt. Die Suche nach Verbindlichkeiten ist deutlich zu spüren. Vorbilder werden gesucht. Die letzten Wochen haben das deutlich gezeigt. Die Verehrung für den verstorbenen Papst Johannes Paul II. und die hohen Erwartungen an den neuen Papst Benedikt XVI. sprechen eine deutliche Sprache. „Santo Subito“ skandierten die jungen Leute auf Roms Straßen: „sofort heilig“. Eine Sehnsucht wurde spürbar, die sich nicht nur an die katholische Gestalt des christlichen Glaubens knüpft. Gefragt wird danach, was für unser Leben verbindlich ist.

Nicht nur einer ist heilig, so sagt es der Brief an die Hebräer, wir alle sind geheiligt. Geheiligt sind wir nicht durch erhebende Rituale – sei es auf dem Petersplatz in Rom oder anderswo. Geheiligt sind wir dadurch, dass einer an den Ort der Schmach ging, das Leiden auf sich nahm, sich selbst zum Opfer brachte. „Draußen vor dem Tor“ hat Jesus gelitten. Dort wartet er auf uns. „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach teilen.“

Hier in Dachau sind wir „draußen vor dem Tor“. Hier sind wir am Ort der Schmach. Hier erinnern wir uns an Menschen, denen es ging wie Jesus: ausgestoßen und ausgeschlossen, einsam und todgeweiht. Dabei sollte es seit Jesu Tod nie wieder solche Opfer geben. Ein für allemal ist Christus für unsere Schuld gestorben, so bekennt es der christliche Glaube. Ein für allemal ist in ihm der Zwang durchbrochen, Menschen zu Sündenböcken zu machen. Ein für allemal ist es uns untersagt, Menschen zu Opfern unserer Rechthabereien zu machen, sie über die Klinge springen zu lassen, weil sie angeblich der falschen „Rasse“, der falschen politischen Ideologie oder der falschen sexuellen Orientierung angehören. Orte, an denen Juden litten, weil sie nicht zur vermeintlichen „Herrenrasse“ gehörten, Kommunisten, weil sie nicht an „Blut und Boden“ glaubten, Homosexuelle, weil sie dem „Führer“ keine Kinder „schenkten“: das sind Orte, an denen der Tod Jesu für uns in Wahrheit geleugnet und Menschen geopfert wurden, als wäre er selbst nie für uns gestorben – „Holocaust“, Opfer, das vollständig verbrennt, wird das Unvorstellbare genannt.

Hier in Dachau sind wir „draußen vor dem Tor“. Wir erinnern uns an die Menschen, die ungewollt und vielleicht auch unbewusst Jesu Schmach teilten. Die Erinnerung an diejenigen, die hier ihr Leben ließen, lässt Scham in uns aufsteigen über das, was damals geschah. Aber diese Erinnerung hilft uns auch dabei, Maßstäbe für unser eigenes Leben zu finden und unserer eigenen Schwäche zum Trotz an ihnen festzuhalten. Hier am Ort des Grauens wagen wir zu sagen: „Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ Denn es ist eine Gnade, wenn in der Erinnerung an das Grauen jener Zeit die Maßstäbe zurecht gerückt werden, an die wir uns halten wollen. Es ist eine Gnade, wenn unser Herz fest wird, wenn die Glaubenscourage sich in uns ausbreitet, in der wir der Menschenverachtung entgegen treten, welche Form sie unter uns auch immer annehmen mag.

Hier in Dachau denken wir an die Befreiung dieses Lagers vor sechzig Jahren, wie in diesen Wochen die Befreiung all der anderen Lager vor unseren Augen lebendig wurde: Auschwitz und Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück, Treblinka und Sobibor ... Wir erinnern uns derjenigen, die, abgemagert bis auf die Knochen, ihrer Jugend beraubt, wieder den Weg ins Lebens finden konnten. Und wir erinnern uns der anderen, für die der Tag der Freiheit zu spät kam.

Im Licht dessen, was hier geschah, können wir wissen, warum es wichtig ist, Gott allein die Ehre zu geben und den Nächsten zu lieben. Hier in Dachau können wir spüren, wohin es führt, wenn der Allmachtswahn des Menschen an die Stelle von Gottes Allmacht rückt. Auch in diesem Sinne ist Dachau als erstes der von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager zu einem Vorbild der Unmenschlichkeit, ja zu einem Modell für Konzentrationslager geworden. Hier konnte der  Lagerkommandant Theodor Eicke sein sadistisches Treiben auf eine Weise umsetzen, die Heinrich Himmler 1934 dazu veranlasste, ihn zum Inspekteur aller deutschen Konzentrationslager zu ernennen. Dachau ist ein exemplarischer Ort der Erinnerung daran, was geschieht, wenn die Verachtung des andern die Liebe zum Nächsten verdrängt. Hier können wir immer wieder die Antwort auf die Frage buchstabieren, warum wir uns im Gebet an Gott wenden, warum wir Fremde aufnehmen, warum wir uns den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft zuwenden und warum wir uns der Erinnerung an vergangenes Unrecht stellen.

Das Volk Israel wurde aufgefordert, sich in die Tradition der Mütter und Väter stellen: wir waren in Ägypten, wir wurden unterdrückt, wir wurden befreit. Die kommenden Generationen sollen sich so verstehen, als hätten sie all das selbst erlebt. Sechzig Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, nach der Befreiung unseres Landes, nach der Befreiung des europäischen Kontinents von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stellen wir uns die Tradition unserer Mütter und Väter: Mit ihnen stellen wir uns in die Geschichte der Schuld, aus der sie ins Freie traten. Mit ihnen stellen wir uns in die Geschichte von Gewalt und Verfolgung, die ein Ende fand. Mit ihnen stellen wir uns in die Erfahrung millionenfachen Mordens, die vor sechzig Jahren auch denen vor Augen trat, die vorher nichts hatten hören und sehen wollen. Wir verstehen uns so, als hätten wir das alles selbst erlebt.

Wir vergegenwärtigen uns all das gemeinsam mit vielen europäischen Freunden. Wir sind mit ihnen in der festen Überzeugung verbunden, dass die Unrechtsgeschichte, die in den Abgrund führte, sich nicht wiederholen darf. In der vergangenen Woche war ich in Moskau, um mich gemeinsam mit dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche an das Geschehen vor sechzig Jahren zu erinnern. Und vor zwei Wochen stand ich an den Seelower Höhen nahe der Oder. Wir erinnerten uns der hunderttausend Todesopfer, die von der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs gefordert wurden. Vor den Gräbern russischer wie deutscher Soldaten standen wir dabei. Welch eine Dichte der Erinnerung!

Die Scham über die von Deutschen verübte Gewalt und die Solidarität mit ihren Opfern muss fest im kulturellen Gedächtnis verankert bleiben. Die Stimmen derer, die dieses Erinnern verdrängen und darin gar einen Ausdruck „nationaler Befreiung“ sehen, dürfen in Deutschland kein Echo haben. Deshalb müssen wir gerade in einer Zeit, in der die Zahl der Zeitzeugen schwindet, der Erinnerungsarbeit einen festen Platz in unserer Gesellschaft geben – und auch in der Arbeit unserer Kirchen. Von der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten sollen dem biblischen Gebot zufolge die Eltern erzählen, wenn sie so gefragt werden. Von der Befreiung Europas aus der Sklaverei menschenverachtender Gewalt haben wir zu berichten, wenn unsere Kinder uns fragen. An uns ist es dann zu bekennen, worin wir unsere Überzeugungen und Werthaltungen verankert wissen: darin, dass wir Gott allein die Ehre geben und unseren Nächsten lieben.

Wenn aus unserem Gedenken solche Klarheit entsteht, dann werden die Menschen, die hier ihr Leben ließen, für uns zu Lehrerinnen und Lehrern im Glauben – wie es der Hebräerbrief sagt: „Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach.“ Wir gedenken heute besonders derjenigen, die die unmenschlichen Zustände, die Demütigungen und Folterungen nicht überlebt haben. Wir gedenken derjenigen, die ermordet wurden. So werden die, die hier im Konzentrationslager Dachau gefangen waren, zu Lehrern der Kirche und Vorbildern im Glauben.

Einzelne haben überlebt. Einer von ihnen war der westfälische Pfarrer Ernst Wilm, der im Januar 1942 verhaftet und wenige Monate später hierher gebracht wurde. Er hatte es gewagt, in seiner Gemeinde Mennighüffen  gegen die so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ öffentlich zu protestieren, auch in Predigten. Obwohl er auch in seiner Bekenntnisgemeinde dafür kritisiert worden war, blieb er bei seiner Haltung: „Eine Kirche, die sich den Mund verbieten lässt, gibt sich selber auf.“ Rückblickend schrieb er wenige Monate nach dem Kriegsende: „Es ist mir immer wieder ein Grund zum Danken gewesen, dass ich um dieser Sache willen verhaftet worden bin, nämlich, weil ich für diese armen und unschuldigen Kranken und gegen ihre Mörder eintreten musste. Denn dafür bin ich damals immer wieder auf unseren Synoden und Zusammenkünften eingetreten, dass wir nicht schweigen dürfen.“ Wilms Worte sind auch heute noch brennend aktuell. Hören wir vor den Erfahrungen aus unserer Zeit, was dieser Lehrer der Kirche im Oktober 1945 gesagt hat: „Wenn gesagt wird, es sei nicht nötig gewesen, dass ich deswegen ins Lager gekommen bin – ich hätte vorsichtiger sein und schweigen sollen –, dann kann ich nur sagen, gerade nach den Erfahrungen der letzten Jahre, gerade nach dem, was wir heute alles über die geschehenen Verbrechen wissen, die ganze Kirche hätte laut rufen müssen, zu dem Mord an den Kranken, zu dem Mord an den Juden, zu dem Mord an Polen, Russen und Tschechen: ‚Das ist nicht recht!’ und: ‚Das darf nicht sein!’ Und wenn Hunderte und Tausende dafür ins KZ gegangen wären. Da liegt unsere große Schuld. Denn um dieser Verbrechen willen kommt jetzt soviel Not über uns.“

Pfarrer Wilm hat die Haft in Dachau überlebt. Er mahnt uns, dass wir auch heute unseren „Mund auftun für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“. Wenn das geschieht, dann haben wir von unseren Lehrern im Glauben etwas gelernt.
„Allen Formen des Antisemitismus und Rassismus muss widerstanden werden.“ Mit diesem Satz beginnt die Erklärung des Rates der EKD am 27. Januar 2005 aus Anlass des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus. Dazu bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland. Dazu bekenne ich mich auch persönlich.

Denn nur so hat das Gedenken Gewicht. Wenn es bloß museal ist und sich in der Vergangenheit verliert, büßt es seinen Sinn ein.
Wenn das Gedenken aber dazu führt, dass sich unser Verhalten verändert, dann sind wir da angekommen, wo nach Dietrich Bonhoeffers Bekenntnis der christliche Glaube steht und wie wir es vorhin selbst bekannt haben: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Amen.