"Die ökumenische Situation in Europa" - Vortrag bei der Begegnung der nationalen Ökumenebeauftragten der europäischen Kirchen und Bischofskonferenzen in Rom (EÖV3)

Margot Käßmann

1. Europa hat Verantwortung für die Ökumene

Die Ökumene und Europa – das war von Anfang an eine dynamische Beziehung! Als Paulus dem Ruf nach Mazedonien folgte (Acta 16,9), begann eine Geschichte von ungeheurer Dynamik. In Windeseile breitete sich die gute Nachricht in Europa aus, von Süd bis Nord und von Ost bis West. Heute ist die europäische Kultur, die Geschichte, Architektur und Literatur Europas ohne das Christentum gar nicht verständlich. Wo die christlichen Kirchen ihrem Herrn treu blieben, entfaltete sich die ganze Fülle des Glaubenslebens in beeindruckender Kreativität. Ich denke an die Klöster, die wunderbaren Altäre, an die Musik und auch die Sprache, die sich im Zuge der Reformation in den einzelnen Nationen durch die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache entwickelte. Wo die christlichen Kirchen sich allerdings verführen ließen zu Macht, Herrschaftsdenken und Ideologie, trugen sie bei zu Zerstörung und Menschenverachtung, ich denke an die Hexenverfolgung, den Holocaust und manches Segnen von Waffen in Europa.

Von Europa ging die Spaltung der Weltchristenheit aus, im Jahre 1054 wie im 16. Jahrhundert. Bis heute prägen die Trennung zwischen Ost- und Westkirche sowie die Folgen der Reformation Europa, aber auch die Kirchen in der ganzen Welt. Dafür haben wir Verantwortung. Bei aller notwendigen Suche nach dem eigenen Profil, dürfen wir nicht weiter dazu beitragen, dass diese Spaltung heute Menschen belastet und die Überzeugungskraft des Glaubens beeinträchtigt. Gerade in einem Zeitalter, in dem so viele religiöse Strömungen nach Europa hineindrängen vom Islamismus bis zum Buddhismus, von der Esoterik bis zur Patchworkreligion, muss das gemeinsame Glaubenszeugnis von Christinnen und Christen erkennbar sein. Den Dialog der Religionen beispielsweise können wir nur gemeinsam führen, nicht getrennt.

Hier in Europa entwickelte sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch die ökumenische Bewegung. Sie entstand, als deutlich wurde, dass Kirchen in der Mission unglaubwürdig werden, wenn ihre unterschiedliche Auffassung von Kirche, Abendmahl und Amt stärker im Vordergrund steht als der gemeinsame Glaube an Jesus Christus. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, die Gründung der Bewegung für Praktisches Christentum und der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung, die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen und der Konferenz Europäischer Kirchen das Zweite Vatikanische Konzil – das alles sind Zeichen für die enormen Schritte, die unsere Kirchen im vergangenen Jahrhundert aufeinander zu gegangen sind. Im theologischen Gespräch miteinander, in den ökumenischen Gottesdiensten, die gefeiert wurden, im diakonischen Handeln ebenso wie im Miteinander-Pilgern wurde erfahrbar: uns verbindet mehr als uns trennt. Dem sind wir verpflichtet.

Ihre (Diese) Geschichte bedeutet für die Kirchen Europas eine ökumenische Verpflichtung.

2. Wir befinden uns in einer Phase der Ernüchterung.

Im Jahr 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der römisch-katholischen Kirche und des lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet. Es wurde festgehalten: So, wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war ein feierliches Ereignis. Es sollte nicht bedeuten – und das war allen Beteiligten klar - , dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg der Annäherung. Ein Durchbruch schien nahe nach dem Motto: diese Erklärung wird die Unterschiede nicht beseitigen, hoffentlich aber zur Möglichkeit führen, einander gastweise zum Abendmahl einzuladen. Dass es gelungen ist, zumindest gemeinsame Formulierungen zu finden zu einer theologischen Frage, an der einst die Einheit zerbrochen ist, dafür können wir dankbar sein.

Diese Hoffnung nun wurde alsbald ernüchtert. Im Jahr 2000 setzte die römisch-katholische Kirche mit der Erklärung „Dominus Iesus“ durch die Glaubenskongregation ein klares Zeichen. Sie selbst sieht sich weiterhin, trotz aller ökumenischen Fortschritte, allein als die eine, wahre, heilige Kirche an. „Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn; die in diesen Gemeinschaften Getauften sind aber durch die Taufe Christus eingegliedert und stehen deshalb in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der Kirche.“

In den Beschlüssen der Moskauer Bischofsynode im August 2000 heißt es: „Die Orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche Christi, geschaffen von unserem Herrn und Heiland selbst, die Kirche, die gefestigt und erfüllt ist vom Heiligen Geist...“ Und weiter: „Die Orthodoxe Kirche versichert durch den Mund der hlg. Väter, dass das Heil nur in der Kirche Christi gefunden werden kann. Doch gleichzeitig wurden die von der Einheit mit der Orthodoxie abgefallenen Gemeinschaften niemals als völlig von der Gnade Gottes verlustig gegangen angesehen...“. Auch hier also eine deutliche ekklesiologische Selbstvergewisserung, die anderen das Kirche-sein im vollen Sinne abspricht.  Seit den Zeiten der Reformation sind die Orthodoxen und die Reformatoren miteinander im Gespräch. Immer wieder bleiben wir uns fremd, müssen das gemeinsame nachdenken üben. Zwischen römisch-katholischer Kirche und Kirchen der Orthodoxie allerdings gibt es inzwischen deutliche Signale der Annäherung, wenn auch oft explizit leider in Abgrenzung zu den Kirchen der Reformation.

Vor allem im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen wurde gegenüber dem Protestantismus seitens orthodoxer Kirchen immer wieder der Vorwurf der „Proselytenmacherei“ und „Verwestlichung“ erhoben. Der Ökumenische Rat selbst befindet sich dadurch in einer heftigen Krise. Wir werden erst nächsten Monat in Porto Alegre sehen können, ob und wie es hier einen Weg in die Zukunft geben kann. In jedem Fall könnten die Kirchen Europas dazu manches beitragen, zumal viele Christinnen und Christen in den Ländern des Südens diese Auseinandersetzungen kaum nachvollziehen können.

Diese Entwicklungen haben verständlicherweise die Kirchen der Reformation in ihrer Euphorie über Augsburg 1999 erheblich gedämpft. Sie verstehen sich als Kirchen im vollen Sinne. Unser Amt, auch das bischöfliche, ist volles Amt im Sinne Jesu Christi. In seiner Schrift „Wider Hans Worst“ hat Luther 1541 unmissverständlich formuliert, dass die Kirche der Reformation die alte Kirche fortführt. Reformatorische Kirchen sind keine im 16. Jahrhundert neu entstandenen Kirchen, sondern Erbinnen der alten Kirche, die die Reformation schon durchlaufen haben. Unter anderem werden ja gerade altkirchliche Traditionen unter Berufung auf Augustin neu aufgenommen. Wir sehen uns auch durchaus in apostolischer Sukzession – nicht durch eine Kette von Handauflegungen, sondern verstanden als Treue zur Lehre der Apostel.

In den folgenden Jahren zeigte sich diese Ernüchterung an verschiedenen Stellen. In Deutschland etwa gab die Evangelische Kirche in Deutschland ein Dokument unter dem Titel „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ ein „Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen“ heraus. Dort heißt es: „In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, dass die Notwendigkeit und Gestalt des 'Petrusamtes’ und damit des Primats des Papstes, das Verständnis der apostolischen Sukzession, die Nichtzulassung von Frauen zum ordinierten Amt und nicht zuletzt der Rang des Kirchenrechtes in der römisch-katholischen Kirche Sachverhalte sind, denen evangelischerseits widersprochen werden muss.“ (S. 13)
Alsbald wurde wieder auf den unterschiedlichen Ebenen nicht nur um das Kirchenverständnis, sondern auch über Amt und Ablass, Papst und Abendmahl, Ekklesiologie und Ethik insgesamt gestritten. Und mit der Frauenordination und der geschlechtergerechten Sprache kamen auch gleich noch neue Themen dazu.

Die trennenden theologischen Fragen zwischen den Kirchen sind wieder klar auf dem Tisch.

3. Gegenseitige Abgrenzungsversuche schwächen das gemeinsame Zeugnis

Im hohepriesterlichen Gebet sagt Jesus: „“Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sei alle eins seien. Wie du, Vater in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ (Joh. 17, 20f.) Einheit unserer Kirchen ist also keine fixe Idee, keine neue Erfindung, sondern eine biblische Verpflichtung, begründet im Zeugnis unseres Heilandes selbst. Jesus hat uns in die Nachfolge gerufen. Der Auferstandene hat den Auftrag gegeben, in alle Welt zu gehen und die Menschen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen. Er hat das Mahl eingesetzt, in dem wir uns um seinen Tisch versammeln zur Communio Sanctorum, in der wir Gemeinschaft der Heiligen werden und Anteil haben an der Gemeinschaft mit dem Heiligen, mit dem lebendigen Christus. Eine Kirche kann sich nicht entscheiden, ob sie auch ökumenische ausgerichtet sein will. Sie muss die Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern im Glauben suchen.

Nun, wir sind Menschen. Nach evangelischem Verständnis sind die Heiligen diejenigen, die wissen, dass sie ihr ganzes Vertrauen auf Gott werfen müssen. Wir sind fehlbar, das biblische Menschenbild weiß das sehr wohl. Und unsere Traditionen und kirchlichen Überzeugungen sind auch über die Jahrhunderte gewachsen, ja, sie sind uns sozusagen lieb geworden. Aber unsere Trennung darf keinesfalls unserem Zeugnis im Wege stehen. Ich fürchte, dass das oft so ist. Wir suchen dann eigene Identität in der Abgrenzung.

Für das Land der Reformation, aus dem ich stamme, kann ich sagen: das Miteinander stärkt uns. Wenn wir als evangelische und römisch-katholische Kirche gemeinsam etwa in der Frage der sozialen Gerechtigkeit beim so genannten Sozialwort 1997 plädieren, werden wir aufmerksamer gehört, von der Gesellschaft, von der Politik. Wenn wir als Kirchen gemeinsam Gottesdienst feiern wie beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003, werden wir auch zum Segen für unsere Gesellschaft. Wo die im Land jeweils großen Kirchen und die kleineren sich bereichern, Methodisten und Orthodoxe, Altkatholiken und Reformierte, Lutheraner und Katholiken, wachsen wir aneinander.

Um des glaubwürdigen Zeugnisses willen müssen wir die Ökumene stärken. Gegenseitige Verunglimpfung schwächt alle gemeinsam.

4. Die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Abendmahlsfeier kann nicht ignoriert werden

Uns trennt ein unterschiedliches Verständnis von Kirche. Die Confessio Augustana sagt: „Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden.“ (Artikel 7).

Von dieser Auffassung her fällt es den Kirchen der Reformation leichter als anderen, andere Konfessionen als Kirchen anzuerkennen. Und weil wir den auferstandenen Christus selbst als den Einladenden sehen, können wir alle getauften Glieder einer Kirche zu Brot und Wein einladen. Im lutherischen Verständnis bleibt ein Geheimnis, wie Christus in Brot und Wein präsent ist. In jedem Fall ist er gegenwärtig, „in mit und unter“ Brot und Wein schenkt sich Christus leibhaftig (Konsubstantiation). Diese theologische Position unterscheidet uns von der Transsubstantiationsverständnis der römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie, aber auch vom Verständnis von Brot und Wein als Zeichen etwa der Reformierten. Auch in der aktuellen Situation also bleibt das Verständnis von Abendmahl- bzw. Eucharistie unterschiedlich. Und diese Verschiedenheit bleibt engstens verbunden mit dem Verständnis von Kirche und Amt. Ich respektiere, dass für viele das gemeinsame Abendmahl erst möglich ist, wenn die Einheit der Kirche erreicht ist. Ich selbst kann es als Stärkung auf dem Weg zur Einheit sehen. Und ich werde nicht an einer Eucharistiefeier teilnehmen, zu der ich explizit nicht eingeladen bin. Aber ich bitte auch darum, mich nicht zu einem Gottesdienst einzuladen, bei dem ich dann an zentraler Stelle wieder ausgeladen bin.

Trotz aller Differenzen gibt es eine tiefe Sehnsucht von Gläubigen in allen Kirchen, dieses Mahl miteinander feiern zu können. Das ist verständlich, denke ich, und sollte von den Theologinnen und Theologen nicht einfach ignoriert werden. Denn in diesem Mahl ist die Gemeinschaft mit Gott und untereinander zeichenhaft erkennbar. Dass wir es nicht feiern können, zeigt in aller Schärfe unsere Trennung. Und das ist und bleibt schmerzhaft.

Die Trennung am Tisch des Herrn ist und bleibt schmerzhaftes Zeichen unserer Spaltung.

5. Versöhnte Verschiedenheit bleibt das Ziel

Im 20. Jahrhundert haben die Kirchen Europas gelernt: Diese christliche Kirche, die wir jeden Sonntag im apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen, ist eine. Eine heilige, christliche Kirche. Sie ist die Kirche, die wir glauben, die in Jesus Christus vorgegeben ist. Diese Kirche manifestiert sich in vielen Kirchen weltweit. In der Vielfalt der Kontexte und Denominationen ist die Una Sancta, die eine heilige christliche Kirche zu finden. Jede Kirche ist nur eine Provinz der Weltchristenheit (E. Lange). Inzwischen gibt es Kirchen, die sich vollkommen loslösen von den dogmatischen Differenzen der europäischen Mutterkirchen. Es gibt Schätzungen, dass nahezu die Hälfte aller Christinnen und Christen auf der Welt nicht mehr einer der traditionellen konfessionellen Kirchen - römisch-katholisch, reformatorisch oder orthodox - angehören, sondern einer der großen freien christlichen Bewegungen im Pfingstbereich. Das gilt insbesondere für Afrika und Lateinamerika. Eine chinesische Pastorin sagte mir kürzlich: „We are post-confessional“. Nehmen wir das überhaupt wahr? Wie gehen wir damit um? In unseren Großstädten in Deutschland gibt es beispielsweise unzählige christliche Auslandsgemeinden, die anscheinend völlig außerhalb unseres Blickfeldes existieren und Gottesdienst feiern. Und die freien Gemeinden, die Pfingstbewegung, sie wachsen auch in Europa. Das muss eine Herausforderung für die traditionellen Konfessionen darstellen. Ich wage zu bezweifeln, dass wir darauf wirklich vorbereitet sind.

Eine zentrale Aufgabe für die Kirchen in Europa heute ist die Stärkung des Glaubens. Viele Menschen kennen die Bibel nicht mehr, Kinder werden nicht im christlichen Glauben erzogen, Jugendliche finden keine Orientierung, die Rituale geraten in Vergessenheit, der Gottesdienstbesuch ist schwach. Gemeinsam gilt es, diese Herausforderung anzunehmen und einen missionarischen Aufbruch in Europa zu wagen. Wir sollten unsere Traditionen und Wurzeln nicht gering schätzen. Die Theologie unserer Väter und Mütter im Glauben, ihre Erfahrungen mit Gott in Europa können fruchtbar gemacht werden für uns heute. Der biblische Glaube, die christliche Spiritualität, das sind Schätze, die wir auch der jungen Generation in Europa als Orientierung anbieten sollten. Und das trägt doch auch Früchte: Pilgern, Schweigen, Meditation, Gebet – all das wird in den letzten Jahren wieder ganz neu nachgefragt.

Die traditionellen Kirchen mit ihren konfessionellen Grundüberzeugungen stehen vor enormen Herausforderungen und zwar gemeinsam.

6. Europa braucht die gemeinsame Stimme der Kirchen

Ich finde es bedrückend, wie wenig Europa seine Wurzeln kennt. Im letzten Jahr gab es geradezu einen Reflex des Schreckens und der Abwehr, als der türkische Ministerpräsidenten Erdogan vor einer „Christenclub-Mentalität“ Europas warnte. Schnell wurde gefordert, die Europäische Gemeinschaft müsse einen neuen Identitätsbegriff finden, weg von den christlich-jüdischen Wurzeln, hin zu einem Verbund ausschließlich politischer, wirtschaftlicher und sicherheitsrelevanter Interessen . Und auch bei der Debatte um die Präambel der Verfassung der EU wurde mächtig getrommelt, hier dürfte weder ein Gottesbezug aufgenommen werden, noch sollten die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas Erwähnung finden. Was ist eigentlich so schlimm daran, solche Wurzeln zu haben? Warum soll ein Gottesbezug Schrecken auslösen? Und wieso ist „Christenclub“ eigentlich ein Schimpfwort? Ein solcher Club hat sicher Bedingungen, aber es kann ja beigetreten werden. Die Clubbedingungen allerdings leiten sich aus dem christlichen Erbe ab: die gleiche Würde jedes Menschen beispielsweise muss Anerkennung finden und Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das leitet sich aus der Schöpfungsgeschichte ab, aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen und aus dem Zeugnis von Jesus Christus, in dem unsere Unterschiede aufgehoben werden (Gal 3,28).

Ich bin überzeugt, es ist auch die Spaltung der Christenheit, die dazu beiträgt, dass Europa sich so oft lieber nicht auf seine christlichen Wurzeln beruft. Gerade in den großen ethischen Herausforderungen unserer Zeit sollten wir nach gemeinsamen Positionen suchen. Gegenseitig Vorwürfe, die einen seien zu säkular und die anderen „voraufklärerisch“ helfen da nicht weiter. Dabei geht es doch um gegenseitiges Lernen. Wir sind Kirche im 21. Jahrhundert. Nie hat sich die Kirche einfach abgeschottet gegen die Entwicklungen ihrer Zeit, und wo sie es tat, musste sie sich manches Mal nachträglich korrigieren. Es gibt keinen abgeschotteten Bereich Kirche, der sich von der Welt völlig abtrennen kann. Kirche ist immer Kirche im Kontext ihrer Zeit. Nur so ist sie glaubwürdig.

So sollten wir heute gemeinsame Positionen suchen in Europa zur Gentechnologie, zur Sterbehilfe, zur Energiepolitik. Wir sollten gemeinsam entschieden gegen Lohndumping, Zwangsprostitution und Verelendung von Kindern vorgehen und für Flüchtlinge eintreten. In der Charta Oecumenica haben wir uns verpflichtet, uns über Inhalte und Ziele unserer sozialen Verantwortung miteinander zu verständigen und die Anliegen und Visionen der Kirchen gegenüber den säkulären europäischen Institutionen möglichst gemeinsam zu vertreten. (III,7)

Wir sind gerufen in die Nachfolge. Diesen Weg gehen wir nicht, indem wir Menschen verurteilen, sondern indem wir an der Seite der Menschen, die uns brauchen.

Um der Menschen in Europa willen, müssen wir gemeinsame Positionen in ethischen Fragen finden.

7. Die Welt braucht ein glaubwürdiges ökumenisches Plädoyer für Gerechtigkeit und Frieden – gerade aus Europa

Wir leben in einer Welt dramatischer Ungerechtigkeiten. Das gilt schon innerhalb Europas. Die Lebensverhältnisse in Litauen sind mit denen in Frankreich nicht zu vergleichen. Und das gilt umso mehr, als für uns Kirchen Europa nicht an den Grenzen der EU endet. Wir müssen dringend für mehr Gerechtigkeit in Europa aktiv eintreten, weil wir uns als Schwestern und Brüder sehen.

Das verpflichtet uns auch über die europäischen Grenzen hinaus. Afrika, Asien, Lateinamerika, das sind nicht ferne Kontinente, das ist Gottes Welt. Die Flüchtlinge an den Grenzen von Marokko, auf Lampedusa in Flugzeugen und Booten Richtung Deutschland, auch sie sind unsere Schwestern und Brüder. Die οıκουμένη meint ja den ganze bewohnte Erdkreis. Wir gehören zusammen in der einen Welt, die von Gott geschaffen ist. Die Kirchen sind wohl die erste Globalisierungsbewegung der Welt. Sie haben aber eine Globalisierung im Blick, bei der die Würde des einzelnen als Ebenbild Gottes zentrale Bedeutung hat.

Als Kirchen sollten wir Europa dazu drängen, endlich die Lektionen aus den Kriegen der Vergangenheit zu lernen und entschieden für Frieden einzutreten. Das meint auch ein Ende von Rüstungsexporten, von Minenproduktion. Und wir wissen:

Die Menschheit heute muss den Willen entwickeln, miteinander zu teilen in der einen Welt, in der wir leben. Viele Menschen in den Ländern des Südens sehen Europa als Kontinent, der andere ausbeutet und Vorherrschaft anstrebt nach dem Zeitalter des Kolonialismus jetzt im Zeitalter der Globalisierung. Die Kirchen in Europa sind gefordert, heute ein glaubwürdiges Zeugnis des Miteinander und der Solidarität von Nord und Süd zu geben.

Die Einheit der Menschheit bleibt wie die Einheit der Kirche Thema der Ökumene in Europa.

Also, die ökumenische Lage in Europa ist angespannt, ja sie ist eine Herausforderung für uns als Kirchen gemeinsam. Ich werde evangelisch-lutherisch bleiben. Das sola fide, sola gratia, solus Christus sind tief in mir verwurzelt. Mir ist vieles an anderen Konfessionen fremd. Aber jeder Christ, jede Christin ist mir näher als Menschen anderen Glaubens oder Menschen ohne Glauben. Denn wir teilen die eine Hoffnung auf den Vater Jesu Christi, auf die Zukunft Gottes, in der Gott alle Tränen abwischen wird und Leid, Geschrei, Schmerz und Tod ein Ende haben (Offb. 21,4). Ja, uns verbindet mehr als uns trennt. Wir glauben, dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Ich kann von römischen Katholiken lernen in Fragen der Sinnlichkeit, der Spiritualität und von Orthodoxen in Feierlichkeit der Liturgie. Ich denke, sie können vom Protestantismus etwas lernen über die Bedeutung der Bibel und die Verantwortung des Einzelgewissens. Vielleicht folgt auf das Jahrhundert der Ökumene erst einmal Ernüchterung: wir werden verschieden bleiben. Hoffentlich aber folgt auch das tiefe Bewusstsein der Gemeinschaft: in der Nachfolge sind wir so vielfältig wie die ersten Jüngerinnen und Jünger von Susanna bis Petrus, von Paulus bis Lydia. Dass Gottes Geist die Kirchen Europas mit der Kraft erfüllt, dafür gemeinsames Zeugnis abzugeben, davon bin ich überzeugt. Die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung kann ein gewichtiges Zeichen dafür setzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.