"Gottes schwache Stunde" - Predigt über 1.Mose 8, 20 –22 zum Sonntag Invokavit in der 6.Fastenpredigtreihe in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin

Robert Leicht

LUT Genesis 8:20 Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. 21 Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. 22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Wie kommt das nur – dass man in den Kindergärten die Arche Noah so schätzt? Da basteln die lieben Kleinen Jahr um Jahr eifrig an den Pärchen von Elefanten, Löwen, Rindern, Giraffen, Krokodilen und dergleichen anderen Haustieren, um damit die alte Arche neu zu bestücken. Wie süß, wie herzig – diese Tierchen und die lieben Kleinen! Und dann erzählt ihnen die Tante Hildegard oder Anneliese vom lb. Gott.

Doch ist das wirklich eine Geschichte vom lieben Gott? Ist das eine Geschichte, die man kleinen Kindern einfach so erzählen kann? Ich erinnere mich noch gut an jene Abende an der Bettkante unserer jüngeren Tochter. An der Wand hing eine aus Stoff gefertigte Arche Noah – und in deren allerlei Taschen steckten (und schauten heraus), wie es sich gehört, die mit Wolle ausgestopften Stofftierchen: Elefanten, Löwen, Rinder, Giraffen, Krokodile und dergleichen andere Haustiere, immer schön paarweise. „Erzähl’ doch noch einmal, bitte, bitte...!“ Und was wand ich mich nur, um nicht die ganze Geschichte erzählen zu müssen.

Denn dann hätte man ja auch Sätze wie diesen vorlesen müssen:

LUT Genesis 6:7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.

Das kann man doch einem acht- oder neunjährigen Mädchen nicht zur Nacht vorlesen! Was soll denn da mit seinem kindlichen Gott- und Selbstvertrauen werden? Und aus unserer Nachtruhe? Also druckst der Herr Papa etwa so herum: Weißt Du, eine Sintflut kommt ja nicht von ungefähr, sondern nur, wenn die Menschen etwas ganz falsch gemacht haben… Wenn wir zum Beispiel weiter so mit unserer Schöpfung und mit der ganzen Umwelt umgehen, wenn wir tatenlos dem Artensterben unter den Tieren zusehen… Aber wenn wir das alles nicht falsch machen, wenn wir – jede an ihrem, jeder an seinem Platz – mehr auf die Welt, die Umwelt, auf unsere Mitgeschöpfe achten, dann kommt bestimmt auch keine Sintflut – mehr. Und nun schlaf’ ruhig. Gute Nacht!

Gut gemacht, wie? – Und doch so falsch, so positiv ethisch voll an der wahren Geschichte vorbei geredet! Und wie passte dann der Tsunami, passte dann das Erdbeben ins Pakistan hinein – hatten die Opfer alle gesündigt und wir, denen nichts geschehen ist, etwa nicht?

Ein paar Tage nach dieser Arche-Noah-Szene wurde ich dann schon ansatzweise eines Besseren belehrt – auch darüber, dass Kinder auch mit grausamen Geschichten anders umgehen, als wir Erwachsenen, die wir sie vor allem schonen wollen, zuweilen vermuten. Ich kam also abends nachhause. Das Töchterlein stand schon erwartungsvoll in der Tür, aber mit einer Miene, die Bedenkliches erwarten ließ: Wir hätten doch neulich über die Arche Noah geredet – und wie man mit der Schöpfung und vor allem mit unseren Mitgeschöpfen, den Tieren umgehen solle! Nun habe aber die Oma ein Tagebuch hervorgekramt, das sie über die jungen Jahre ihres nun in der Tür stehenden Vaters geführt habe. „Und dann hat die Oma vorgelesen, dass Du mit zwölf Jahren an einer Treibjagd mitgemacht hast, dass Du die erlegten Hasen nachhause getragen hast und dass Du Hasen, die noch nicht ganz tot waren, mit einem Knüppel  erschlagen hast...“ – Mir sackte das Herz in die Hosentasche: Das kann ja ein düsterer Abend werden… Und während ich mir schon panisch überlegte, wie man mit dieser peinlichen Enthüllung umgehen könnte, drehte sich die Tochter um und zuckte resignierend-freundlich mit den Schultern: „Na, jeder hat mal  ’ne schwache Stunde!“

Ja, jeder hat mal ’ne schwache Stunde. Selbst der liebe Gott – kaum zu glauben. Und zwar genau in unserer Geschichte, genau in unserem Predigttext.

Geradezu provozierend deutlich legt es einer der in diese Geschichte verwobenen Erzählstränge darauf an, Gott wie einen Menschen darzustellen, der schwach werden kann. Noah richtet ein Brandopfer her:

Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen...

Und:

Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.

Gott wird also schwach. Er lässt sich umstimmen. Er bereut, was er angerichtet hat:

...wie ich getan habe.

Das ist aber schon das zweite Mal, dass er etwas bereut – wie er getan hat. Denn am Anfang unserer Sintflut-Geschichte lasen wir doch:

LUT Genesis 6:5 Als aber der HERR sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6 da reute es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, 7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.

Ein merkwürdig menschliches Gottesbild, das da vor uns errichtet wird. Denn das kennen wir doch von uns – dass wir strafen, beschädigen, zerstören, was sich uns nicht fügen will; manchmal, in letzter Zeit, so will es scheinen, immer öfter sogar Eltern ihre Kinder. Die Grausamkeit des Vernichtungsschlages, den Gott hier gegen seine eigene Schöpfung führt, den müssen wir doch wenigstens im Blick auf uns selber verstehen – da wir Menschen doch auch schon Millionen von ganz Unschuldige vernichtet haben, von den Kreuzzügen bis zum Holocaust, von Kambodscha bis nach Burundi. Wer könnte all die Beispiele lückenlos aufzählen?!

Die erste Reue Gottes, die ihn diese vernichtende Sintflut auslösen lässt, diesen Zorn, ja diese Wut – dies alles können wir also nachempfinden, obwohl wir davor bis auf die Knochen erschrecken.

Mit der zweiten Reue, mit der schwachen Stunde, in der Gott der liebliche Duft des Brandopfers in die Nase steigt, obwohl wir doch von unseren lauen Sommernächten her da manch andere Gerüche am Feuer in der Nase haben – mit dieser schwachen Stunde müssten wir zunächst eigentlich größere Verständnisschwierigkeiten haben, obwohl sie auch uns so lieblich-versöhnlich ans Herz rühren könnte. Und zwar Verständnisschwierigkeiten wegen der Begründung, die Gott seinem künftigen ewigen Sintflut-Verzicht beifügt.

Hätte er gesagt:

...Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn so schlimm, wie ich meinte, sind sie ja doch nicht...,

dann hätte diese zweite Reue in der schwachen Stunde Gottes  ja eine richtige menschliche Logik für sich. Aber so spricht Gott gerade nicht, sondern vielmehr ganz im Gegenteil so:

Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.

Was?, stutzen wir da. Weil wir böse sind von Jugend auf, soll uns nichts mehr geschehen? Aus eben dem Grunde, aus dem er die Sintflut erst in Gang gesetzt hat, will er sie hinfort nicht mehr geschehen lassen – wie soll das mit logischen Dingen zugehen?

Aber nun lasst uns genauer nachdenken – und dann auch erkennen, weshalb diese Geschichte sehr wohl an den Anfang der Passionszeit gehört.

Das erste, was uns diese Geschichte lehrt, ist dieses: Gott macht Erfahrungen – auch mit seinen Menschen. Von Anfang an. Gott ist gewiss: ewig, allmächtig (von Anfang an), aber eben nicht fertig – auch nicht fertig mit seinen Menschen. Er wird von seinen Menschen enttäuscht, bitter enttäuscht. Er hat durchaus ein anderes, ein nüchternes, ja, sogar ein abgrundtief nüchternes Bild vom Menschen gewonnen: ... das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse – sogar, wie er nach der Sintflut durchaus verschärfend sagt: von Jugend auf.

Doch obschon ihn diese Erfahrungen zu einem illusionslosen Realisten machen, lassen sie ihn nicht zum Zyniker werden.  Er schließt sogar einen neuen Bund mit diesen Menschen – obwohl wir so sind, wie wir sind. Und nur weil Gott uns – nach all seinen Erfahrungen mit uns –  so sieht, wie wir sind, können wir uns auf seinen Bund überhaupt einlassen. Sonst müssten wir ihn nämlich als himmelweite Überforderung, ja: wegen der uns geradezu angeborenen Nichterfüllung sogleich ausschlagen, vorsichtshalber.

In dieser frühen Phase der Menschen- und Selbsterfahrungsgeschichte Gottes finden wir erste Ansätze einer ganz modernen Theologie: Gottes Erhaltungswille übersteigt offenbar hier schon den vermeintlich starren Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen des Menschen. Sonst müsste ja geradezu eine Sintflut auf die andere folgen.

Nein, nicht weil wir ansehnlich sind, wendet Gott sich uns zu, sondern umgekehrt: Weil er sich uns trotz allem zuwendet, werden wir ansehnlich – können wir überhaupt mit uns und all unserem Dichten und Trachten leben.  Allein aus seinem gnädigen Bund leben wir, nicht dank unserer guten Werke:

... ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.

Obwohl: Bevor wir die Geschichte überfordern, müssen wir noch etwas sorgfältiger lesen. Gott sagt in seiner schwachen Stunde zunächst immerhin, aber eben auch nur dieses:

Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen –

dies heißt zunächst nur: Künftig soll nicht gleich die ganze Welt untergehen wegen der Boshaftigkeit der Menschen.

Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe –

das könnte ja auch zunächst nur heißen: Künftig sollen nicht alle Lebewesen, auch nicht alle Menschen zusammen für die Missetaten der Meisten geschlagen werden.

Aber die Geschichte bleibt ja hier nicht stehen – auch nicht die Menschen- und Selbsterfahrungsgeschichte Gottes, wenn wir einmal bei der überaus menschennahen Zeichnung Gottes der Priesterschrift  bleiben wollen. In seinem Erhaltungsbund mit Noah stellt Gott seine Schöpfung zunächst auf Dauer – und dies, obwohl er erfahren musste, dass der Menschen Dichten und Trachten böse ist von Jugend auf:

LUT Genesis 8:22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Doch im weiteren Verlauf der Welt- und Glaubensgeschichte findet nun eine unerhörte Verschiebung statt: In der Sintflut wurde noch „geschlagen“ eben jene Menschheit, die Gott erzürnt hatte. Aber schon im Jesajabuch –  und zwar unter Verwendung desselben hebräischen Wortes für „schlagen“, „töten“, “schlachten“  – schon im Jesajabuch wird dieser Ergehenszusammenhang zwischen Sünde und Geschlagen an einer Stelle weiter aufgebrochen, an einer Stelle, auf die Sie alle noch merken werden, wenn Sie in dieser Passionszeit einmal Händels Oratorium „Messias“  hören sollten:

LUT Isaiah 53:4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat* willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.

Was hier im Jesjabuch von einem den damaligen Hörern nicht näher bekannten Gottesknecht gesagt wird, haben die Christen als Vordeutung auf den Gottessohn verstanden. Und das ist nun ein atemberaubender, ein atemschaffender Wechsel: Nicht der Sünder selber, sondern Gottes Sohn wird geschlagen – für unsere Sünden ans Kreuz!

Nach seinen ersten Erfahrungen mit seinen abtrünnigen Geschöpfen, mit den sündigen Menschen packt Jahwe so heftig die Wut, dass er seine Schöpfung bereut und all die Sünder zornig ersäuft.

Nach der Sintflut bereut er seinen Zorn – in einer zweiten schwachen Stunde den Zorn und die Folgen seiner ersten schwachen Stunde. Gott muss eine große Schwäche für diese seine Menschen haben – wenn er seine Schöpfung bewahrt, obwohl er unser Dichten und Trachten durchschaut als böse von Jugend an.
 
Schließlich aber offenbart er seine radikale, seine geradezu hemmungslose Schwäche für uns Menschen, in dem er in Jesus von Nazareth selbst ans Kreuz geht – für uns und unsere Sünden.

Liebe Gemeinde!

Das ist ein weiter Weg der Gottes- und Menschenerfahrung – vom Brandopfer des geretteten Noah bis zum Selbstopfer des rettenden Gottes, bis zum ultimativen, dem äußersten, dem letzten Opfer schlechthin.

Die Schöpfung – für uns bewahrt.

Jesus ans Kreuz geschlagen – für uns.

Nur davon sollen und können wir leben.

Amen.