Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Woche für das Leben 2006, Berlin

Karl Lehmann

Immer wieder neue Negativrekorde der Geburtenzahlen schrecken die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auf: So geht das Statistische Bundesamt in einer ersten Einschätzung davon aus, dass im Jahr 2005 in Deutschland zwischen 680 000 und 690 000 Kinder lebend geboren wurden, während es im Vorjahr noch über 705 000 Kinder waren.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Sehen die einen die Ursache vor allem in der unzureichenden finanziellen Förderung der Familien, so sprechen andere von der übersteigerten Anspruchshaltung junger Menschen. Wieder andere neigen zu der Ansicht, dass es sich um eine notwendige Begleiterscheinung unserer hochtechnisierten Gesellschaft handele, die man kaum beeinflussen könne. Die eine und alleinige Ursache für die niedrigen Geburtenzahlen in Deutschland gibt es nicht. Vielmehr beruht die demographische Entwicklung einer Gesellschaft auf einem sehr vielschichtigen Gefüge von Einflussfaktoren, von denen keiner isoliert gesehen werden darf. Deshalb kann zum Beispiel die Beschränkung auf familienpolitische Einzelmaßnahmen auch nicht zum Erfolg führen. Vieles muss getan und angestoßen werden. Familienpolitik muss als wirkliche Querschnittaufgabe gesehen werden.

Unbestreitbar ist, dass die Rahmenbedingungen für die Erziehung von Kindern in unserer Gesellschaft insgesamt nicht in ausreichendem Maß förderlich sind. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen werden letztlich auch von den Einstellungen und Haltungen der einzelnen Personen beeinflusst. Die Frage, ob es gelingt, eine Trendwende hin zu mehr Kinderfreundlichkeit zu vollziehen, hängt also zuletzt auch davon ab, ob wir uns bewusst werden, welch ein Segen Kinder sind.

Dies ist das zentrale Anliegen der Woche für das Leben in den Jahren 2005 bis 2007 unter dem Leitthema „KinderSegen – Hoffnung für das Leben“. Jeder weiß: Kinder sind für die Zukunft der Sozialversicherungssysteme, der Steuer- und Transfersysteme, ja sogar des gesamten Wirtschaftssystems unverzichtbar. Kinder sind aber darüber hinaus noch viel mehr: Sie sind die größte Bereicherung, die sich in dieser Welt überhaupt denken lässt. Kinder zu erziehen und auf ihrem Weg in die eigene Verantwortung für sich selbst und ihre Welt zu begleiten, ist eine einzigartige und zugleich alltägliche Weise der Verwirklichung menschlicher Freiheit.

Die sinkenden Geburtenzahlen sind nicht zuerst deswegen besorgniserregend, weil sie das Wirtschaftssystem destabilisieren, auch nicht weil das Volk der Deutschen schrumpft. Der Kern des Problems besteht darin, dass unsere Gesellschaft nicht in ausreichendem Maß menschen- und lebensfreundlich ist, um Kindern Raum zu geben. Die Hauptgefahr besteht also darin, dass es mit unserer Gesellschaft, mit ihrem Ethos, ihren Maßstäben und ihren Konsensen nicht mehr stimmt. Dieser Tendenz zur Lebensfeindlichkeit setzt die Woche für das Leben eine Botschaft der Hoffnung und der Lebensbejahung entgegen.

In diesem Jahr steht die Woche für das Leben unter dem Titel „Von Anfang an uns anvertraut. Menschsein beginnt vor der Geburt“. Die Aufgabe, Kinder anzunehmen und zu begleiten, beginnt nämlich nicht erst mit der Geburt. Vom ersten Augenblick ihres Daseins im Mutterleib sind Kinder uns anvertraut, bedürfen unseres Schutzes und unserer Fürsorge. Diese Aufgabe betrifft zuerst die schwangeren Mütter, die den Kindern am nächsten sind. Aber sie bleibt nicht auf die Schwangeren beschränkt. Schwangerschaft geschieht in einem Umfeld, das Mutter und Kind mehr oder weniger fördern und unterstützen kann.

Unser Themenheft zur Woche für das Leben 2006 lädt dazu ein, sich sowohl grundsätzlich als auch ganz konkret mit verschiedenen Aspekten auseinanderzusetzen, die für die Kinderfreundlichkeit oder leider eben auch Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft eine Rolle spielen: Mentalitätsfragen kommen hier ebenso zur Sprache wie gesellschaftliche Einflussfaktoren und Erfahrungsberichte einzelner. So werden im Beitrag von Prof. Lazlo Vaskovics die Faktoren analysiert, die die Rahmenbedingungen für Schwangerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft bestimmen. Dazu gehören: Das Wertesystem der Gesellschaft, der Grad der gesellschaftlichen Isolierung der Familie, das Einkommenssystem, das Berufssystem, der Wohnungsmarkt und die familienunterstützende Infrastruktur (Kindergärten, Horte, Schulen usw.).

Der Blick in die Alltagsrealität schwangerer Frauen und junger Familien macht deutlich, wie viel Unterstützung und Förderung durch das Umfeld für Mutter und Kind bedeuten. Der Erfahrungsbericht von Franziska Zimmerer im Themenheft erzählt von den Hoffnungen und Sorgen in dieser Situation. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob eine Frau den Eindruck hat, sie müsse sich für ihre Schwangerschaft schämen, sich damit verstecken und stehe mit ihren Problemen und Schwierigkeiten alleine da, oder ob sie tatsächlich erfährt, dass andere sich über das Kind freuen, dass sie sich selbstverständlich zur Solidarität herausfordern lassen und ihr tatkräftig signalisieren: Wir sind in diesen „anderen Umständen“ für dich da. Hier kommt es vor allem auf die Väter an, aber auch auf die Großeltern, Verwandten und Freunde. Arbeitgeber, Vorgesetzte und Vermieter haben ihren Teil der Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Kind. Nicht zuletzt ist auch die staatliche Gemeinschaft in der Pflicht, um einen gedeihlichen Rahmen zu schaffen und einzuspringen, wo die private Solidarität an ihre Grenzen kommt oder versagt.

In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung der Medizin, insbesondere der Pränataldiagnostik, anzusprechen. Die Frage nach der Lebensfreundlichkeit oder Lebensfeindlichkeit ist hier in besonderer Weise virulent. Es darf nicht sein, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der die Geburt eines Kindes nur noch davon abhängt, ob es den Vorstellungen der Eltern oder den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Dr. Hildegard Kaulen hat in ihrem Beitrag zum Themenheft auf diese Problematik deutlich hingewiesen. Die hier zitierten Untersuchungen zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, wie sehr sich mittlerweile eine Mentalität der vorgeburtlichen Selektion verbreitet hat. Wenn in Deutschland von zehn Kindern mit einer pränatal diagnostizierten Trisomie 21 nur noch eines lebend geboren wird, ist das alles andere als ein Ausdruck besonderer Humanität.

Die Woche für das Leben 2006 kann ein Anstoß sein, um kritisch zu prüfen: Wie sehen die Bedingungen konkret aus? Was tun wir und was tue ich für diese Solidarität und für diese Freude über den Kindersegen? Sind die Bemühungen auf staatlicher, auf kommunaler, auf privater Ebene ausreichend?

Appelle zur Änderung der Einstellungen und Verhaltensweisen reichen sicher nicht aus, um das Land wieder kinderfreundlicher zu machen. Aber wir werden auch diesen Umschwung ohne eine neue Einstellung und ein neues Denken nicht bewerkstelligen können.