Predigt im Nachtgebet beim Katholikentag in Saarbrücken (Am 5, 24)

Manfred Kock

Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. (Am 5, 24)

I.

Tröstliche Bilder in trostloser Realität. Damals zu Zeiten des Propheten Amos wie heute. Recht wie strömendes Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach, diese Bilder malen die Sehnsucht in Zeiten der Verwüstung. Opfer und Gesänge, Riten und Gesten konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass die lebensdienliche Ordnung fehlte. Kultischer Betrieb und formale Ästhetik schufen die Illusion einer Gottesverehrung, ohne das Recht der Witwen und Waisen zu achten. „Ich mag eure Opfer nicht riechen, tut weg das Geplärr eurer Lieder“, spricht Gott, „denn ihr tut den Geringen Gewalt an und schändet die Armen“. Gegenwärtige Widersprüche sind von bedrängender Ähnlichkeit. Darum ist es gut, dass auf diesem Katholikentag auch über die sozialen Verwerfungen im Land und in vielen Staaten der Erde gesprochen wird.  Vor allem die Arbeit von Amnesty International und von ACAT bringt es immer wieder an den Tag, wie die Würde der Menschen in vielen Ländern geschändet wird. Eine lange Liste der Staaten wird vorgelegt, in deren Lagern und Kellern gefoltert und gemordet wird. Männer und Frauen werden ihres Menschseins beraubt. Das Recht wird gebeugt oder angepasst an die Absichten derer, die Macht behalten oder erringen wollen. Immer wieder tauchen die Schrecken der Gestapokeller und des Lagersystems „Archipel Gulag“ auf, die Symbole der Rechtlosigkeit und Erniedrigung. Aber der normale Ablauf in vielen normalen Gemeinden unserer Kirchen scheint davon wenig berührt.

II.

Dabei ist es ja die Urkunde unseres Glaubens, die Heilige Schrift, die den Maßstab der Gerechtigkeit genau benennt die: nämlich denen zu ihrem Recht verhelfen, die am Randestehen und an die Wand gedrückt werden. Die jüdische Weisheit hat das für eine zukunftsfähige Gesellschaft so überliefert: Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben. (Spr 14, 34) Das Streben nach Gerechtigkeit ist nichts Zusätzliches, das unserem Glaubensleben noch hinzugefügt wird. Es ist vielmehr Teil dessen, was wir sind und was wir glauben.

Justitia, das Bild der Gerechtigkeit wird als eine Frau mit Waage und  Schwert dargestellt, zum Zeichen dass das Recht ausgewogen gesprochen und durchgesetzt werden soll. Oft hat Justitia ihre Augen verbunden, sie soll ohne Ansehen der Person urteilen - „angemessen und richtig“ in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Das ist ein wichtiges Bild unserer Rechtstradition. Vor allem dieses Bild prägt die Vorstellung, die Verwirklichung von Gerechtigkeit ziele auf Egalität, d. i. Gleichheit. Weil aber Gleichheit eine Utopie sei, halten viele kluge Leute die Gerechtigkeit für ein unklares Schlagwort, vor allem, wenn es mit dem Attribut sozial verbunden auf wirtschaftliche Zusammenhänge angewandt wird. Darum werden neue Begriffe an die politische Propagandafront geworfen, die zu einer geradezu babylonischen Verwirrung führen: Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Familiengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit; sogar eine „Neue Gerechtigkeit“ wird uns jetzt versprochen mit Chancengleichheit. Und diese neue Gerechtigkeit soll durch mehr Freiheit erreicht werden. Ein solcher Umgang mit dem Begriff der Gerechtigkeit ist jedoch oberflächlich. Er entspricht nicht dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit. Dieses zielt nicht auf Gleichmacherei. Es lässt Unterschiede zu. Aber es duldet keine Ausbeutung von Fremden, Witwen und Waisen (Jer 9). Eine Politik, die sich denen zuwendet, ist nicht Ausdruck mildtätiger Zuwendung, sondern ist geboren aus leiddenschaftlichem Engagement für Gerechtigkeit. Wo sie herrscht, wird eine Gesellschaft und werden Menschen in ihr gefördert. Sie können sich entfalten und für sich und ihre Nachkommen Zukunft gewinnen. Als den Gegenbegriff der Gerechtigkeit nennt die jüdische Weisheit die Sünde, welche nicht bloß eine Kategorie fehlender persönlicher Moral ist, sondern Trennung zwischen Gott und Mitmenschen. Der Prophet Amos lässt keinen Zweifel daran, was hier Sünde ist. Feierlicher Gottesdienst und Verrat an der Gerechtigkeit passen nicht zusammen.

III.

"Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden", sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,6). Hunger nach Gerechtigkeit spricht aus diesem Satz der Seligpreisungen, der nicht einen Zustand der Erfüllung beschreibt. Selig seid ihr von ACAT und Amnesty, weil ihr den Mangel empfindet und  nicht müde werdet, das Recht einzufordern. Nur so ist die Richtung einzuhalten, nur so können Menschen den Weg der Gerechtigkeit gehen. Information und Klage machen sensibel für das Leid, sie öffnen die Augen für die menschlichen Ursachen des Leides, öffnen auch die Augen dafür, dass die Täter sich selbst entwürdigen, indem sie anderen die Würde zu rauben versuchen. Dieser Weg hilft, gegen das vermeidbare Leid zu kämpfen und das unvermeidliche Leid anzunehmen. Es ist der Weg absichtsloser Hilfsbereitschaft, die nicht auf himmlischen oder irdischen Lohn aus ist. Auf diesem Weg können Menschen ich in ihrer eigenen Menschwürde bewähren, wenn sie die Menschenwürde anderer bewahren.

IV.

Ich spreche von meinem persönlichen Trauma: Als Schüler sind mir gleich nach dem Krieg die Augen aufgegangen über die Verbrechen in den Gestapokellern und Konzentrationslagern. Wie dankbar bin ich noch heute, dass ich im Jahre 1949 die Verabschiedung unseres Grundgesetzes erleben konnte. Es beginnt mit dem Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie viel verdankt unsere Rechtordnung dem Geist der amerikanischen Verfassung und den großen Aufklärern wie Benjamin Franklin oder Abraham Lincoln, der die Sklaverei abschaffen half. Ich habe Phantasie genug mir vorzustellen, was die Nazierziehung der ersten Schuljahre aus mir gemacht hätte, wenn das nicht 1945 zu Ende gewesen wäre. Wie wäre ich wohl geprägt worden, wenn schon der Junge im zweiten Schuljahr die Landserhefte Prien greift an, Wir hielten Narvik, Fallschirmspringer auf Kreta mit Begeisterung gelesen hatte. Was für Zukunftsträume hätte ich entwickelt, der ich hart wie Kruppstahl zu sein hatte und zu singen gelernt habe, dass uns heute Deutschland und morgen die ganze Welt gehören wird. Was wäre aus meinem Glauben geworden, wenn das so weiter gegangen wäre mit Odin und Wodan und derlei germanischem Gewölk, mit dem die Lehrerin uns damals benebelte. Die totale Niederlage Nazi-Deutschlands hat mich bewahrt  und die Ideale westlicher, amerikanischer Demokratie haben mein Rechtsempfinden geprägt. Dafür bin ich dankbar für alle Zeit.

Und nun höre ich von Guantanamo und Abu Ghreib, sehe die Folterbilder in der Verantwortung eben der Macht, der ich das unschätzbare Demokratieverständnis verdanke. Ich erlebe, wie die undurchschaubaren Machenschaften des CIA nicht nur mit Schurken in aller Welt kooperieren, sondern auch unsere eigenen Dienste unter ihre Fittiche nehmen. Was Menschen widerfahren kann, was sie füreinander zu tun in der Lage sind, und das, was sie einander antun können, hält nicht die Waage mit den Rechtsgütern der Demokratie. Der Widerspruch zwischen dem großen freien Land und seinen fundamentalistischen Herrschaften ist kaum auszuhalten. Gut dass es in den USA selbst immer wieder starke Bewegungen gibt, die gegen die Verderbnis des Rechtes aufstehen.

Terrorismus, der von konkurrierenden Machteliten gesteuert wird, bedient sich der globalen Unzufriedenheit; Flüchtlingsströme aus Kriegs- und Elendsgebieten sind nur notdürftig zu bremsen, oft unter Missachtung humanitärer Grundsätze; einflussreiche Machteliten in  manchen Ländern bieten Unternehmen Anreize zu Investitionen mit dem Ködern fehlender Regeln für Umwelt- und Sozialverantwortung. Protektionistische Einfuhrzölle und Exportsubventionen sind Mit-Ursache der Armut in den Ländern des Südens. Sie rauben den Bauern in Entwicklungsländern ihre Existenzgrundlagen und verschärfen die Gegensätze auf unserem Globus.

V.

Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“. Weil wir Recht und Gerechtigkeit in unserer Welt an vielen Stellen vermissen, darf dieser Gottesspruch nicht verstummen. Spektakuläre Rechtsbrüche erregen die Medien eine Zeitlang, wenigstens das! Aber meistens zieht sich bald der Schleier des Vergessens darüber. Gut, dass es Gruppen und Einzelne gibt, die nicht müde werden, daran zu erinnern! Vor allem aber sind da die Unermüdlichen, die das Unrecht öffentlich machen, die an die Folteropfer in vielen Ländern der Erde erinnern. Sie nennen die Namen, sie schreiben an Verantwortliche und erreichen auf diese Weise für einzelne auch Befreiung.

Diese Aktionen stärken sich aus der Gewissheit des Glaubens: Gott lässt die namenlos Gemachten, die Geschändeten und Unterdrückten nicht ins Vergessen versinken. Sie werden nicht in der Einsamkeit ihrer Zelle, in der vollkommenen Leere eines Lagers verkümmern zu einem Nichts. Gott gewährt eine letzte Geborgenheit, rettet den Sinn eines Lebens, selbst wenn sich dessen Spur im Feuer verliert. Gott hebt die Menschen auf in seinem Gedächtnis. Dieses Erinnern ist in einer Zeit wie der unseren, die von Krisenstimmung und Orientierungsbedürfnis geprägt ist und in der es auch in traditionell demokratischen Staaten Rechtsbeugung und Folter gibt, nicht der unwesentlichste Dienst, den die Kirche ihrer gesellschaftlichen Umwelt erweisen kann.

Gebe Gott, dass unsere Klage über die Entwürdigung des Menschen nie verstummt. Die Klage ist der erste Schritt ins Vertrauen auf Gott, der sich an sein Geschöpf erinnert und an das Volk seiner Wahl. Dem gab er Namen und Identität und hat es ausgeweitet auf uns, gibt uns einen Namen, schenkt uns unsere Identität und verleiht uns unverlierbare Würde.

Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach