"Die Bedeutung des Protestantismus für Europa" - Vortrag bei der Ökumenischen Kirchenversammlung in Wittenberg

Thomas Wipf

Die 3. Europäische Ökumenische Versammlung in Sibiu / Rumänien soll nach den beiden ökumenischen Versammlungen in Basel und Graz ein weiterer Schritt der Versöhnung sein. Es wird darum gehen:

«unsere bereits bestehende Gemeinschaft zu feiern und zu bezeugen, die Kenntnis und Wertschätzung unserer verschiedenen religiösen Traditionen zu vertiefen und das europäische ökumenische Netzwerk zu stärken und auszuweiten».

Dazu haben wir uns mit den «Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa», der Charta Oecumenica, verpflichtet und diesen Weg wollen wir miteinander weiter gehen.

1. Einleitung

Auf dem Stationenweg nach Sibiu sind wir nun in Wittenberg angelangt, dem Geburtsort der Reformation. Hier hat der Mönch und akademische Lehrer Martin Luther vor allem eine Dimension des Evangeliums neu entdeckt: die Freiheit des Christenmenschen. Der Mensch ist gerecht vor Gott allein aus Glauben und allein aus Gnade. Jesus Christus ist der alleinige Mittler des Heils.

Diese Dimension der Freiheit in Christus hat die Geschichte Europas zutiefst geprägt: Nicht nur die Geschichte unserer Kirchen, sondern auch die Geschichte unserer Kulturen, Gesellschaften und Staaten. «Europa» ist nicht denkbar ohne die reformatorische Botschaft von der Freiheit.

Vor diesem Hintergrund habe ich meine Überlegungen überschrieben mit dem Titel: Die Bedeutung des Protestantismus für Europa.

2. Bedeutung des Protestantismus für Europa?

Anlässlich einer ökumenischen Versammlung könnte dieser Titel irritieren: Geht es heute nicht darum, dass die christlichen Kirchen gemeinsam einen Auftrag  für Europa haben?

Wenn ich über die Bedeutung des Protestantismus für Europa spreche, so ist die Perspektive keine konfessionalistisch abgrenzende, sondern eine zutiefst ökumenische. Ökumenisch aber so, wie wir in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen echte Ökumene eben verstehen: Wir glauben die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche in der geschichtlichen Gestalt unterschiedlicher Kirchen. Jede dieser unterschiedlichen Kirchen mit ihrem eigenen Profil – sofern sie auf Gottes Wort hört und die Sakramente schriftgemäß feiert − ist im Vollsinn Kirche, ist eigenständige creatura verbi.

«Einheit in versöhnter Verschiedenheit» ist das Ökumenemodell der evangelischen Kirchen. In gegenseitiger Anerkennung stehen wir gemeinsam im Auftrag der Verkündigung des Evangeliums und streben nach der Einheit, die vor uns liegt und allein in Christus uneingeschränkte Wirklichkeit ist. Volle sichtbare Einheit ist und bleibt auch für uns der Auftrag. Volle sichtbare Einheit kann aber für uns um des Evangeliums willen nicht Uniformität bedeuten. Die Frage, die wir deshalb in die Ökumene einbringen, lautet: Könnte es nicht sein, dass das, was wir gemeinhin als konfessionelle Spaltung beklagen, auch als gute göttliche Vorsehung verstanden und gelebt werden könnte? Könnte es nicht sein, dass die Vielfalt das christliche Zeugnis nicht schwächt, sondern – im Gegenteil – stärkt?

Das Evangelium ist das Geschenk Gottes an die Gemeinschaft der Kirche, das uns alle zu einer Gemeinschaft der Beschenkten verbindet. Die evangelischen Kirchen aber sind und bleiben diesem Evangelium in besonderer Weise verpflichtet. In dieser Perspektive spreche ich an unserer ökumenischen Begegnung von der Bedeutung des Protestantismus für Europa.

3. Europa braucht das Evangelium – als Botschaft der Versöhnung

Gleichzeitig ökumenisch und evangelisch würde ich formulieren:

Europa braucht nicht Religion, Europa braucht auch nicht das Christentum oder die Kirchen. Europa braucht das Evangelium. Denn Europa braucht Versöhnung. Und Hoffnung.

«Europa ist aus dem Schmerz geboren», so formulierte es der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer vor einigen Jahren bei seinem Besuch in der Schweiz. Europa hat in der Geschichte seine Probleme sehr oft mit Kriegen, mit Spaltungen, mit der Errichtung von Mauern gelöst. Daran waren auch die Kirchen nicht unbeteiligt. Wenn Europa nun versucht, gemeinsam in die Zukunft zu gehen, so können wir Kirchen nicht abseits stehen.

Was aus dem Schmerz geboren ist, braucht in erster Linie die Hoffnung auf Versöhnung. Ich betrachte deshalb die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat als die wichtigste Aufgabe der Kirchen in Europa. Europa braucht die Hoffnung des Evangeliums. Europa braucht Zeichen einer in Christus versöhnten Menschheit. Die Kernaufgabe der Kirchen im neuen Europa ist also zuallererst eine ökumenische. Gemeinsam sind wir Europa das Evangelium als Botschaft der Versöhnung schuldig.

4. Die Bedeutung des Protestantismus für Europa!

Europa braucht das Evangelium. Diese Aussage ergänze ich durch eine zweite: Europa braucht das evangelische Zeugnis des Evangeliums.

Ich bin davon überzeugt, dass der Protestantismus – als Teil des gesamtchristlichen Zeugnisses und Dienstes – für Europa eine ganz spezifische Bedeutung hat. Man könnte hier verschiedene wichtige Aspekte entfalten: Der Protestantismus als Konfession der Freiheit, der Protestantismus als Konfession der Individualität und der Bildung, der Protestantismus als Konfession der Partizipation und der Demokratie, der Protestantismus als Konfession der die Weltlichkeit der Welt bejahenden Weltverantwortung.

Mit Blick auf Europa und seine Herausforderungen will ich mich auf drei Aspekte beschränken. Die Bedeutung des Protestantismus für die Einheit (4.1) , die Säkularität (4.2) und die Demokratie (4.3) Europas.

4.1 Die Bedeutung des Protestantismus für die Einheit Europas

Europa ist mehr als die Europäische Union. Darin sind wir uns einig. Allerdings befinden wir uns zurzeit in einer fast paradoxen Situation: durch die kontinuierliche Erweiterung der Europäischen Union wird das politische Europa immer größer. Andererseits – emotional – scheint Europa seit dem 11. September 2001 kleiner werden zu wollen. Es gibt Stimmen, auch in unseren Kirchen, die Europa auf einen Kreis von «geistig-kulturell» verwandten Ländern zu beschränken vorschlagen. Dahinter steht die berechtigte Vorstellung, dass das jüdisch-christliche Erbe die Werte Europas entscheidend mitgeprägt hat.

Der Ruf nach einer Besinnungspause in der europäischen Erweiterung ist nur zu gut nachvollziehbar. Insbesondere für uns Schweizerinnen und Schweizer, die wir mit dem Europa der Union nach dem Willen des Souveräns erst mit Verträgen verbunden sind. Nach mehr als 700 Jahren empfinden wir das Zusammenleben zwischen vier Sprachen und Kulturen nach wie vor als dauernde Herausforderung. Nicht zu Unrecht spricht man von der Schweiz als einer Willensnation.

Um wie viel größer ist die Herausforderung, wenn die Gemeinschaft 27 Staaten, 23 Amtssprachen und eine Vielzahl von Kulturen und Mentalitäten umfasst. Dazu kommen – und das ist noch viel entscheidender – schmerzvolle Erfahrungen und tiefe Wunden, die im kollektiven Bewusstsein der Völker dieser Gemeinschaft teilweise tief verankert sind. Die Frage, ob die Integrationskraft der Europäischen Union nicht ihre Grenze erreicht hat, ist vor diesem Hintergrund verständlich.

Eberhard Jüngel hat in einem programmatischen Vortrag anlässlich der Europäischen Evangelischen Versammlung in Budapest 1992 auf einen entscheidenden Punkt hingewiesen: «Verheißung hat eine evangelische europäische Versammlung … nur, wenn sie zu einem Aufbruch führt, bei dem nicht irgendeine respektable Vergangenheit leitend ist, sondern allein die uns zuvorkommende Gnade Gottes».»

Müsste man dasselbe nicht auch für Europa sagen? Verheißung hat Europa nur, wenn es zu einem Aufbruch führt, bei dem nicht irgendeine respektable Vergangenheit leitend ist. Verheißung hat Europa nur, wenn es nicht geleitet ist von Heimweh zu dem, was scheinbar einmal gewesen ist.

Mit der Leuenberger Konkordie haben die evangelischen Kirchen in Europa vor dreissig Jahren ihre seit der Reformation bestehenden konfessionellen Trennungen überwunden. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leuenberger Konkordie auch für das Zusammenwachsen der Völker und Kulturen Europas ein Modell sein, einen Impuls geben könnte: Einheit in versöhnter Verschiedenheit. So wie die Einheit der Kirchen vor uns liegt, weil Christus auf uns zukommt und deshalb die Rückkehrökumene keine Option sein kann, so zukunftsoffen müsste auch die Suche nach der Einheit Europas sein.

Die Einheit Europas wird nicht in der Wiederherstellung des christlichen Abendlandes liegen. Die Einheit Europas liegt vor uns, in einer Form, die wir zu suchen und Schritt für Schritt gemeinsam zu gestalten haben. Dabei wird das christliche Europa seine Werte und seinen geistig-kulturellen Reichtum zweifellos einbringen. Das christliche Europa wird auch auf Errungenschaften hinweisen, die nicht zur Disposition stehen dürfen, wie die unverlierbare Würde des Einzelnen vor Gott, die Menschenrechte, die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit.

Aber wir müssen auch dafür offen sein, dass Andere ihre Werte und ihren geistig-kulturellen Reichtum einbringen und Europa gestärkt aus diesem Austausch hervorgeht. Die Menschen anderer Religionen und Kulturen: sie leben ja nicht nur im «europäischen Gürtel befreundeter Staaten»»: sie sind schon da, als Migrantinnen und Migranten, mitten in Europa, sie leben unter uns.

Die Suche nach der Einheit Europas muss gleichzeitig vergangenheitsbewusst und zukunftsoffen sein. Diese Zukunftsoffenheit auszuhalten und unter Einbezug der Vergangenheit in Freiheit zu gestalten, dazu können die evangelischen Kirchen beitragen.

4.2 Die Bedeutung des Protestantismus für die Säkularität Europas

«Wir müssen Europa eine Seele geben», hatte Jacques Delors einprägsam gefordert. Dahinter steht die Frage, was Europa im Innersten zusammenhält.

Das Bild der Seele Europas: es hat etwas Bestechendes, Faszinierendes. Aber wir sollten dieses Bild hinterfragen. Ist es wirklich hilfreich, wenn wir unsere Vorstellungen von Europa leiten lassen von einem Bild, das unmittelbar Assoziationen wie Unsterblichkeit und Göttlichkeit weckt?

Ich erinnere an dieser Stelle an ein Wort von Wolfgang Huber, wonach uns der Glaube an Gott bewahrt vor der Versuchung, die Dinge des Diesseits jenseitig aufzuladen. Europa ist auch aus dem Schmerz geboren, weil Politik und Religion in der Vergangenheit auf unheilvolle Weise vermischt wurden.

Ein wichtiges Kennzeichen reformatorischen Glaubens ist die Unterscheidung zwischen dem göttlichen und weltlichen Regiment Gottes. Oder wie Zwingli es formuliert hat: zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit. Christinnen und Christen sind als im Christusgeschehen Befreite verwiesen auf die Weltlichkeit der Welt. Dies gilt auch für die Gestaltung von Kirche. Der Protestantismus unterscheidet klar zwischen der Kirche und dem Herrn der Kirche. Die Kirche ist nicht die Wahrheit, sie dient der Wahrheit. Heilig ist nicht die Kirche, heilig ist allein Jesus Christus als Ursprung und Grund der Kirche.

Unser Kontinent ist ein Lebensraum, in dem Menschen unterschiedlichster Identitäten, Kulturen, Konfessionen und Religionen zusammenleben. Diesen Lebensraum weder religiös noch ideologisch zu überhöhen, sondern als gemeinsamen Raum der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens zu gestalten, ist eine große Herausforderung.

Die Säkularität Europas ist vor diesem Hintergrund kein Defizit, das überwunden werden müsste, sondern im Gegenteil: Voraussetzung für das Gelingen des Projekts.

Europa hat starke christliche Wurzeln. Deshalb werden wir uns als Kirchen in diesen Gestaltungsprozess eingeben. Aber wir sollten es nicht tun mit dem –auch nur versteckten – Ziel, dieses Europa zu einem christlichen Europa zu machen. Es sollte uns um den Aufbau eines menschlichen, eines gerechten und eines friedlichen Europa geben. Sonst steht zu befürchten, dass wir entgegen unseren Beteuerungen dennoch das Bild einer Festung Europa in uns tragen. Nicht einer wirtschaftlichen oder militärischen, aber einer geistig-kulturellen Festung.

Evangelische Freiheit misst sich letztlich immer daran, ob die Freiheit als Raum zur Liebe verstanden wird. Johannes Calvin formulierte es in der Institutio sinngemäss so: Ein frommer Mensch ist ein Mensch, der sich in den äusseren Dingen von der Freiheit und in den inneren Dingen von der Liebe leiten lässt. (Institutio III / 19,12).

Müssen wir Europa eine Seele geben? Das war unsere Frage. Wir sollten pragmatisch denken. Europa muss weder unsterblich noch göttlich sein. Europa muss menschlich sein. Deshalb würde ich sagen: Wir müssen Europa ein Herz geben. Denn nur wenn unser Europa getragen ist in den Herzen der Menschen, wird es auch leben.

4.3 Die Bedeutung des Protestantismus für die Demokratie Europas

Ein menschliches Europa muss von den Menschen getragen und gestaltet sein. Eine der großen Herausforderungen besteht deshalb darin, dass das Europa der Regierungen zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger wird.

Wenn Europa ein säkulares, ein weltliches und menschliches Projekt ist, dann gehört doch wohl auch das dazu, was wir in der evangelischen Kirche als semper reformanda bezeichnen. Zur Säkularität gehört die Reformoffenheit Europas. Zur Reformoffenheit gehört die Demokratie.

Wir haben dem Europa der Regierungen viel zu verdanken: 60 Jahre Frieden und Stabilität, seit 1990 auch die gemeinsame Erfahrung der Freiheit. Aber Friede ist ja bekanntlich mehr als die Abwesenheit von Krieg, Stabilität mehr als das Gleichgewicht der Kräfte und Freiheit mehr als offene Grenzen. Und so muss Europa – wenn es denn getragen sein soll in den Herzen der Menschen − mehr sein als das Europa Brüssels und Straßburgs.

Ich darf das so offen ansprechen, weil wir zurzeit in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa Analoges erfahren. Mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie im Jahr 1973 haben die evangelischen Kirchen untereinander Kirchengemeinschaft erklärt. Diese Erklärung der Kirchengemeinschaft war eine Erklärung von Kirchenleitungen. Wie die Europäische Union hat sich auch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa laufend erweitert. Ursprünglich zählte die Leuenberger Kirchengemeinschaft 69 Signatarkirchen (1976), heute sind es 105 (2007). Diese Gemeinschaft wird nur dann wirklich eine Bedeutung und eine Kraft entfalten, wenn die erklärte Gemeinschaft zwischen den Konfessionen bis zu den Kirchen vor Ort, den Kirchgemeinden und den Menschen vordringt. Bei der Konzeption ihrer konfessionellen Zusammenschlüsse müssen sich die evangelischen Kirchen also selbst auf eines der wichtigsten Elemente ihres Selbstverständnisses zurückbesinnen: die Partizipation des Einzelnen, das synodale und presbyteriale Prinzip. Wenn die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa nicht von den Kirchgemeinden und von den Menschen mitgetragen wird, wird sie nicht die Zukunft haben, die wir uns erhoffen. Kirche ist nicht die Gemeinschaft der Kirchenleitungen. Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden.

Gemeinschaft zwischen Institutionen zu erklären, ist die Sache von Regierungen oder Kirchenleitungen. Die Gemeinschaft zwischen den Institutionen verwirklichen, kann man nur mit den Menschen zusammen.

Auch Europa muss von einer Gemeinschaft der Regierungen zu einer Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger werden. Da liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns. Die europäischen Kirchen als Gemeinschaften nahe bei den Menschen wollen zur Einigung des europäischen Kontinents beitragen. Dazu haben sie sich in der Charta Oecumenica selbst verpflichtet.

Die evangelischen Kirchen in Europa können auf diesem Weg einen besonderen Impuls geben. Die Aufwertung der Individualität ist ein wesentliches Merkmal des Protestantismus. Der einzelne Mensch ist unmittelbar zu Gott, coram Deo. Deshalb ist der Protestantismus zutiefst geprägt von der Skepsis gegenüber allem, was sich zwischen den einzelnen Menschen und Gott stellt. Die Europaskepsis: Könnte sie mit der konkreten Europa-Erfahrung der Menschen zusammenhängen? Könnte sie damit zu tun haben, dass – obwohl der Protestantismus in Europa nur 13 Prozent der Bevölkerung ausmacht – doch sehr viele Menschen an dieser Stelle protestantisch denken?

Das Volk hat vermutlich nicht immer recht. Aber was Recht ist und Recht wird, das muss vom Volk getragen sein.

Pfarrer Thomas Wipf ist Geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes