"Unsere Vision für Europa und die Erweiterung der EU" - Vortrag bei der Ökumenischen Kirchenversammlung in Wittenberg

Rüdiger Noll

Visionen

Es ist so eine Sache mit den Visionen. „Vision [lat visio ›Sehen‹, ›Anblick‹. ›Erscheinung‹] die“, erklärt mein Lexikon, „ 1) in der Religionswiss. als Wirklichkeit empfundene visuelle Wahrnehmung, die den (religiösen) Menschen  unerwartet überkommt oder von ihm bewusst (in Ekstase oder Trance) herbeigeführt wird, der jedoch kein empirisch fassbarer Gegenstand entspricht …; 2) opt. Halluzination; 3) Vorstellung von der Zukunft, Zukunftsentwurf“.

Die Vision im religiösen Sinn braucht die längste Erklärung. Bemerkenswert der Einwurf, dass ihr kein empirisch fassbarer Gegenstand entspricht. Der Übergang von einer Vision zu einer Halluzination scheint fliessend. Ich denke, das mir aufgegebene Thema spricht von einer Vision in dem dritten Sinn, im Sinne einer Vorstellung von der Zukunft, von einem Zukunftsentwurf. Was dieser mit dem christlichen Glauben zu tun hat, wird dann noch erhoben werden müssen.

Brauchen wir Visionen zur Zukunft Europas?

2.1 Im Buch der Proverbien der Hebräischen Bibel heisst es: „Wo es keine Vision gibt wird das Volk wild und wüst, aber wohl dem, der auf die Weisung achtet.“ (Spr. 29,18) . Hinter dieser Weisheit steht natürlich die Lebenserfahrung, dass dort, wo es keine gemeinsame Vision (mehr) gibt, alles in Einzelinteressen zerfällt. Dort, wo es einem Volk  an einem inneren Zusammenhang, an gemeinsamen Zielvorstellungen und Zukunftsperspektiven fehlt, dort setzen sich Partikularinteressen durch, dort gilt das Gesetz des Stärkeren und ein Volk wird eben wild und wüst.

Im Gegensatz zu dieser weisheitlichen Erkenntnis wird dem deutschen Altbundskanzler Helmut Schmidt der Satz zugeschrieben: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“  Hier spricht der Realpolitiker, der genau darum weiss, dass es in der Politik um handfeste auf Fakten gestützte Entscheidungen geht, oftmals um Kompromisse, die visionären Ansprüchen allzu oft nicht standhalten. Es geht um Kärnerarbeit. Aber letztlich wird auch ein Realpolitiker wie Helmut Schmidt wissen, dass es ohne eine orientierende Zukunftsperspektive nicht geht, denn wie soll man letztlich in Teilbereichen adäquat handeln können, wenn man das Ganze nicht mehr vor Augen hat, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Als Konferenz Europäischer Kirchen haben wir diese Spannung zwischen der Entwicklung einer gemeinsamen Vision für ein neues Europa und ökumenischer Realpolitik selbst sehr deutlich erfahren. Ich erinnere mich noch genau an die Erwartungen an unsere Vollversammlung in Prag 1992, keine drei Jahre nach den revolutionären Veränderungen in Osteuropa. Die einen erwarteten von der Versammlung eine neue Vision für ein radikal verändertes Europa, die anderen ökumenische Kärnerarbeit. Dementsprechend fielen dann auch die Beurteilungen der Versammlung aus. Für die Kirchen erwies sich der Zeitpunkt für eine neue umfassende Vision als noch zu früh.

Ich denke in Europa –und gerade auch im Blick auf die Europäische Union- sind wir seit einigen Jahren wieder an einem solchen Punkt angelangt, an dem an ursprüngliche Visionen erinnert werden muss und die ursprünglichen Visionen durch neue ergänzt werden müssen.

Am Anfang dessen, was heute die Europäischen Union ausmacht, stand die gemeinsame Vision von einem friedlichen und versöhnten Europa, in dem ehemals feindlich gegenüberstehende Staaten wirtschaftlich so miteinander verpflochten sind, dass ein Krieg nicht nur undenkbar, sondern auch wirtschaftlich unmöglich werden sollte.  Am Anfang stand die Montan-Union, ein Friedens- und Versöhnungsprojekt – ein überaus erfolgreiches Projekt, wie sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte, auch wenn die wirtschaftlichen Aspekte dieses Projekts zu stark in den Vordergrund getreten sind.

In den letzten Jahren, mit dem Verblassen der Kriegserfahrungen, ist dieses Projekt jedoch zunehmend ins Stocken geraten. Gegenüber einer gemeinsamen Vision sind die Einzelinteressen der Mitgliedstaaten wieder in den Vordergrund getreten. Ich denke, dass es diese Entwicklung ist, die die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei ihrer Zusammenkunft im Dezember 2002 in Laaken veranlasst hat unter der Überschrift „Europa am Scheideweg“ folgendes zu formulieren:

„Kurz, der Bürger verlangt ein klares, transparentes, wirksames, demokratisch bestimmtes gemeinschaftliches Konzept, das Europa zu einem Leuchtfeuer werden lässt, das für die Zukunft der Welt richtungsweisend sein kann, ein Konzept, das konkrete Ergebnisse zeitigt, in Gestalt von mehr Arbeitsplätzen, mehr Lebensqualität, weniger Kriminalität, eines leistungsfähigen Bildungssystems und einer besseren Gesundheitsfürsorge. Es steht ausser Frage, dass Europa sich dazu regenerieren und reformieren muss.“

Diese Einsicht der Staats- und Regierungschefs führte dann zur Einrichtung des „Konvents über die Zukunft Europas“, der eine Verfassung für Europa (besser: für die Europäische Union) erarbeiten sollte. Der Verfassungsentwurf als Antwort u.a. auch auf die Frage nach dem Zukunftskonzept (der Zukunftsvision) für die Europäische Union.

Wie wir alle wissen, ist allerdings auch dieser Ansatz nicht zuletzt durch das „Nein“ der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden ins Stocken geraten.  Die deutsche EU Ratspräsidentschaft soll nun im ersten Halbjahr dieses Jahres einen Vorschlag erarbeiten, wie mit dem Verfassungsvertrag weiter verfahren werden soll.

Gleichzeitig hat die Europäische Kommission einen Diskussionsprozess zu Zukunft Europas in Gang gesetzt, der eine grösstmögliche BürgerInnenbeteiligung erreichen soll. Und schliesslich feiert die Europäische Union am 23./24. März dieses Jahres das 50jährige Bestehen der Römischen Verträge, gleichsam ihre Gründungsurkunde.. Aus diesem Anlass soll eine „Berliner Erklärung“ verabschiedet werden, die an die ursprüngliche Vision der EU erinnert, ihre gegenwärtigen Herausforderungen benennt und Zukunftsperspektiven eröffnet. Nicht wenige verknüpfen mit dieser Erklärung die Hoffnung, dass von ihr ein Signal und einen Impuls ausgeht wie etwa von der Erklärung Robert Schumanns (1950) oder von der Erklärung von Messina (1955). Es geht um nicht weniger als um eine erneuerte Vision von Europa!

Als Kirchen Europas sind wir herausgefordert, uns an diesen Prozessen zur Zukunft Europas zu beteiligen und unsere Stimme, in ökumenischer Verbundenheit möglichst gemeinsam, einzubringen. Wie könnte es auch anders sein, da wir als Kirchen die Rechtfertigung des Menschen in Christus bekennen und Gott als Schöpfer, Erhalter und Erlöser der Welt anbeten. Unsere Vision, an der auch Handeln der Menschen in der Welt gemessen werden muss, ist Gottes Offenbarung in Jesus Christus. Das ist keine nur zukunftsbezogene Utopie, das ist eine begründete Hoffnung, die Auswirkungen auf das hier und jetzt hat – und auch auf Strukturen, die das Leben der Menschen in Europa bestimmen. Hier verbinden sich Vision und Offenbarung, Hoffnung und Gegenwartshandeln. Wie sollte es anders sein, als dass wir als Kirchen in Europa Zeugnis davon ablegen, was am Anfang der Predigt Jesu steht: „Der Geist des Herrn ist auf mir , weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Bilden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4, 18+19)

Meine Hoffnung ist, dass es uns auf dem verbleibenden Weg nach Sibiu und während der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung selbst gelingen möge, unsere Vision für Europa, für ein „Europa am Scheideweg“ , neu zu formulieren und zu artikulieren. Europa sucht nach einer neuen Metapher und nach einer neuen Vision, um aus dem Stottern herauszukommen. Vielleicht ist das eine Überforderung die Metapher oder die Vision ins Spiel bringen zu wollen, aber wir sollten es wenigstens versuchen.

Und selbst dies ist nur ein erster Schritt. Wir werden darüber hinaus begleiten müssen, wie sich unsere Vision von Europa in konkrete Politik umsetzt.

Es ist nun nicht so, dass wir uns nicht schon längst auf den Weg gemacht hätten. Es gibt Material, auf das wir aufbauen können. Als Kommission Kirche und Gesellschaft und als COMECE haben wir den Konvent über die Zukunft Europas intensiv begleitet und immer wieder betont, dass Europa und die Europäische Union mehr sein muss als nur ein Wirtschaftsraum. Die Europäische Union müsse eine auf gemeinsamen Werten basierende Gemeinschaft sein. In unseren Stellungnahmen haben wir Werte und Prinzipien hervorgehoben wie Freiheit und Solidarität, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit als integraler Bestrandteil aller EU-Politik, Partizipation und Subsidiarität. Man könnte unsere Eingaben mit dem ökumenischen Konzept zusammenfassen, das bis 1975 das ökumenische Handeln der Kirchen in der Gesellschaft bestimmt hat: Wir treten ein für ein gerechtes, partizipatorisches und nachhaltiges Europa ein.

In der Charta Oecumenica halten wir fest: „Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt.“ Um dieser Überzeugung und Verantwortung Rechnung tragen zu können, muss den Kirchen die Möglichkeit der Mitgestaltung im öffentlichen Raum erhalten bleiben.. Insofern haben wir uns auch für die Respektierung der Bestehenden Staat-Kirche Beziehungen in den EU Mitgliedstaaten durch die Europäischen Institutionen und für einen „offenen, transparenten und regelmässigen Dialog“ der Europäischen Institutionen mit den Religions- und Glaubensgemeinschaften eingesetzt. Neben diesen, die Europäischen Institutionen rechtlich bindenden Bestimmungen, haben wir dann auch einen Gottesbezug oder einen Bezug auf das christliche Erbe Europas in der Präambel der Verfassung als wünschenswert hervorgehoben.

Im Blick auf die „Berliner Erklärung“ der Staats- und Regierungschefs hat die Kommission Kirche und Gesellschaft im Dezember unter dem Titel „Werte – Religion - Identität„ ein Treffen kirchenleitender Persönlichkeiten aus KEK-Mitgliedkirchen veranstaltet. Die COMECE hat einen Rat der Weisen eingerichtet, der einen Bericht über die Werte der Europäischen Unio verfassen und einen Kongress anlässlich des 50jährigen Bestehens der Römischen Verträge vorbereiten soll.

Europavisionen

Lassen wir uns auf dem Wege zu einer erneuerten Europavision von bestehenden Visionen inspirieren. Und lassen Sie mich mit der Karikatur einer Vision beginnen, die 1990 bei einem KEK-Studientreffen zum Thema „Mission der Kirchen in einem säkularen, sich veränderten Europa“ eine gewisse Rolle gespielt hat:

3.1

Alle Ingenieure sind Franzosen - Alle Ingenieure sind Deutsche
Alle Köche Engländer - Alle Köche Franzosen
Alle Liebhaber Schweizer - Alle Liebhaber Italiener
Alle Polizisten Deutsche - Alle Polizisten Engländer
Und organisiert wird Europa von den Italienern. - Und organisiert wird Europa von den Schweizern.

Die erste dieser Visionen wird oft als Beschreibung eines Alptraumes, die zweite als Beschreibung eines Wunschtraumes herangezogen. Für mich stellen beide „Visionen“ Alpträume dar. Sie arbeiten mit Stereotypen. Als Deutscher könnte ich mir noch andere als die mir hier zugewiesenen Rollen vorstellen.

Beide Visionen gehen von einem uniformierten Europa aus.  Demgegenüber setzen wir uns in der Ökumene für eine „Einheit in Vielfalt“ oder besser für eine „versöhnte Verschiedenheit“ ein. Diese, in der Ökumene längst bestehende Metapher, hat nun auch Eingang in den Verfassungsvertrag der Europäischen Union gefunden. Vielleicht ist dies der wichtigste Beitrag, den die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen für Europa leisten kann, nämlich vorzuleben, wie „Einheit in Vielfalt“ und „versöhnte Verschiedenheit“ gelebt werden kann. Dazu bildet die Charta Oecumenica mit ihren Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit der Kirchen in Europa ein wichtiges Vehikel. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie wird bei aller Verschiedenheit die Einheit und Versöhntheit sichtbar? Wie kann Einheit und Versöhntheit gelebt werden, so dass Verschiedenheit als Bereicherung und nicht als Hindernis deutlich wird?

Und schliesslich: beide Alpträume beziehen ausschliesslich westeuropäische Länder ein! Demgegenüber haben KEK, CCEE und COMECE immer wieder betont, dass ihre Vision eine gesamteuropäische, wenn nicht globale ist. Auch nach den letzten beiden Erweiterungen wird Europa auch auf absehbare Zeit grösser sein als die Europäische Union. Der Begriff der „europäischen Integration“ bezeichnet für uns als Kirchen in seiner horizontalen wie vertikalen Dimension eben mehr als nur die Erweiterung der Europäischen Union. Dem sind wir in unserer Begleitung der Europäischen Institutionen in Brüssel verpflichtet. Und das hat ganz konkrete Auswirkungen bezüglich der Optionen in einzelnen Politikbereichen.

3.2 Die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung in Sibiu sieht sich in der Tradition der vorangegangenen ökumenischen Versammlungen. In diesem Sinne möchte ich noch einmal ausdrücklich auf die Europavision im Abschlussdokument der Versammlung von Basel 1989 verweisen. Dort gibt es ein eigenes Europa-Kapitel: „Auf dem Weg zum Europa von morgen“.  Damals, sechs Monate vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, noch unter den Bedingungen eines geteilten Europas, haben KEK und CCEE das Bild vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ aufgenommen. Dieses Bild hat zum Weiterdenken angeregt. Wir haben damals vom „gemeinsamen Haus in Dorf der Welt“ und von den „Leichen im Keller dieses Hauses“ gesprochen. Schliesslich stellt das das Schlussdokument der Basler Versammlung eine Hausordnung für das gemeinsame europäische Haus auf:

das Prinzip der Gleichheit aller Bewohner, seien sie stark oder schwach,

die Anerkennung von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und Partizipation,

eine positive Einstellung gegenüber Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen,

offene Türen und Fenster – mit anderen Worten viele persönliche Kontakte und viel Gedankenaustausch

Konfliktlösung durch Dialog und nicht durch Gewalt.

Auch wenn das Bild vom gemeinsamen europäischen Haus seinen historischen Platz zum Ende des Kalten Krieges hatte, so glaube ich, dass die in Basel von KEK und CCEE formulierten Hausregeln auch heute noch immer von Bedeutung sind und eine bleibende Herausforderung in einem radikal veränderten Europa darstellen.

Mir fällt auf, dass es in den Schlussdokumenten der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 kein eigenes Europa-Kapitel gibt, dass keine so eingängige Metapher und Vision für Europa formuliert werden konnte. Ich würde gerne einer Arbeitshypothese einmal genauer nachgehen: Kann es sein, dass auch wir als Kirchen keine so eindeutige Vision für Europa mehr formulieren konnten, als das Gegenüber, der totalitäre kommunistische oder sozialistische Staat zusammengebrochen war, als wir als Kirchen unsere Vision nicht mehr nur „gegen“ etwas, sondern „für“ etwas formulieren sollten, als wir als Kirchen aufgerufen waren, Mitgestalterinnen in einem veränderten Europa zu werden? Gerade heute geht es darum eine positive Vision von Europa zu entfalten! Oder ist es einfach nur so, dass die Sachlage und die politischen Optionen unter den veränderten Bedingungen einfach immer komplexer geworden sind und sich eine vereinfachende und inspirierende Vision kaum mehr finden lässt?

Die Charta Oecumenica spricht auch weniger von einer Vision von Europa, als vielmehr von der Verantwortung der Kirchen für Europa. Das ist ihrer Zielsetzung gemäss nur natürlich. Aber auch die allgemeine Europadiskussion in den Kirchen (sofern sie denn stattfindet), konzentriert sich weniger auf eine Vision als auf die der europäischen Integration zugrunde liegenden Werte. Europa muss eine auf gemeinsamen Werten basierende Gemeinschaft sein, ist das allgemeine Credo. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Wertedebatte allein ausreicht, um Europa wieder in Schwung zu bringen. Die Kommission Kirche und Gesellschaft der KEK war jedenfalls der Meinung, dass es neben der Suche nach gemeinsamen Werten auch wieder der Suche nach den grossen Narrativa bedarf, die den Zusammenhalt Europas ausmachen und beschreiben.

Wie wollen wir dass Europa im Jahre 2030 aussieht und welcher Schritte bedarf es, um dorthin zu gelangen? Das scheint mir eine nicht nur berechtigte, sondern auch notwendige Frage zu sein, der wir uns im Sibiu-Prozess stellen müssen.

3.3 Ich will zum Schluss dieses Abschnitts noch einmal auf die Visionen der europäischen Institutionen und Organisationen selbst eingehen und dabei über die Europäische Union hinaus blicken.

Dass am Anfang dessen, was heute die Europäischen Union ist, die Vision von Frieden und Versöhnung stand, ist schon erwähnt worden. Durch die Betonung der wirtschaftlichen Dimension ist diese Vision allerdings durch das Streben nach allgemeinem Wohlstand überlagert worden.

Heute wird vielfach bezweifelt, dass diese Zielvorstellungen, die mit der Europäischen Union verbunden werden, noch zugkräftig sind. In gewisser Weise ist die Europäische Union Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Kaum jemand erinnert sich noch an Europa als einen Kontinent, von dem zwei Weltkriege ausgegangen sind. „ In dem Masse, in dem die Vermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen innerhalb Europas als explizites Integrationsziel in den Hintergrund gerät, nimmt die moralische Verpflichtung der europäischen Staaten zur Zurückhaltung bei der Formulierung nationalstaatlich motivierter politischer Ziele ab.“

Für weite Teile der Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union ist relativer Wohlstand zu einer Selbstverständlichkeit geworden. So sucht man dann nach den neuen Herausforderungen, gegenüber denen dann neue Zielvorstellungen entwickelt werden. Sehr schnell kommt dann die Globalisierung in den Blick. Gegenüber den neuen Märkten wird dann die neue Zielvorstellung ausgegeben, die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und wissensbasiertesten Gebilde in der Welt zu machen. Man kann die Herausforderungen durch die Globalisierung auch anders aufnehmen, ohne die wirtschaftliche Kraft der Europäischen Union abmildern zu wollen: Dann kommen neue Fragen in den Blick:

Welche Verantwortung hat die Europäische Union für eine grösseres Europa und die weltweit vorherrschende Armut, die vielen Menschen ein Leben in Menschenwürde weiterhin vorenthält?

Nicht zuletzt angesichts der Klimaveränderungen, der vielleicht grössten Herausforderung unserer Zeit, stellt sich die Frage nach der Verantwortung Europas und der Europäischen Union für eine nachhaltige Entwicklung, die die Rechte künftiger Generationen einschliesst, und den Grenzen des Wachstums.

Selbst innerhalb der Europäischen Union (vor der letzten Erweiterung) leben  72 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht.  Wie kann der relative Reichtum besser verteilt werden?

Wenn das europäische Projekt in der Wahrung von Frieden und der Ermöglichung von Versöhnung mit zivilen Mitteln so erfolgreich war, wie kann dieses Projekt auf globaler Ebene fruchtbar werden?

Solidarität, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit werden dann zu Werten, die es in der gegenwärtigen Situation besonders zu betonen gilt.

Die Europäische Union ist ein Erfolgsprojekt. Manchmal hilft der Blick von Aussen, um einen Erfolg wirklich zu ermessen. Jeremy Riffkin hat mit seinem Buch „Der Europäische Traum“ aus amerikanischer Perspektive eine solche Wertschätzung vorgelegt. Für den Fortgang des Projekts hält er fest: „Der Europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes Wachstum, spielerische Entfaltung über ständige Plackerei, universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.“

3.4 Der Europarat mit heute 46 Mitgliedstaaten ist mit dem Ziel, Demokratie und Menschenrechte zu fördern, gegründet worden. Als sich 1990 die Staats- und Regierungschefs angesichts der veränderten Situation im Rahmen der OSZE trafen, haben sie ein Charter von Paris  für ein neues Europa verabschiedet. Darin wird übereinstimmend festgestellt, dass das neue Europa auf den Grundfesten von Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit aufgebaut werden muss. Damit sind Grundvoraussetzungen für ein gerechtes, partizipatorisches und nachhaltiges Europa in der Welt benannt. Auch daran muss erinnert werden, wenn es um eine neue Vision von Europa geht. Insbesondere deshalb, weil heute vielfach die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte in Frage gestellt wird. Menschenrechte – das sind allerdings nicht nur die individuellen Freiheitsrechte, sondern auch die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte. Individuelle Freiheitsrechte und Solidarität, Freiheit und Verantwortung gehören untrennbar zusammen.

Europäische Vision und EU Erweiterung

Was werfen die Reflexionen über die europäische Visionen nun für die Frage nach der EU-Erweiterung ab?

Die Frage nach der Vision für die Europäische Union ist nicht zuletzt auch immer mit der Frage nach ihrer geographischen Ausdehnung verknüpft gewesen. Der Verfassungsvertrag hält dazu in Art I-1(2) schlicht fest: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.“ Das heisst: die europäische Union betrachtet sich als eine offene Gemeinschaft ohne ihre geographische Ausdehnung und ohne Europa selbst genauer zu bestimmen. Die (potentielle) Zugehörigkeit wird nicht geographisch bestimmt, sondern über die gemeinsamen Werte und die Bereitschaft, diese gemeinsam zu fördern. Insofern spielt eine Vision von Europa (Europa als Wertegemeinschaft) und die ihr zugrunde liegenden Werte eine gewichtige Rolle im Erweiterungsprozess.

4.1 Die Zukunft der Europäischen Union und künftige Erweiterungen

Insofern ist aber auch verständlich, dass mit der Unsicherheit über die Zukunft der Europäischen Union und dem Stocken des europäischen Projektes auch die Frage der künftigen EU-Erweiterungen ins Stocken geraten ist. Der Präsident der Europäischen Kommission Jose Manuel Barroso hat bei der Einbringung der Beitrittsberichte über Bulgarien und Rumänien in Europäischen Parlament erklärt: „Zu allererst und vorrangig müssen wir das Funktionieren der Union sicherstellen. … Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, meine Position bezüglich zukünftiger Erweiterungen deutlich zu machen. Nach der Vollendung der 5ten Erweiterung mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens glaube ich, dass die institutionelle Reform weiteren Erweiterungen vorausgehen muss. Damit werden wir sicherstellen, dass unsere erweiterte Union in effizienter und harmonischer Weise funktionieren wird.“

Der Europäische Rat hat sich denn auch auf seiner Sitzung im Dezember 2006 ausführlich mit der Kapazität der Europäischen Union befasst, weitere Mitglieder aufzunehmen. Im Ergebnis hat der Europäische Rat aber nicht die Kriterien für weitere beitrittswillige Staaten, sondern das Beitrittsverfahren verschärft.  Die Türkei und die Staaten des westlichen Balkans bleiben im Status von Kandidaten oder potentiellen Kandidaten. Wichtige Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind- das wissen Sie- auf Eis gelegt. Das hat aber nichts mit der Absorbtionsfähigkeit der Europäischen Union als mit den politischen Entwicklungen in der Türkei zu tun.

Als Konferenz Europäischer Kirchen haben wir an verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht, dass wir die Perspektive einer Vollmitgliedschaft der Länder des westlichen Balkans in der EU ausdrücklich begrüssen. Die Beitrittsperspektive hat sich als ein wichtiger Motor der Reformbemühungen in diesen Ländern erwiesen. Weitaus skeptischer haben wir uns hinsichtlich eine baldigen Beitritts der Türkei ausgesprochen, weil wir vor allem im politischen Bereich viele Beitrittskriterien nicht als erfüllt ansehen. Im Bereich der Menschenrechte geht es da vor allem um den Minderheitenschutz und nicht zuletzt auch um die Religionsfreiheit.
 
4.2 Bisherige Erweiterungen – Rumänien als Gastgeberland der EÖV3
Bevor wir nun den ins Stocken geratenen Prozess beklagen, sollten wir uns vor Augen halten, dass auch in Bezug auf die Erweiterung die Geschichte der Europäischen Union eine Erfolgsgeschichte ist. Aus dem Club der 6 von 1957 ist eine Gemeinschaft der 27 im Jahre 2007 geworden. Wer hätte das noch bei der EÖV in Basel zu träumen und bei der EÖV2 1997 zu erwarten gewagt?

Insbesondere die letzten beiden Erweiterungen vom 1. Mai 2004 und vom 1. Januar 2007 sind von besonderer Signifikanz. Mit ihnen sind der Europäischen Union zum ersten Mal Länder beigetreten, die auf der östlichen Seite des Eisern Vorhangs lagen. Am 1. Mai 2004 tagte die neu gewählte Kommission Kirche und Gesellschaft zu ihrer ersten Sitzung. Ich werde die Emotionen und die Freude um Mitternacht nie vergessen, als sich Teilnehmende spontan zu einer Mitternachtsandacht und einem Dankgebet in der Lobby des Hotels zusammenfanden. Ich werde die vielen Telefonanrufe von Freunden aus Osteuropa nie vergessen, die ich bei meiner Rückkehr zu Hause auf meinem Anrufbeantworter vorfand. Für nicht wenige war der 1. Mai 2004 mindestens genauso ein Symbol für das endgültigen Ende des Kalten Krieges wie die Ereignisse im herbst und Winter 1989.

Zur EŐV3 werden wir uns nun in einem der beiden jüngsten Mitgliedländer der Europäischen Union treffen. Ich bin mir nicht sicher, ob viele Menschen in Rumänien  seit dem 1. Januar schon einen gravierenden Unterschied in ihrer Lebenswirklichkeit festgestellt haben. Viele Veränderungen hat es schon im Prozess der Beitrittsverhandlungen gegeben und auf viele Veränderungen werden sich die Menschen noch einstellen müssen.
  
Im Zuge der Beitrittsverhandllungen hat das Land den Bestand der Europäischen Union, den sog aquis communitaire, rund 80000 Seiten eng bedruckten Papiers, übernehmen, d.h. in nationales Recht überführen müssen. Das ist ei sehr einseitiger Prozess, der dem Schutz der bisherigen Erfolgsgeschichte der Europäischen Union dient. Und noch ist dieser Prozess des Beitritts nicht völlig abgeschlossen. Es gibt Schutzklauseln und besondere Beobachtungen sowie Űbergangsbestimmungen. So können noch rumänische Bürgerinnen und Bürger bei weitem noch nicht in allen anderen Eu-Staaten eine Arbeit annehmen. Ich denke, als Kirchen sollten wir uns dafür einsetzen, dass Rumänien sobald als möglich auch alle Vorteile einer vollen EU-Mitgliedschaft eingeräumt werden.

Neben den Hoffnungen über eine EU-Mitgliedschaft gibt es in der rumänischen Bevölkerung aber auch noch viele Sorgen und Befürchtungen. Wenn man auf die Webseite der Vertretung der Europäischen Kommission in Rumänien geht, so findet man unter den Stichworten „Mythen und Wahrheit“ eine lange Liste von Anfragen und Erklärungsversuchen, hinter denen jeweils ganz konkrete Sorgen und Befürchtungen weiter Teile der Bevölkerung stehen. Diese Sorgen sind ernst zu nehmen und wir sollten uns ihrer während der EOV3 annehmen. In der Tat ist Rumänien in eine Gemeinschaft aufgenommen worden, in der der wirtschaftliche Wettbewerb eine prägende Rolle spielt. Die Anpassungsprozesse in einem ehemals kommunistischen und agrarisch geprägten Land werden an weite Teile der Bevölkerung grössere Anforderungen stellen als in den bisherigen Mitgliedstaaten. Als Kirchen müssen wir uns dafür einsetzen, dass unsere Vision eines sozial gerechten, nachhaltigen und partizipatorischen Europas auch für alle Menschen neuer Mitgliedstaaten zum Tragen kommen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Strukturhilfen insbesondere den wirklich Bedürftigen zu gute kommen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass der Minderheitenschutz und die Chancengleichheit für alle Minderheiten uneingeschränkt Geltung hat – insbesondere im europäischen Jahr der Chancengleichheit. Ich denke dabei nicht nur an die nationalen Minderheiten, sondern auch an die grosse Roma-Bevölkerung des Landes. Die Minderheiten müssen während er EOV3 ein Forum erhalten.

Die Beitrittsverhandlungen waren ein recht einseitiger Prozess. Die EŐV3 sollte die Chance bieten, dass wir auf die Menschen in Rumänien hören, ihre Hoffnungen und Sorgen wahrnehmen. Aber auch umgekehrt fragen, was ist ihre Vision von Europa, was können wir von den Menschen in den neuen Mitgliedstaaten lernen, welchen Beitrag können und wollen sie zu dem Projekt Europa beitragen. Mit jeder Erweiterung müssen nicht nur die neuen Mitgliedstaaten lernen und zu neuen Ufern aufbrechen, sondern auch die bisherigen Mitgliedstaaten.

Hier ist also meine zweite grosse Hoffnung in Bezug auf die EŐV3

dass sie ein Forum bietet, auf die Stimme der neuen Mitgliedsländer zu hören. Dabei könnte insbesondere ein Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmenden aus Bulgarien und Rumänien und den am 1. Mai 2004 beigetretenen Ländern eine wichtige Rolle spielen.

dass wir darauf hören, was die Erwartungen und der Beiträge der neuen Mitgliedstaaten für das gemeinsame europäische Projekt sind, dass wir uns der Frage der Minderheiten in Rumänien und Bulgarien und in Europa insgesamt annehmen. Das Konzept der europäischen Integration hat seinen Testfall nicht zuletzt darin, wie wir mit Minderheiten umgehen – nationalen Minderheiten, den Sinti und Roma , denjenigen, die zu uns als Migrantinnen und Migranten, als Flüchtlinge und Asylsuchende kommen und Schutz und eine menschenwürdiges Leben suchen.

4.3 Eine gesamteuropäische Vision und Europas Verantwortung für die Welt
Last but not least, KEK und CCEE als veranstaltende Organisationen der EŐV3 haben immer wieder betont, dass Europa für sie grösser ist als die Europäische Union und dass Europa seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen muss. Europa –so hatte schon Basel betont- darf nicht zu einer Festung werden.

Daher muss unser Blick auch auf eine gerechte Nachbarschafts- und Entwicklungspolitik sowie eine gerechte Friedens- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gerichtet sein, die nicht nur die Länder. Die Nachbarschaftspolitik darf nicht nur auf eine Sicherung der Europäischen Union an ihren Rändern gerichtet sein, sie muss wirkliche Hilfe für die Nachbarstaaten werden. Die Europäische Union stellt zwar weltweit den grössten Anteil der Entwicklungshilfe zur Verfügung, aber wirkliche Veränderungen wird es nur durch veränderte Strukturen in der Zusammenarbeit geben. Gerechte Wirtschaftbeziehungen und Kulturaustausch werden dabei eine besondere Rolle spielen.

Zum Schluss

Angesichts der Unsicherheiten über die Zukunft des europäischen Projektes hat die Europäische Union unter dem Namen „Plan D“ einen Konsultationsprozess lanciert, der insbesondere die Bevölkerung und die Zivilgesellschaft einschliessen soll. „Plan D“ – das steht für Debatte. Diskussion und Demokratie. Daran haben sich die Kirchen schon vielfach beteiligt. Das Treffen kirchenleitender Persönlichkeiten der Kommission Kirche und Gesellschaft im letzten Dezember hat sich auf Anregung des Erzbischofs Yukka Paarma von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands  dafür ausgesprochen, dass der „Plan D“ um einen „Plan C“ ergänzt werden müsse. „C“ – das steht für „Commitment, Compassion und Conviviality“. Möge die EŐV3 zu einer breiten Diskussion und Debatte wie zu einer erneuerten Leidenschaft für Europa, einer neuen Verpflichtung auf Europa und einem Zusammenleben in versöhnter Verschiedenheit beitragen und dabei von dem Kontext, in dem sie stattfindet lernen.

Pfarrer Rüdiger Noll (Evangelisch) ist Direktor der Kommission Kirche und Gesellschaft der KEK.