Predigt über Paul Gerhardts "Zeuch ein zu deinen Toren" in St. Matthäus zu Berlin im Rahmen der Predigtreihe zu Liedern Paul Gerhardts

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

In diesem Gottesdienst singen wir das Pfingstlied Paul Gerhardts "Zeuch ein zu deinen Toren" in voller Länge. Die Fassung im "Evangelischen Gesangbuch" hat 13 Strophen, ursprünglich hatte das Lied 16 Strophen. Wir halten uns aber nicht nur an die originale Länge, sondern auch an die originale sprachliche Fassung. Warum soll es die Liebe zur Aufführung mit Originalinstrumenten nur in der Musik geben?

Ein Predigttext von 16 Strophen ist eine Länge, mit der kein Prediger zu Ende kommt. Ich wähle darum einen persönlich-biographischen Zugang.

I.

"Zeuch ein zu deinen Toren" hatte es schwer, sich in meiner persönlichen Bestenliste der Lieder Paul Gerhardts zu etablieren. Das hat - wie häufig - damit zu tun, dass es keine Liebe auf den ersten Blick gab. Vielmehr begegnete ich dem Lied zunächst unter ungünstigen Umständen. Wenn ich mich recht erinnere, ließ mein Vater bei jeder oder nahezu jeder Abendmahlsfeier die ersten beiden Strophen singen. Wie er darauf kam oder wer ihn dazu anleitete - ich weiß es nicht und kann nur Vermutungen anstellen. Theologisch ist eine solche Verwendung jedenfalls nicht unplausibel. Die Liedstrophen vertreten dabei gewissermaßen die sogenannte Epiklese, den Gebetsruf, dass der Heilige Geist herabkomme und uns durch den Empfang der Gaben des Mahls neu mache an Leib und Seele. Auch lässt sich die Bildwelt der zweiten Strophe zwanglos auf das Abendmahl beziehen:

Zeuch ein, laß mich empfinden und schmecken deine Kraft,
die Kraft, die uns von Sünden Hilf und Errettung schafft.

Aber die Abendmahlsfeiern der 60er Jahre mit ihrer niederdrückenden Vorherrschaft der Sündenthematik und ihrer durch das dominierende Schwarz der Kleidung geförderten Traueratmosphäre brachten in einem Jugendlichen wenig zum Klingen - und das bekam auch meiner Beziehung zu dem Lied nicht, dies um so mehr, als die Melodie Johann Crügers von unserem Organisten in Vierteln und sehr schleppend begleitet wurde.

Es könnte sein, dass ich schon damals über den Anfang des Liedes stolperte und ihm keinen rechten Sinn beizulegen vermochte. So war es jedenfalls in den ersten Jahren meiner eigenen Gemeindepfarrertätigkeit, wenn ich die Lieder für den Gottesdienst aussuchte und dabei Paul Gerhardts Pfingstlied notorisch überging:

Zeuch ein zu deinen Toren, sei meines Herzens Gast,
der du, da ich geboren, mich neu geboren hast, o hochgeliebter Geist ...

Was ist mit den "Toren" konkret gemeint? Und wieso eigentlich "deine"? Wenn der Geist bei mir einziehen soll, sind es dann nicht "meine Tore"? Das mit den "Toren" habe ich im Lauf der Jahre verstanden: Paul Gerhardt lässt sich dabei von der in den Psalmen überlieferten Tempeleinlassliturgie inspirieren: "Machet die Tore weit ..., dass der König der Ehren einziehe" (Psalm 24,7). Der Tempel wird ihm zum Bild für den aus Gottes Geist neu geborenen Menschen. Insofern wird auch nachvollziehbar, warum von "deinen Toren", des Geistes Toren, die Rede ist. Immerhin - seit der von Johann Georg Ebeling 1667 besorgten Ausgabe der Lieder Paul Gerhardts gibt es auch die Textvariante "meine Tore". Vom Inhalt her wäre das genauso gut möglich, der poetische Blickwinkel jedoch gibt den Ausschlag. Aus sprachlichen Gründen muss es heißen: "Zeuch ein zu deinen Toren, sei meines Herzens Gast".

Alle diese Faktoren führten im Ergebnis dazu, dass ich viele Jahre lang über die ersten Strophen des Liedes nicht hinauskam. Auch zu einer Zeit, als ich längst erkannt hatte, welcher geistliche Schatz ungenutzt bleibt, wenn wir Lieder immer nur von Strophe 1 an singen, so dass uns spätestens bei Strophe 5 die Luft und die Zeit ausgeht. Ich war deshalb dazu übergegangen, aus Prinzip für den gottesdienstlichen Gesang manche Lieder nur mit ihren späteren Strophen zu nutzen. Aber "Zeuch ein zu deinen Toren" blieb irgendwie im Abseits. Es bedurfte einer zündenden Erfahrung mit dem Teil des Liedes, zu dem mir der Zugang bis dahin fehlte. Und die verschaffte mir die achte Strophe:

Du, Herr, hast selbst in Händen die ganze weite Welt,
kannst Menschenherzen wenden, wie es dir wohlgefällt:
So gib doch deine Gnad zu Fried und Liebesbanden,
verknüpf in allen Landen, was sich getrennet hat.

II.

Ich kann mich nicht mehr präzise erinnern, welcher politische Kontext es war, der mich vor vielleicht zwei Jahrzehnten in die Arme dieser Strophe trieb, mich Zuflucht nehmen ließ zu den Worten dieses Gebets. Es ist mir so, als sei es die anhaltende Krise zwischen Israelis und Palästinensern gewesen, also die Erfahrung: Es gibt politische Konflikte, die so verfahren sind, so ohne jede Lösungsperspektive, zugleich so voller Sprengstoff nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern für die Region, ja, für die ganze Welt, dass man geneigt ist, alle Hoffnung auf Menschen fahren zu lassen und das Wunder der Herzenswende und Sinneswandlung nur noch von Gottes Geist zu erwarten, dem Geist, von dem wir im Bekenntnis von Nizäa und Konstantinopel sagen, dass er Herr ist und lebendig macht.

Ob meine Erinnerung nun stimmt oder ob sie trügt, kann dahingestellt bleiben. Der israelisch-palästinensische Konflikt und das Pulverfass des Nahen Ostens lehren uns jedenfalls beten. Die Situation ist, heute noch mehr als vor zwanzig Jahren, geeignet, in politische Ratlosigkeit zu treiben und die allergrößten Schreckensphantasien anzufachen. Zusammen mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland war ich in der Woche nach Ostern in Israel und an einigen Orten der von Israel besetzten Gebiete der West Bank. Es war der übereinstimmende Eindruck der gesamten Delegation: Israelis und Palästinenser trauen einander kein konstruktives Verhalten mehr zu. Auf beiden Seiten herrscht die Überzeugung vor, der andere verstehe nur die Sprache der Macht und der Gewalt. Absprachen und Vereinbarungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie aufgeschrieben werden. Die Lage ist trostlos.

Es sind Verhältnisse wie diese, die mir - und vielleicht auch anderen - Paul Gerhardts Pfingstlied nahe gebracht und wert und teuer gemacht haben. Das beginnt schon mit der Strophe, die Gottes Geist dafür preist, dass er uns nicht nur zu beten lehrt, sondern unserem Beten auch Ausdauer und Kraft gibt:

Es steigt zum Himmel an. Es steigt und läßt nicht abe,
bis der geholfen habe, der allen helfen kann.

Weil Gottes Geist ein Geist der Liebe ist, ist er in Paul Gerhardts Sicht sozusagen zuständig für alle Situationen, in denen Hass und Streit überhand genommen haben und unsere menschliche Friedens- und Versöhnungsarbeit an Grenzen ihrer Wirkmöglichkeit stößt. Freilich verlangt er dem Geist viel, unnötig viel ab. Vor dem Hintergrund unserer historischen und politischen Einsichten würden wir wohl in der Beschreibung der angestrebten friedlichen Verhältnisse bescheidener sein als Paul Gerhardt. Es brauchen sich ja nicht alle zu lieben, es ist schon viel, wenn sie sich leben lassen:

Du bist ein Geist der Liebe, ein Freund der Freundlichkeit,
willst nicht, daß uns betrübe Zorn, Zank, Haß, Neid und Streit.
Der Feindschaft bist du feind, willst, daß durch Liebesflammen
sich wieder tun zusammen, die voller Zwietracht seind ...

Erhebe dich und steure dem Herzleid auf der Erd,
bring wieder und erneure die Wohlfahrt deiner Herd!
Laß blühen wie zuvorn die Länder, so verheeret,
die Kirchen, so zerstöret durch Krieg und Feuerszorn.

Die letzten Zeilen lassen uns einen Blick tun in die konkreten Umstände zur Entstehungszeit des Liedes. Der seit 1618 währende Krieg hatte unermessliches Herzleid über die Menschen gebracht, ganze Länder verheert, viele Kirchen zerstört. Der Kontext des Dreißigjährigen Krieges wird noch bedrängender spürbar in den drei Strophen, die in den neueren Gesangbüchern durch die Bank fehlen, aber auf dem Liedblatt mit abgedruckt sind. Die Gesangbücher lassen sie vermutlich aus der Überlegung weg, sie seien zu zeitgebunden und nicht mehr im gleichen Maße relevant für friedliche Zeiten. Aber stimmt das? Sind die Strophen, durch die das Leid der Kriegszeiten hindurchscheint, nicht gerade für uns eine notwendige und heilsame Erinnerung daran, was uns - nun seit 62 Jahren - gnädig erspart geblieben ist?

An die Bitten, die auf das Ende der Not des Dreißigjährigen Krieges zielen, schließen sich Fürbitten in der Tradition des Allgemeinen Kirchengebets an. Sie orientieren sich im wesentlichen an den drei Ständen Kirche, Politik und Wirtschaft. Wer die Textfassung in den neueren Gesangbüchern vor Augen oder im Ohr hat, wird in der Fürbitte für den Raum der Politik eine behutsame Modernisierung wahrnehmen. Bei Paul Gerhardt hieß es: "Beschütz die Polizeien, bau unsers Fürsten Thron". Heutzutage singen wir: "Beschirm die Obrigkeiten, richt auf des Rechtes Thron". Die Änderung geht nicht darauf zurück, dass wir heute ein gebrochenes Verhältnis zur Polizei hätten. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte "Polizei" vielmehr noch die allgemeinere Bedeutung "politische Ordnung".

III.

Unter den Pfingstliedern des Gesangbuchs hat das von Paul Gerhardt eine durchaus individuelle Prägung. Das Ich kommt neben dem Wir schon kräftig zur Geltung. Die individuelle Prägung macht sich auch an der herausgehobenen Rolle bemerkbar, die Taufe und Salbung in ihm spielen. Ich kenne kein anderes Pfingstlied, das die Taufe so betont dem Wirken des Geistes zuordnet. Paul Gerhardt aber beginnt den beschreibenden Lobpreis der Werke des Geistes in der dritten und vierten Strophe mit Taufe und Salbung:

Ich war ein wilder Reben, du hast mich gut gemacht,
der Tod durchdrang mein Leben, du hast ihn umgebracht
und in der Tauf erstickt als wie in einer Flute,
mit dessen Tod und Blute, der uns im Tod erquickt.

Du bist das heilig Öle, dadurch gesalbet ist
mein Leib und meine Seele dem Herren Jesu Christ
zum wahren Eigentum, zum Priester und Propheten,
zum Kön'ge, den in Nöten Gott schützt im Heiligtum.

Von der Alten Kirche an gibt es eine Verbindung von Taufe und Salbungshandlungen. Die Reformation hat sie nicht weitergeführt. Aber seit einiger Zeit ist sie im anglikanischen Bereich, im nordamerikanischen Luthertum und in der charismatischen Bewegung wieder aufgenommen worden, zuletzt auch im Taufbuch der Evangelischen Kirche der Union aus dem Jahr 2000, und zwar unter ausdrücklicher Verwendung von Paul Gerhardts Strophe. Es gibt ein verständliches Bedürfnis, die Sinnenkargheit des Protestantismus zu korrigieren. Wenn man freilich in den altkirchlichen und mittelalterlichen Quellen nachliest, was die allegorische Auslegung alles aus dem Öl, vorzugsweise muss es Olivenöl sein, und der Salbung mit diesem Öl gemacht hat, dann wird man unsicher, ob die Wassertaufe demgegenüber noch konkurrenzfähig ist, und es wird einem immer sympathischer, dass die Reformation die Tradition der Salbung vor oder nach der Taufe nicht beibehielt. Aber es geht ja in den Versuchen einer Wiederaufnahme im allgemeinen um ergänzende Angebote, nicht um verbindliche neue Ordnungen.

Erstaunlich ist, dass und wie Paul Gerhardt an die Salbungstradition anknüpft. Wohl kannte er als Theologe - und er war ein gut gebildeter Theologe - das Bild des Salböls für den Gottesgeist. Aber er hatte in seiner Zeit im Raum der evangelischen Kirche keine Vorbilder für eine Verbindung von Taufe und Salbung. Er greift auch noch eine ganz andere Salbungstradition auf, nämlich den theologischen Gedanken, wonach Christus durch die Gabe des Geistes zum Propheten, Priester und König gesalbt wird und der Christ durch den Glauben an der Salbung Christi Anteil hat. Dabei verwirrt es mich allerdings gründlich, dass Paul Gerhardt, der ein rechter Reformiertenfresser war und lieber sein Amt an St. Nicolai aufgab, als sich dem Toleranzedikt des Kurfürsten zu unterwerfen, beim Gedanken des Anteils an der Salbung Christi die volle Übereinstimmung mit der reformierten Lehre (Heidelberger Katechismus Frage 31 und 32) nicht scheute.

IV.

So sehr sich in dem Lied die Züge des Autors und seiner Zeit abzeichnen, so wenig bedeutet dies, dass Paul Gerhardt in Sache und Sprache originell sein will. Er stellt sich vielmehr, wie es im 17. Jahrhundert für die geistliche Dichtung nicht anders zu erwarten ist, ganz bewusst in den Traditionsstrom der Bibel und der ihm vorangegangenen geistlichen Dichtung hinein - und das in einem solchen Ausmaß, dass man sich an manchen Stellen wünscht, der Dichter möchte doch häufiger die Tradition nicht nur wiederholt, sondern es gewagt haben, dafür eine neue Sprache zu finden und so einen neuen Zugang zu öffnen. Es ist, bis zum heutigen Tage, wohl wahr: Je mehr wir uns in Predigt und geistlicher Dichtung an die biblische und traditionelle Sprache halten, desto richtiger ist es, was wir sagen. Aber das Richtige ist nicht immer identisch mit dem Verständlichen und Gewinnenden.

Bei der Aufnahme des mittelalterlichen Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus (Komm, Schöpfer, Heiliger Geist), der am Anfang und am Ende des Liedes durchscheint, hat es Paul Gerhardt jedenfalls nicht bei der Wiederholung der Tradition bewenden lassen. Er verzichtet auf die Anrufung "Komm" und setzt an ihre Stelle das aus den Psalmen stammende Bild des Einzugs in den Tempel. Er benutzt auch nicht das Bild von der Wohnung, sondern orientiert sich an einer viel persönlicheren Beziehung: Sei mein "Gast".

Auch am Ende des Liedes hat der Pfingsthymnus noch einmal seine Spuren hinterlassen. Paul Gerhardt hat dort das Motiv vom Beistand des Geistes bei der Auseinandersetzung mit der Macht des Bösen gleich zweimal aufgegriffen:

Vertreib den bösen Geist, der sich dir widersetzet
und, was dein Herz ergetzet, aus unserm Herzen reißt.

Gib Freudigkeit und Stärke, zu stehen in dem Streit,
den Satans Reich und Werke uns täglich anerbeut,
hilf kämpfen ritterlich, damit wir überwinden
und ja zum Dienst der Sünden kein Christ ergebe sich.

V.

Ich hab's nicht in dem gesamten Werk Paul Gerhardts nachgeprüft, aber ich glaube, es ist so: Nahezu alle seine Lieder schließen mit dem Ausblick auf die Zukunft, die für die, die an Christus glauben, bereitet ist in "des ewgen Lebens Haus". Ich habe je länger je mehr den Eindruck, das ist der Zug in Paul Gerhardts Glauben, Frömmigkeit und Denken, an dem er uns Heutigen am fernsten ist. Gewiss, so etwas gibt es hier und da auch heute noch. Mein Großvater steht mir vor Augen, wenn er mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen von der "anderen Art der Existenz" sprach, in die ihm seine Frau vorausgegangen sei und er ihr folgen werde. Aber bei vielen ist die Saat der Verunsicherung und des Zweifels doch aufgegangen: Leben wir nicht in einem nachmetaphysischen Zeitalter? Ist jene Welt, die wir erwarten, nicht doch bloß eine Projizierung unserer Wünsche angesichts der Defizite dieser Welt? Mit argumentativen Strategien kommen wir nur begrenzt weiter. Mir helfen in dieser Lage am meisten zwei Dinge: Trotz und Trost, der Trotz des Glaubens - für den man bei Paul Gerhardt erfolgreich in die Schule gehen kann - und einige große Trosttexte zu Abschied, Sterben und Tod, an denen ich Maß zu nehmen versuche. Der folgende ist mir unter ihnen der liebste:

"Wenn aber die Leut weinen und zu ihm sagen: Herr Domkaplan, bitte, Herr Domkaplan, bereiten Sie meinen sterbenden Vater, oder wer immer, bereiten Sie ihn auf den Tod vor. Dann schaut er sie an, mit blitzenden Augen, sagen sie dann, wenn sie es erzählen, mit blitzenden Augen - was? ruft er aus im Sterbezimmer, auf den Tod vorbereiten? Ich bereite keinen auf den Tod vor, aufs Leben bereite ich ihn vor! Und dann ist es, als wäre das ewige Leben schon zur Türe hereingekommen".

Amen.