"Choreographie der Ökumene" - Ringvorlesung „Tanz und Religion“, Paderborn

Wolfgang Huber

In einer Ringvorlesung über Tanz und Religion eine Überlegung zum Stand der Ökumene einzubringen, ist ein kühnes Unterfangen. Und diese Überlegung unter den Titel „Choreographie der Ökumene“ zu stellen, mag manchem als allzu gewollt erscheinen. Aber wie hätte ich mich der Einladung zu einer Geburtstagsvorlesung für Helga Kuhlmann entziehen können, mit der mich eine Freundschaft verbindet, die vor einem Vierteljahrhundert in Marburg ihren Anfang nahm? Und wie kann ich eine evangelische Theologin im katholisch geprägten Paderborn angemessener ehren als durch eine persönliche Zwischenbilanz zum Stand der Ökumene?

Und vielleicht stimmt das Bild von der Choreographie ja doch. Das Wort „Choreographie“ ist aus den beiden griechischen Wörtern choreon (Tanz) und graphein (schreiben) gebildet. Mit dieser „Tanzschrift“ wird die Aufzeichnung von Tanzhaltungen und Tanzbewegungen durch Worte, Zeichen, Ziffern und Bilder bezeichnet. Es geht also um den Versuch, Bewegungen von Menschen in einem Raum im vorhinein festzulegen, ihre Wiederholung zu ermöglichen und dadurch ein Gesamtbild, ein Kunstwerk des Ausdruckes zu schaffen.

Der Gottesdienst ist stets durch choreographische Elemente bestimmt. Jeder Gottesdienst unterliegt einer gewissen Choreographie, einer Notation der vorgeschriebenen Tanzschritte. Das ist nicht erst dann der Fall, wenn Elemente des liturgischen Tanzes in ihn eingeführt werden. Der Einzug, die liturgische Bewegung im Raum, das Aufstehen und sich Setzen der Gemeinde, der Auszug und das Abschiednehmen sind choreographische Grundformen des Gottesdienstes. Jedem Gottesdienst bekommt es gut, wenn man auf diese Grundformen achtet und sie bewusst gestaltet. Für einen ökumenischen Gottesdienst gilt das erst recht. In ihm müssen gleichsam die verschiedenen Tanztraditionen in eine gemeinsame Bewegung gebracht werden;  mitunter ist das kein ganz leichtes Unternehmen. In welcher Reihenfolge die Beteiligten einziehen und wie die unterschiedlichen Traditionen nicht nur in Worten und Gesängen, sondern auch in Gebärden und Bewegungen miteinander verknüpft werden, ist für das Gelingen ökumenischer Gottesdienste von großer Bedeutung; da dieses Gelingen die ökumenische Atmosphäre weithin zu prägen vermag, kann man auch sagen: Schon im wörtlichen Sinn hat die Choreographie der Ökumene ein erhebliches Gewicht.

Aber der Begriff lädt natürlich auch zu einem metaphorischen Gebrauch ein. In welchen Schritten bewegen sich die Kirchen aufeinander zu und wie sind diese Schritte aufeinander abgestimmt? Folgen sie der gleichen Melodie und haben sie denselben Rhythmus? Stolpern sie über einander oder über die eigenen Füße? Gibt es Möglichkeiten, dass der ökumenische Tanz besser gelingt?

In den folgenden Überlegungen werde ich mir die Freiheit nehmen, zwischen dem wörtlichen und dem metaphorischen Sinn der Rede von einer „Choreographie der Ökumene“ hin und her zu wandern, vielleicht auch einmal zu tänzeln. Aber beginnen will ich mit einem Beispiel für eine Choreographie der Ökumene im wörtlichen Sinn.

I.

Zu den eindrücklichsten ökumenischen Choreographien der letzten Zeit gehört für mich der Gottesdienst zu wechselseitigen Anerkennung der Taufe im Magdeburger Dom am 29. April 2007. In dieser gewaltigen Kirche mit dem ältesten Taufstein nördlich der Alpen hatten sich im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland elf Kirchen zusammengetan, um die Taufe als „das sakramentale Band der Einheit“ zu feiern und die wechselseitige Anerkennung der Taufe zum Ausdruck zu bringen. Der Schlüsselsatz der feierlich unterzeichneten Vereinbarung lautet: Wir erkennen „jede nach dem Auftrag Jesu im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes mit der Zeichenhandlung des Untertauchens im Wasser bzw. des Übergießens mit Wasser vollzogene Taufe an…“.

Die formale Basis dieser Choreographie war dabei wie bei jedem Vertragsschluss die Unterschrift der Repräsentanten der beteiligten Kirchen unter ein gemeinsames Dokument. Aus dem Halbkreis, in dem sie im Altarraum saßen, traten sie in einer festen Ordnung, feierlich angekündigt, an den Unterzeichnungstisch. Doch dem war ein reich gestalteter Gottesdienst vorausgegangen, in dem unterschiedliche Tauftraditionen und gottesdienstliche Elemente ihren Ort fanden. So kam die evangelische Tradition durch den Gemeindegesang besonders zum Zuge, die armenische Tradition durch die Lesung des Evangeliums, die römisch-katholischen Tradition durch Segnung und Sendung hinein in die Welt, die orthodoxe Tradition durch die Prozessionseinladung zum Taufstein und durch die Besprengung der Gemeinde mit dem Taufwasser, die methodistische Tradition durch die ermahnende Predigt, die altlutherische Tradition durch die Verlesung eines Lobpreises über dem Wasser. Der Gottesdienst zur wechselseitigen Anerkennung der Taufe konnte so die Fülle der verschiedenen geistlichen Traditionen in eindrücklicher Weise spiegeln. In seinem Zentrum stand eine eindrückliche Prozession, die von den Repräsentanten der beteiligten Kirchen angeführt wurde. Sie stellten sich im Kreis um den Taufstein. Jeweils den Rücken wandten sie diesem imposanten Porphyr aus Ägypten zu, der wohl im ersten christlichen Jahrtausend als Springbrunnen einer römischen Villa diente, bevor er unter Otto  I. nach Magdeburg transportiert wurde, wo er noch vor der Spaltung zwischen abendländischer und morgenländischer Christenheit als Taufstein genutzt wurde. Wie wir um ihn standen und in unserem Rücken mit einem Palmwedel das Wasser in Bewegung geriet, um uns zur Erinnerung an die eigene Taufe wie an die eine Taufe der gesamten Christenheit zu benetzen, geschah für die ganze Gemeinde etwas Erstaunliches, die sich wie wir selbst auf den Prozessionsweg durch die Kirche begeben hatte und nun um uns stand und der Taufe gedachte.

Zugegeben, unsere Tanzschritte waren auch in diesem Fall noch nicht in jedem Detail vollständig koordiniert; ein professioneller Choreograph hätte wohl eine noch stärkere Abstimmung der einzelnen Schritte aufeinander zu Stande gebracht – vorausgesetzt, wir hätten uns seinen Anweisungen gefügt. Aber insgesamt war die Choreographie auch so schon überzeugend, ja beeindruckend. Denn in diesem Gottesdienst im Magdeburger Dom wurde die ökumenische Vielfalt dadurch zum gemeinsamen Tanzen gebracht, dass jede Kirche und damit jede Tradition ein eigenes Stück im Ganzen aufführen durfte; es war ein gutes Miteinander durch überzeugendes Nacheinander und durch eine gemeinsame Prozession.

Das lag auch am Inhalt dieses Gottesdienstes. Zwar hat sich die wechselseitige Anerkennung der Taufe durch die evangelischen Kirchen – mit Ausnahme derjenigen, die in einer täuferischen Tradition stehen – und der römisch-katholischen Kirche seit einem halben Jahrhundert Schritt für Schritt durchgesetzt. Doch der Schritt zu einer wechselseitigen Taufanerkennung auf der Seite der orthodoxen Kirchen ist ein wichtiges Ereignis. Das Vorhaben als solches verdankt sich übrigens einem Impuls von Kardinal Kasper und dem päpstlichen Einheitsrat. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland ist der erste regionale ökumenische Rat, der diese Anregung umgesetzt hat. Für die ökumenische Gemeinschaft insgesamt ist an diesem Schritt unter anderem auch dies von besonderer Bedeutung, dass im Fall des Taufsakraments dem Auftrag Jesu zum Vollzug der Taufe deutlich der Vorrang vor der Frage zuerkannt wird, in welcher Weise in den einzelnen Kirchen die Amtsträger – oder Amtsträgerinnen – legitimiert sind, die das Sakrament vollziehen. Daran darf durchaus die Hoffnung geknüpft werden, dass eine solche Betrachtung, die dem Auftrag oder der Einladung Jesu den Vorrang vor den unterschiedlichen Amtsverständnissen einräumt, auch den Zugang zu einer Antwort auf die Frage nach der Gemeinschaft im Abendmahl eröffnet.

Nach der ermutigenden Erfahrung von Magdeburg stellt sich die Frage, in welche Richtung sich die Choreographie weiter entwickeln soll. Ist – wie auf den zeitgenössischen Bühnen – der abstrakte Ausdruckstanz, der „modern dance“ angezeigt, oder brauchen wir eine Rückkehr zum klassischen Ballett à la „Schwanensee“ oder „Nussknacker“? Die Beantwortung dieser Frage erfordert zunächst eine Besinnung darauf, welche Choreographie die Ökumene schon eingeübt hat, welche Schritte gleichsam perfekt sitzen und wo eindeutig noch Übungsbedarf besteht. Deswegen unternehme ich zuerst einen Ausflug in die Geschichte der Ökumene, beschreibe sodann die Errungenschaften der Gegenwart, um mit den anstehenden Aufgaben abzuschließen.

II.

Die Choreographie der Ökumene, die Suche nach gemeinsamen Tanzschritten, ist keine Nebenaufgabe, kein schmückendes Beiwerk der Kirchen. Dieser Tanz gehört zu ihrem Wesen, er ist allen Christen aufgetragen, anvertraut und zugemutet. Der Epheserbrief beschreibt diesen Grundauftrag an einer Stelle, die auch in der Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung der Taufe ausdrücklich zitiert wird, so: „Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (Eph 4, 3-6). Dem korrespondiert die Schlüsselstelle aus dem Hohepriesterlichen Gebet Jesu, die insbesondere von Papst Johannes Paul II. in den Rang einer Magna Charta aller ökumenischen Bemühungen erhoben worden ist: „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben, damit sie alle eins werden. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast" (Joh 17, 20 f.).

Das Bekenntnis zur vorgegebenen Einheit in Christus und der damit verbundene Auftrag zum Eins-Sein in Christus haben von Beginn der Christenheit an unterschiedliche Interpretationen und Ausgestaltungen gefunden. Schon die ersten (Tanz-)Schritte der Christenheit repräsentieren unterschiedliche (Musik-)Richtungen. Von dem Neutestamentler Ernst Käsemann stammt der berühmte Satz, dass der biblische Kanon „nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen“ repräsentiere, ja eröffne. Schon in der Bibel finden sich unterschiedliche Auffassungen, Verständnisse und Interpretationen des einen Heilsereignisses in Jesus Christus; die Vielfalt von Gemeinden, Konfessionen und auch Kirchen ist kein Spätphänomen der Christenheit. Naheliegenderweise haben die Unterschiede im Lauf der Jahrhunderte an Gewicht gewonnen. Wie bei Bäumen haben die sich umeinander schließenden Jahresringe die jeweiligen Profile immer stärker hervortretenden lassen. Die Stämme der verschiedenen Traditionen wurden dicker, so dass die Choreographie eines gemeinsamen Tanzes sich immer schwieriger gestaltete. Bäume sind bekanntlich keine guten Tänzer.

Die biblischen Texte, auf die sich unser Verständnis des ökumenischen Auftrags stützt, enthalten freilich eine Näherbestimmung der Einheit, auf die alles ankommt. Die Aufforderung heißt, die „Einigkeit im Geist“ zu bewahren, nämlich im Geist Jesu Christi. Das Gebet Jesu geht dahin, dass alle „in uns eins sein" sollen. Es liegt auf der Hand, dass diese Einheit in Christus und in seinem Geist und damit in Gott, dem Vater, mehr und anderes meint als die sichtbare Einheit der Kirchen. Darum liegt die Einheit der Kirchen nicht einfach nur vor uns; sondern sie ist längst gestiftet und vorhanden im Grund der Kirche, in Jesus Christus. Es kommt für die Ökumene entscheidend darauf an, ob man die Einheit der Kirchen an eine äußere, sichtbare Einigkeit der Kirchen bindet, die zu gestalten dann als die entscheidende Aufgabe gilt, oder ob man sie als in Christus gegeben ansieht und sich vor der Aufgabe sieht, die Aktualisierung der Einheit zu fördern, die in Christus schon Realität ist. In der Aktualisierung der in Jesus Christus gegebenen Realität hat Dietrich Bonhoeffer den entscheidenden Vollzug gesehen, der die Kirche konstituiert. Mein Vorschlag ist, diesen Denkansatz für unser Verständnis der ökumenischen Aufgabe fruchtbar zu machen. Oder um es im Bild des Tanzes zu sagen: Wenn jeder Mittänzer einen eigenen Choreographen hat oder diesen gar für den Einzigen hält, wird die Koordination der Bewegungen schwer. Die Verständigung auf einen gemeinsamen Choreographen würde schon sehr helfen. Und die Antwort liegt eigentlich nahe. Sie heißt: „Dominus Iesus“.

Diese Antwort freilich schließt einen kritischen Vorbehalt ein, den jede Kirche sich selbst gegenüber geltend machen muss. Wir alle müssen zu unterscheiden lernen zwischen dem Grund einer jeden Kirche, der in Christus Jesus gegeben ist, und der konkreten, geschichtlichen Gestalt der jeweiligen Kirche. Die christlichen Kirchen und Konfessionen sind Variationen des Bezugs auf den einen Grund der Kirche, Jesus Christus, in unterschiedlichen Konkretionen. Der Anspruch einer Kirche, sie allein sei die angemessen aktualisierte Gestalt des Grundes Jesu Christi, nur sie sei „Christus als Gemeinde existierend“, degradiert unvermeidlich andere Kirchen und setzt dem Zusammenspiel der konkreten Gestalten von Kirche deutliche Grenzen.

In gewisser Weise gilt darum für die Choreographie der Ökumene eine Grundregel, die in der Welt der Choreographie generell gilt: Der erste Schritt ist der entscheidende; wer einmal falsch angefangen hat, wird nur schwer in den Rhythmus hineinfinden. Dieser erste Schritt ist die Achtung für das Kirchesein der anderen; sie begründet die Einheit in Vielfalt und bahnt den Weg zu versöhnter Verschiedenheit. Wir müssen Ökumene heute unter der Voraussetzung gestalten, dass die beteiligten Kirchen nicht nur unterschiedliche Kirchenverständnisse sowie unterschiedliche Vorstellungen von Amt und Ordination, vom Verhältnis zwischen Schrift und Tradition, von Frauen im geistlichen Amt haben, sondern dass sie unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was „sichtbare Einheit“ bedeutet. Es wäre ja auch zu verwunderlich, wenn die verschiedenen theologischen und ekklesiologischen Ansätze sich nicht auch in unterschiedlichen Zielvorstellungen spiegelten. Doch gemeinsam sollen und können die ersten Schritte sein. Die Choreographie für diese ersten Schritte will ich eine Choreographie des wechselseitigen Respekts nennen.

Freilich nötigt eine solche Choreographie des wechselseitigen Respekts auch zur selbstkritischen Revision geläufiger Geschichtsbilder. So wird – gerade auch im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1517-2017 – im evangelischen Bereich ein Geschichtsbild fröhliche Urständ feiern, das die Reformation zur Geburtsstunde der evangelischen Kirche erklärt. Doch die Geschichte der evangelischen Kirche beginnt keineswegs mit der Reformation. Die evangelische Kirche hat ihre Wurzeln wie alle Kirchen in der Bibel und in der alten Kirche. Die Reformation war von der Intention bestimmt, die Quellen des Glaubens neu und ursprungsgerecht zu verstehen. Die Reformation sah sich also in Treue und Kontinuität zur alten Kirche; sie wollte keine neue Kirche schaffen, sondern die wahre Kirche freilegen.

Die Kirchen der Reformation sind mit der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen durch gemeinsame Quellen und gemeinsame Traditionen verbunden; es gehört zu ihren manchmal vernachlässigten Pflichten, diese Gemeinsamkeit kenntlich zu machen. Das Selbstverständnis der evangelischen Kirche und ihre theologischen Einsichten sind eingebunden in das gemeinsame Bekenntnis der Christenheit. Eine Legitimation allein aus den  Anstößen und Bekenntnissen der Reformation reduziert die eigene Herkunftstiefe in unzulässiger Weise; wir sollten als christliche Kirchen die gemeinsame Herkunftsgeschichte als wichtigen ökumenischen Ansatzpunkt ansehen. Die biblischen Erzählungen, die altkirchlichen Bekenntnisse, die Inspirationen der Kirchenväter wie der großen mittelalterlichen Theologen enthalten einen ungehobenen Schatz von Melodien, nach denen sich gemeinsam tanzen lässt. Ich plädiere in diesem Sinn für eine Choreographie der Ökumene, in der das gemeinsame Bekenntnis den Ton angibt und der große Atem der biblischen Erzählungen den Rhythmus bestimmt.

Das wird auch dabei helfen, Tanzbewegungen auf den verschiedenen ökumenischen Bühnen mit Gelassenheit zu verfolgen. Die evangelische Kirche jedenfalls beobachtet ohne Angst und Sorge, mit Fürbitten und Segenswünschen die jüngsten Anstrengungen der römisch-katholischen Kirche, im Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen zu Fortschritten zu kommen. Denn der Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen zwischen den seit einem Jahrtausend getrennten Kirchen des Ostens und des Westens würde ganz gewiss der Ökumene insgesamt zu Gute kommen, also auch die Beziehungen der reformatorischen Kirchen zu den orthodoxen Kirchen wie zur römisch-katholischen Kirche positiv beeinflussen. Die Gespräche, die ich Anfang Mai im Vatikan mit Papst Benedikt XVI. und Kardinal Kasper führen konnte,  haben mich in dieser gelassenen Haltung bestärkt. Beide haben mir versichert, dass die Annäherung an die orthodoxen Kirchen nicht zu Lasten der Beziehungen zu den Kirchen der Reformation gehen sollten. Die gelegentlich geäußerten Vorstellungen von einer „orthodox-katholischen Allianz“ gegen den liberalen, vermeintlich säkularisierten, modernistisch geprägten Westen haben in diesen Gesprächen keine Nahrung erhalten. Die römisch-katholische Kirche müsste ja auch wichtige Teile ihrer eigenen Tradition, insbesondere das Aggiornamento des II. Vatikanischen Konzils verleugnen, wenn  sie sich einer solchen, wenig erleuchteten Vorstellung von einer Allianz gegen die Moderne (und mit ihr gegen den Protestantismus) anschließen wollte.

III.

Gewiss ist es gelegentlich in der Choreographie der Ökumene gelegentlich schon zum Stocken, ja zum Stolpern gekommen. Doch darüber wird man nicht vergessen können, dass es gerade in den westlichen Kirchen trotz aller Unterschiede viele Gemeinsamkeiten gibt, die auch gemeinsame Schritte ermöglichen. Freilich hat die Reformation und die mit ihr verbundene Entscheidung der Papstkirche dazu, dieser Reformation keinen Raum zu geben, nicht nur zur Bildung der evangelischen Kirche, sondern ebenso zur Bildung der römisch-katholischen Kirche in der uns heute vertrauten Gestalt geführt. Denn sie gibt es im eigentlichen Sinn erst seit dem Tridentinischen Konzil der Jahre 1545 bis 1563. Die Beschlüsse zu Lehre und Leben, die in diesen Jahren gleichsam als Gegenentwurf zur Reformation Martin Luthers gefasst wurden, bewirkten eine tiefgreifende Veränderung des katholischen Selbstverständnisses, das seither auch durch einen klaren Unterscheidungswillen gegenüber den reformatorischen Einsichten ausgezeichnet war. Seitdem sind die römisch-katholische Kirche und die reformatorischen Kirchen durch eine Art „zweieiiger Zwillingsschwesternschaft“ kennzeichnet, die sich aus der gemeinsamen Umbruchsituation der frühen Neuzeit ergeben hat. Beide Kirchen haben damals je auf ihre Weise auf die Entstehung und Durchsetzung der modernen Welt geistlich reagiert. Es gehört daher zum Schicksal oder zum Auftrag dieser beiden Kirchen, von ihrer Geburtsstunde an in einem gewissen Abgrenzungs- und Unterscheidungswillen auf einander bezogen zu sein.

Ihr Verhältnis geriet allerdings immer wieder in den Sog einer Kultur der entschlossenen Abgrenzung. In den konfessionellen Bürgerkriegen der frühen Neuzeit und in manchen Ausläufern auch noch danach nahm das Verhältnis gewaltsame Züge an, steigerte sich bis zur wechselseitigen Ausrottung und verkam so zu einer Choreographie des Totentanzes. Erst durch die Aufklärung, die Trennung von politischer Ordnung und religiösem Einfluss sowie die Etablierung einer zivilen Gesellschaft – Prozesse, die ihrerseits mit Impulsen der Reformation verflochten sind – wurde eine Befriedung der Konfessionen erreicht, die ein schiedlich-gewaltloses Nebeneinander möglich machte.

Der Augsburger Religionsfrieden von 1555, auf den die Formel „cuius regio, eius religio“ zurückgeht, hatte zwar noch keine Religionsfreiheit geschaffen. Aber er hatte den ersten Schritt zu einer rechtlich anerkannten religiösen Pluralität in Europa getan. Der Westfälische Frieden von 1648 gab dem eine dauerhafte Gestalt. Die territorialen Verschiebungen des folgenden Jahrhunderts nötigten zur Koexistenz der Konfessionen in ein und demselben Territorium. Die Wende zum 19. Jahrhundert schließlich machte das Staatsbürgerrecht vom religiösen Bekenntnis unabhängig.

Doch der Schritt, der somit das gleiche Bürgerrecht der Juden begründete, öffnete die Schleusen für die schlimmsten Auswüchse von Antijudaismus und Antisemitismus. Ein zweiter, grausiger Totentanz begann. Die Lehre, dass alle Menschen die gleiche Würde haben und auch im Tanz des Lebens mit gleichen Rechten ausgestattet sind, musste noch einmal ganz von vorne gelernt werden. Die Choreographie der Menschenrechte, die doch so tief im christlichen Glauben verankert ist, wurde erst erschreckend spät entwickelt. Gerade das aber hat zur Folge, dass es eine ökumenische Choreographie ohne gemeinsamen Einsatz für die Zukunft des menschlichen Lebens auf diesem Globus nicht geben kann. Christen tanzen nie für sich selbst; ihr Tanz gilt dem gemeinsamen Leben.

IV.

Im Rückblick ist es erstaunlich, wie lange die Strategie der wechselseitigen Abgrenzung der Konfessionen erfolgreich war. Die Zeiten von Ultramontanismus und Kulturkampf in Deutschland liegen erst wenig mehr als ein Jahrhundert zurück. Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert und den auch geistlich katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs begann eine neue ökumenische Phase, in der der Versuch unternommen wurde, Gemeinsamkeiten und Verträglichkeiten zu entdecken. Gewiss ist diese Phase durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet. Die ökumenische Bewegung in einem förmlichen Sinn blieb während ihrer ersten Jahrzehnte auf die reformatorischen Kirchen beschränkt. Die römisch-katholische Kirche verfocht zunächst – mit der Enzyklika „Mortalium animos“ von 1928 – in aller Form ein Konzept der Rückkehr-Ökumene. Aber sie vollzog mit dem II. Vatikanischen Konzil zu Beginn der sechziger Jahre eine bemerkenswerte ökumenische Wende. Die orthodoxen Kirchen öffneten sich, durch bilaterale Dialoge ermutigt, zur gleichen Zeit mit ihrem Beitritt zum Ökumenischen Rat der Kirchen im Jahr 1961 für den ökumenischen Gedanken. Nun wurde deutlicher bewusst, dass sich alle Kirchen auf die Bibel als Grundlage und Richtschnur, auf die großen christlichen Bekenntnisse der frühen Christenheit, auf die Taufe „als sakramentales Band der Einheit“ und auf die Verantwortung für die friedliche Gestaltung der Welt beziehen. Auch wenn es auf dem Weg zum heutigen Stand der Ökumene noch viele Tänze mit Ausfallschritten gab, die Zeiten des „Totentanzes“ in der Ökumene waren vorbei, der gemeinsamen „Lebenstanz“ hatte eingesetzt.

Dass diese Phase der Ökumene mit der Verabschiedung der „Gemeinsamen offiziellen Feststellung“ bzw. der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ 1999 in Augsburg ihren symbolischen Höhepunkt und vorläufigen Schlussstein gefunden hat, hat einen guten inneren Sinn. Denn die Rechtfertigungslehre war die Schlüsselfrage in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit, so dass es Ausdruck einer höheren Choreographie war, in einer gemeinsamen Erklärung zu diesem Thema die Phase der gegenseitigen Verurteilungen und theologischen Verwerfungen enden zu lassen. Diese Choreographie kann man auch dann würdigen, wenn man einräumt, dass auch nach dem erreichten Konsens in Fragen der Rechtfertigungslehre wichtige Fragen ungeklärt geblieben sind.

Im Blick auf das evangelisch-katholische Verhältnis kreisen diese ungeklärten Fragen um das Verständnis der Kirche und des kirchlichen Amts. Ich will die Richtung dieser Fragen in Aufnahme von Formulierungen Karl Barths andeuten.

Die römisch-katholischen Kirche nimmt in ihrem Selbstverständnis das „Ärgernis der Sichtbarkeit der Kirche“ in Kauf, und stellt damit die evangelische Kirche vor die Frage, „ob und wiefern sie Kirche sei“. Das Ärgernis der Sichtbarkeit verhilft der römisch-katholischen Kirche zu einem gewissen Maß an Distanz zur Welt und zu den Kräften des Zeitgeistes. Die inzwischen unter Nutzung der modernen Medien inszenierte Bindung an den Papst reduziert die Anfälligkeit für Nationalismus und Staatshörigkeit.

Aus evangelischer Sicht freilich stellt sich die Frage Karl Barths, ob eine auf solche Weise sichtbare Kirche nicht in der Gefahr steht, zur „Kirche im Exzess“ zu werden, sofern sie vergisst, dass Christus auch der ihr als Kirche gegenüber frei bleibende und frei redende Herr ist. Die Neigung zu einer durchaus weltlichen Selbstdarstellung, zum Anspruch des Wahrheitsbesitzes und zur Abwertung nicht-katholischer Glaubensweisen lässt eine überbordende Identifikation zwischen der sichtbaren Kirche und der einen in Jesus Christus gründenden Kirche aufscheinen. Die Tatsache, dass die katholische Kirche der evangelischen Kirche den Status des Kirche-Seins abspricht und lediglich von „kirchlicher Gemeinschaft“ spricht, ist nicht nur direkter Ausdruck dieses überzogenen Selbstverständnisses, sondern auch anstößig und für das Verhältnis der Kirchen in der Sache und im Stil unangemessen.

Doch ganz unabhängig davon muss die evangelische Kirche sich die Frage gefallen lassen, ob sie „Kirche im Defekt“ ist. Die starke Orientierung am Glauben und der Gewissensbindung des einzelnen, an der Pflege einer Kultur der Individualität und am Abstand gegenüber der Kirche als Institution hat die Einsicht immer wieder in den Hintergrund treten lassen, dass der Glaube in der Gemeinschaft der Glaubenden wächst und dass die Gemeinschaft der Heiligen im Glaubensbekenntnis einen festen Ort hat. Die Bindung der Evangeliumsverkündigung an das mündige Urteil der Gemeinde hat bisweilen den Blick dafür verdunkelt, dass der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und zur Feier der Sakramente ein von Christus selbst gegebener Auftrag ist. Dass die Kirche als Institution auch ein evangelisches Thema ist, tritt erst neuerdings zureichend ins Bewusstsein. Nur auf der Grundlage eines starken Kirchenverständnisses vermag die evangelische Kirche aber auch ihre besonderen Merkmale – die Bindung an die heilige Schrift, die Konzentration auf das Christusbekenntnis, den Aufbau der Kirche von der Gemeinde her oder die gleiche Verantwortung von Frauen und Männern auch im geistlichen Amt und in den Leitungsaufgaben der Kirche – als Stärken in die ökumenische Gemeinschaft einzubringen. Nur wenn sie gemeinsam zu tanzen versteht, kann die evangelische Kirche sich angemessen in die ökumenische Choreographie einbringen.

V.

"Die Kirchen brauchen die je anderen Kirchen, um ganz und vollständig werden zu können". Dieser von Fulbert Steffensky formulierte Grundsatz sollte die zukünftige ökumenische Choreographie bestimmen. Zugleich sollten wir beherzigen, dass die christlichen Kirchen gerade in Deutschland in wichtigen Hinsichten einfach als „die Kirche“ wahrgenommen werden. Das gilt im Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen, im Blick auf den interreligiösen Dialog und im Blick auf die Auseinandersetzung mit einem neuen, zum Teil kämpferischen Atheismus in gleicher Weise. In all diesen Hinsichten ist es eine gemeinsame Aufgabe, der Friedensbotschaft des Evangeliums, die Friedensfähigkeit der Religionen und die Friedensbedürftigkeit der modernen Welt Sprache zu geben, damit der banalen These, ohne Religion sei alles leichter, friedlicher und netter, angemessen widersprochen werden kann.

Zu den Gemeinsamkeiten der christlichen Kirchen in Deutschland gehören auch einige demographische und religionssoziologische Gegebenheiten. In fast allen Teilen des kirchlichen Lebens stehen die Kirchen vor vergleichbaren Herausforderungen unter annähernd gleichen Bedingungen. Natürlich betrifft die dramatische Entwicklung der Orden und des Priesternachwuchses vor allem die katholische Kirche; dafür haben wir im evangelischen Bereich stärker mit der Neigung zu tun, die Kirchenmitgliedschaft aufzugeben. Auch sind die Zahlen der Trauungen in der katholischen Kirche ungleich schneller gefallen als in der evangelischen Kirche, auch, weil die katholische Kirche eine Wiederverheiratung von Geschiedenen nicht zulässt, diese Gruppe aber statistisch enorm zugenommen hat. Umgekehrt haben wir einen Rückgang im Bereich der kirchlichen Bestattungen zu verzeichnen. Die katholische Kirche geht zwar insgesamt von einem höheren Niveau der Verbindlichkeiten kirchlichen Verhaltens aus, aber auch sie erlebt die Auswirkungen eines Traditionsabbruchs während der zurückliegenden Jahrzehnte.

Deshalb bezieht sich die ökumenische Gemeinsamkeit heute auch auf die gemeinsamen Herausforderungen. Die Umgestaltung unserer Kirchen auf zuträgliche Dimensionen, die neue Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben und die Neugestaltung von Arbeitszweigen, die in der bisherigen Form nicht mehr zu finanzieren sind, stehen beiden großen Kirchen ins Haus. Es gibt auch eine ökumenische Gemeinsamkeit in krisenhaften Entwicklungen; deshalb beeindruckt mich die Parallele zwischen manchen Überlegungen im Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ zu Gesichtspunkten, unter denen die Frühjahrstagung der deutschen Bischofskonferenz den Strukturwandel beschrieben hat.

VI.

Gerade weil wir vor gemeinsamen Herausforderungen stehen und für gemeinsames Handeln auch gute Voraussetzungen geschaffen haben, ist es unvermeidlich geworden, auch die verbleibenden Unterschiede in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne habe ich erstmals in einer Ansprache an Papst Benedikt XVI. bei der Begegnung am Rande des Weltjugendtages im August 2005 von einer Phase der „Ökumene der Profile“ gesprochen. In einer Ökumene der Profile sind zwei Grundintentionen vereinigt: Einmal gehört zu ihr der unbeirrbare Impuls der evangelischen Kirche, die Ökumene zu fördern, das Gemeinsame zu vertiefen und den Motor einer ökumenischen Annäherung immer wieder anzuwerfen. Zum anderen aber gehört zu einer Ökumene der Profile auch die Ernsthaftigkeit, die für die evangelische Seite unaufgebbaren theologischen Einsichten der Reformation auszusprechen und zu vertreten. Es sollen nicht alte, schon überwundene Gegensätze künstlich wieder belebt werden, sondern zentrale, für den evangelischen Glauben unhintergehbare Einsichten ebenso fair wie klar benannt werden. Deswegen gehören m.E. zu einer zukünftigen Choreographie einer „Ökumene der Profile“ drei wesentliche Elemente:

1. Differenzen profilieren

Ob man nun an die für uns Evangelische nach wie vor befremdliche Vorstellung von Ablass und Verringerung von Fegefeuerzeiten durch die Kirche denkt, ob man an die Marien-Verehrung denkt, ob man an ekklesiologische Themen mit ihren Fragen nach Amt und Ordination oder an die ethischen Positionierungen in Themen wie Sexualmoral und Empfängnisverhütung denkt: es gibt viele Themen- und Sachgebiete, die nach wie vor unterschiedlich gesehen werden. Eine präzise Beschreibung dieser Differenzen ist der erste Beitrag zu einer Ökumene der Profile: Die klare und unpolemische Beschreibung dessen, worin der Unterschied zwischen den Konfessionen besteht, wie er zu verstehen ist und worin seine geistigen theologischen Wurzeln liegen. Im Unterschied zu der früheren Zeit wäre das "erkenntnisleitende Interesse" nicht, Formulierungen zu finden, die möglichst schon eine ökumenisch gemeinsame Sprache avisieren (wie z.B. „communio sanctorum“), sondern es geht um eine größere Sachlichkeit und Nüchternheit, die die beiden Konfessionen im Idealfall gemeinsam die Unterschiede benennen lässt. Dabei wird man in allen diesen theologischen Sachfragen – so ist es jedenfalls meine Vermutung – letztlich und in der Tiefe auf einen Unterschied stoßen, den fair zu beschreiben einen unerlässlichen, aber noch keineswegs abgeschlossenen Schritt auf dem Weg zu größerer Gemeinsamkeit darstellt:

Das evangelische Verständnis von der Gegenwart Gottes eröffnet die fundamentale Einsicht, dass Gottes Geist und seine Wahrheit keineswegs einen Gegensatz zur modernen Welt, sondern im tiefsten ihren tragenden Grund bilden. Die von Pluralismus und Individualismus, vermeintlichem Säkularismus und Materialismus geprägte moderne Welt ist Gottes Welt, von ihm gelenkt und geleitet, von seinem Trost gehalten und von der verantwortlichen Mitgestaltung durch die Christen geprägt. Der evangelische Glaube schätzt und würdigt die nicht zuletzt in der Reformation freigesetzten Impulse der Aufklärung und der individuellen Freiheit, der klaren Unterscheidung zwischen Konfession und Bürgerrecht bzw. zwischen Staat und Kirche, der kritischen Wissenschaften und der Liberalisierung von Moralvorstellungen, obwohl er weiß, dass all diese Entwicklungen sich auch kritisch gegen ihn selbst gewandt haben und die Erfüllung seines Auftrages nicht eben erleichtern. Der evangelische Glaube ist keine „Gegen- oder Antimoderne“, er ist ein weltzugewandter Glaube, der darum die sichtbare Kirche das sein lassen kann, was sie ist: Teil dieser Welt, schuldfähig, erneuerungsbedürftig und liebenswert.

In diesem Kontext liegt in meinen Augen eine der wichtigsten fundamentaltheologischen Fragen, die wir im ökumenischen Gespräch zu klären haben. Denn die Irritation ist ja nicht zu übersehen, die durch die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI bei seinem Besuch in Bayern ausgelöst wurde. Die Irritation, die ich meine, bezieht sich nicht auf den vielleicht missverständlichen Rekurs auf die Äußerungen eines ostkirchlichen Kaisers von 1391, sondern auf die Einordnung der Reformation in einen Prozess der „Enthellinisierung“ und damit in eine vermeintliche Verfallsgeschichte der Neuzeit. Denn natürlich haben auch die Kirchen der Reformation und ihre Theologie immer für einen engen und notwendigen Zusammenhang zwischen Glauben und Vernunft plädiert, allerdings ohne dabei eine statische Festlegung auf eine bestimmte historisch gewordene Auffassung von der menschlichen Vernunft vorauszusetzen. Das Zeugnis des Evangeliums ist in seiner untrennbaren Zuordnung und seinem unaufhebbaren Gegenüber zur menschlichen Vernunft nicht ausschließlich an eine bestimmte historische Phase des Vernunftverständnisses gebunden. Wohl hat es viele Vernunftverständnisse im Laufe der Geschichte gegeben, der Glaube hat aber überall und zu allen Zeiten die Aufgabe, jedem Vernunftverständnis die Grenzen seiner Reichweite aufzuzeigen. Es würde dem gemeinsamen Zeugnis der ökumenischen Geschwister in der Welt schaden, wenn an dieser Schnittstelle zwischen Glauben und Vernunft nicht wechselseitig das gemeinsame Ringen geachtet würde mit jenen Geistern, die Glaube und Vernunft trennen wollen, - sei es, um den Glauben vernunftfrei und damit irrational zu machen, sei es, um die Vernunft glaubensfrei zu halten und damit absolut zu setzen.

2. Profilierte Mission - Mission mit Profil

Ein zweiter Aspekt einer zukünftigen Choreographie der Ökumene bezieht sich auf das gemeinsame Wirken nach außen. Wie wirkt eine ökumenische Situation in eine moderne Gesellschaft hinein, wenn die beiden großen Traditionsströme ihre Unterschiede bewusster nennen? M.E. wäre es ein Missverständnis, darin eine Schwächung der christlichen Kirchen zu sehen. Im Gegenteil, unter missionarischem Gesichtspunkt kann man sagen, dass die beiden großen Konfessionen in Deutschland dann faktisch zwei unterschiedliche Missionsstrategien vertreten, die beide mit dem je besonderen Profil verknüpft sind. Es ist, als hätte Christus gleichsam zwei Arme, mit denen er auf unterschiedliche Weise die fern gewordenen Menschen zu erreichen versuchte. In dieser Perspektive kann man die Stärken des jeweils Anderen verstehen als einen Beitrag zur Mission der einen christlichen Kirche. Im Grunde muss man wollen, dass der jeweils Andere mit seinen Stärken und Profilen besonders zum Leuchten kommt! Wir Evangelischen wollen und wünschen uns eine starke römisch-katholische Kirche, gerade weil wir evangelisch sind und bleiben wollen. Gerade im Rückblick auf die beiden Besuche des Papstes in Deutschland wird ja deutlich, dass z.B. die weltkirchliche Dimension der katholischen Kirche eine faszinierende Ausstrahlung hat. Darüber hinaus ist das Alter der Institution Rom mit seinen Symbolen, Riten und Traditionen von einer außerordentlichen Medientauglichkeit. Natürlich muss man die Nachhaltigkeit dieser Event-Inszenierung von Religion kritisch hinterfragen (übrigens auch beim Deutschen Evangelischen Kirchentag), aber wir sollten m.E. zuerst mit Respekt diese Stärken der Anderen sehen, - ohne nun gleich den untauglichen Versuch zu machen, selbst ein bisschen „katholisch“ zu werden, um von diesem Boom auch etwas abzubekommen. Denn die katholischen Geschwister haben ja genügend andere Schwächen und Probleme, so dass gilt: es ist genug, dass jede Kirche ihre eigenen Sorgen hat. Uns Evangelischen hilft die Erinnerung an die eigenen Stärken, und eben daran erinnert uns auch das Wort von der „Ökumene der Profile“. Individuelle Freiheit, autonome Innensteuerung, Gewissensverantwortung und daraus erwachsene Gemeinschaftskompetenz sind Grundpfeiler evangelischer Frömmigkeit, die es stark zu machen gilt. Darüber hinaus hat der Protestantismus immer eine besondere Nähe zu den Menschen und den Diskursen einer Generation gesucht, er hat die intellektuellen Diskussionen mit bestritten, zum Teil mitgeprägt, und ist in Wissenschaft und Kultur mit seiner Glaubensüberzeugung angstfrei in den offenen Diskurs getreten. Natürlich hat es hier immer auch die Schattenseite einer zu großen Zeitgeistanpassung gegeben, trotzdem wird das Profil der Evangelischen auch in Zukunft davon leben, dass wir diese Kompetenz im Umgang mit der jeweiligen Gegenwart nicht schlecht reden, sondern stärken. Profilierte Mission - eine Ökumene der Profile setzt eine Missionsstrategie frei, die nicht auf Neid und Konkurrenz ausgerichtet ist, sondern auf - wenn man so will – einen geistlichen Wettbewerb. Bischof Zollitsch aus Freiburg hat in einem anderen Zusammenhang von einer „arbeitsteiligen Ökumene“ gesprochen, ein Ausdruck, der auch sehr gut auf die missionarischen Herausforderungen unserer Zeit passt.

3. Zugewandtes Wächteramt

Zuletzt sei eine ganz konkrete Dimension der zukünftigen Choreographie benannt. Es gibt ein Kinderbuch mit dem wunderbaren Titel: „Wir können noch so viel miteinander machen“! Und das trifft auch für die Ökumene zu. Es kann nur allergrößte Zustimmung finden, wenn Kardinal Kasper jüngst einen Wegweiser zur Zukunft der Ökumene unter dem Leitmotiv einer ökumenischen Spiritualität veröffentlicht hat. Dieser Wegweiser beschreibt, was heute gemeinsam getan, geglaubt, gefeiert und gebetet werden kann. Das Buch von Kasper bekräftigt, dass die geistliche Ökumene die „Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“ ist; und es ermutigt dazu, dieser Seele Raum zu geben. Im Prinzip kann man als evangelischer Christ dieser Richtungsangabe nur zustimmen. Denn einerseits ist diese Betonung einer gemeinsamen Spiritualität immer schon die Basis aller konkreten Ökumene. Zum anderen kann diese gelebte Spiritualität an der Basis mit Herz und Sinn ausgefüllt werden und hineingetragen werden in die Nachbarschaften, in die gemeinsamen Herausforderungen und in die konkreten Partnerschaften.

Die ökumenische Bewegung braucht eine Erneuerung aus dem Geist der Sehnsucht und Hoffnung. Voller Hoffnung stimmt dabei die auch von Kasper betonte Aufgabe, diese Spiritualität im Hören auf das Wort Gottes zu entdecken und zu vertiefen. Mit dieser Orientierung werden wir den Blick auf den ökumenischen Kirchentag 2010 in München richten und ebenso leidenschaftlich wie klärend uns selbst, aber auch die ökumenischen Partner befragen, wie wir es denn mit der Ökumene halten.

Eine Choreographie der Ökumene sollte auch in Zukunft eine der intensivsten und eindrücklichsten geistlichen Choreographien des letzten Jahrhunderts nicht vergessen:

John Neumeiers Hamburger Inszenierung der Matthäuspassion; 1983 erstmals im Hamburger Michael aufgeführt, hat in ihrer Choreographie manche tiefe Wahrheit in Bilder gefasst, die man nicht vergessen kann. Ein Beispiel bildet der Übergang von der gemeinsamen Abendmahlsfeier zur Kreuzigungsszene. In dieser Choreographie ist es der gemeinsame Tisch, an dem alle mit ihm saßen und sein Vermächtnis hörten, der von den gleichen Jüngern aufgerichtet wird und so das symbolische Kreuz bildet, an dem er sterben soll. Das ist eine Wahrheit, die bei aller Ökumene der Profile nicht vergessen werden darf: Es sind die gleichen Jünger, die das Abendmahl feiern, die aus dem Tisch das Kreuz machen; es ist nicht ein Judas unter den Zwölfen, sondern in jedem der Zwölf ein Stück Judas.

Dieser Möglichkeit eingedenk wird jede zukünftige Choreographie der Ökumene den Anderen ehren und achten in seinem Profil und mit seinen Besonderheiten, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass gerade im eigenen Urteil über das Profil des Partners der Wechsel vom Tischteilnehmer zum Kreuzaufrichter getanzt wird. Dass dies nicht der letzte Tanz bleibt, ist ein Wunsch, der uns alle verbindet.