"Soziale Verantwortung und unternehmerisches Handeln – eine evangelische Perspektive" - Vortrag beim Evangelischen Forum Mannheim

Wolfgang Huber

I.

Dass unternehmerisches Handeln moralische Verpflichtungen einschließt, ist unzweifelhaft. Es ist uns in den letzten Wochen freilich besonders massiv am Gegenbild deutlich geworden – nämlich an offenkundigen Versuchen, finanzielle Erträge unternehmerischen Handelns vor dem Zugriff des Finanzamts in Sicherheit zu bringen. Es geht in diesen Wochen um Millionenbeträge, die am Fiskus vorbeigemogelt wurden. Die Staatanwaltschaft ermittelt gegen die Verdächtigen; hoffentlich werden die Kanäle, durch die das Steuergeld ins Ausland fließen kann, wirksam verstopft. Zunächst kann man darüber staunen, wie schnell jetzt die Geständnisse nur so purzeln und 27,8 Millionen Euro Steuern im Nu nachgezahlt wurden. Da haben sich die schlappen 5 Millionen Euro für eine DVD mit Daten aus Liechtenstein wirklich gelohnt.

Kein Zweifel: Die Steuerhinterziehung durch Steuermillionäre verstärkt die Vertrauenskrise gegenüber der Wirtschaftselite in unserem Land. Diese Krise war schon lange zu spüren. Abfindungen oder Spitzengehälter in schwindelnden Höhen haben dazu beigetragen. Aber es scheint Menschen zu geben, die auch in dieser Gehaltsklasse nie genug bekommen können. Deshalb müssen manche von ihnen auf unlautere Weise auch noch an den  Steuern sparen. Wenn das nachgewiesen wird, handelt es sich nicht um ein „Kavaliersdelikt“. Es handelt sich um einen Bruch des Rechts. Es handelt sich um Diebstahl an der Gemeinschaft. Vorgänge dieser Art zeigen, dass die Wirtschaft nicht nur auf Geld angewiesen ist, sondern auch auf Vertrauen. Die Erosion dieses Vertrauens ist beunruhigend – nicht nur für die Gesellschaft im Ganzen, sondern auch für die Wirtschaft selbst.

Was würde Jesus dazu sagen? Hier darf man einmal so unvermittelt fragen. Jesu Auskunft wäre ganz klar. Bei einem Disput über die Pflichten gegenüber der politischen Autorität zeigte er auf eine Steuermünze mit dem Bild des damaligen Staatsoberhaupts und sagte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“

Man kann freilich nachfragen, ob die öffentliche Erregung über solche Vorgänge wirklich durchweg ehrlich ist. Auch an ein anderes Wort Jesu kann man sich in solchen Zusammenhängen erinnern: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit sind in unserer Gesellschaft längst zu einer Massenerscheinung geworden. Wer hätte noch nicht sein Auto „unter der Hand“ reparieren lassen, um die Mehrwertsteuer zu sparen? Die meisten kennen sich aus mit der „Nachbarschaftshilfe“ bei den Schönheitsreparaturen in der Wohnung. Von all dem sagen wir, es seien Kavaliersdelikte. Mit Diebstahl habe das nichts zu tun. Aber genau darum handelt es sich: um Diebstahl an der Gemeinschaft.

Gewiss geht es derzeit um andere Dimensionen, um die der ehemalige Postchef Klaus Zumwinkel und andere Topmanager den Staat betrogen haben sollen. Das Schuldbewusstsein hält sich in Grenzen. Man wird in der Grauzone zwischen „noch erlaubt“ und „schon verboten“ schon durchkommen. Mehr als die Hälfte der deutschen Bürgerinnen und Bürger hat kein Problem damit, bei der Steuererklärung zu betrügen. Natürlich geht es bei den meisten nicht um Millionenbeträge, sondern um ein paar Hundert Euro im Jahr. Trotzdem: Von der Hand, mit deren Zeigefinger wir auf andere zeigen, weisen drei Finger auf uns selbst zurück.

Gleichwohl ist festzuhalten: Dass wirtschaftliche Verantwortung moralische Dimensionen hat, wird im Grundsatz derzeit nur von wenigen bestritten. Wer in den Leitsätzen, Visionen oder Leitbildern führender Unternehmen in Deutschland liest, wird kaum Anlass zu der Meinung finden, dass zwischen sozialer Verantwortung und unternehmerischem Handeln eine Spannung bestünde. In zahlreichen großen und mittelständischen Unternehmen wird vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Unternehmen sowohl nach innen als auch nach außen soziale Verantwortung wahrzunehmen hat. Viel Sorgfalt wird darauf verwandt, diese Verantwortungszusammenhänge transparent darzustellen und fest mit der eigenen Unternehmenskultur zu verknüpfen. 

Legt man einen weiten Begriff des „Sozialen“ zu Grunde, so kann man in den zugänglichen Texten über Selbstverständnis und Unternehmenskultur von Wirtschaftsunternehmen viele Bezugnahmen auf ihre soziale Verantwortung finden. Sie wissen sich dafür verantwortlich, „nachhaltig Mehrwert für unsere Mitarbeiter und Kunden“ zu erzeugen (Deutsche Bank) oder „Werte im Interesse unserer Kunden, Anteilseigner sowie unserer Mitarbeiter“ zu schaffen (BASF). Unternehmen fühlen sich dem „Schutz der Umwelt verpflichtet“ (Unternehmensgruppe Freudenberg). Sie übernehmen „Verantwortung in der Gesellschaft“ (BASF) beziehungsweise in den „Staaten, Ländern und Gemeinden, in denen wir tätig sind“, mit dem Ziel „als gute Nachbarn anerkannt [zu] sein“ (Unternehmensgruppe Freudenberg). Dazu tritt Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft, sei es, um „für kommende Generationen Perspektiven zu schaffen“ (Braun Melsungen AG), sei es, um innovativ sein zu können „vom Verbesserungsvorschlag für den Arbeitsalltag bis hin zur Entwicklung eines neuen Produktes“ (Braun Melsungen AG). Bereits diese kurze Skizze zeigt eine ganze Reihe von Aspekten der sozialen Verantwortung von Unternehmen. Und man wird in diesem Zusammenhang auch festzustellen haben: Unternehmerisches Handeln ist in dieser Hinsicht vielfach besser als sein Ruf.

Schon eine erste Annäherung zeigt also: Das Verhältnis von unternehmerischem Handeln und sozialer Verantwortung zeigt sich von zwei Seiten. Einerseits gilt soziale Verantwortung als selbstverständlicher Bestandteil unternehmerischen Handelns; andererseits besteht eben doch zwischen beiden eine offenkundige Spannung. Unternehmerisches Handeln folgt niemals ungebrochen den Leitbildern, die dafür aufgestellt werden; genauso wie politisches, kirchliches und anderes Handeln auch hat es zu tun mit der Kluft zwischen der Klarheit des Zielfotos und dem Staub auf dem Wege, zwischen Absicht und Tat; es kann sich der Zweideutigkeit und Gebrochenheit menschlichen Handelns nicht entziehen.

Besonders massiv bricht dieser Konflikt immer dann auf, wenn die Absicht der Gewinnerzielung und die Verantwortung für Mitarbeiter in Spannung zueinander gerät. In vielen Fällen wirkt es befremdlich, wenn Firmen – manchmal sogar in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang – die Erhöhung der Rendite und die Verminderung der Zahl der Arbeitsplätze zugleich mitteilen. Manchmal spricht daraus eine Haltung, die durch den Vorrang der Shareholder Values vor den Stakeholder Values geprägt ist. In vielen Fällen aber werden die Unternehmensverantwortlichen geltend machen, dass ihnen aus Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens und damit auch aus Verantwortung für den Erhalt von Arbeitsplätzen keine andere Möglichkeit bleibt, als einen bestimmten Standort oder eine bestimmte Fertigung zu schließen. Oft sind auch die örtlich Verantwortlichen in ihrer Entscheidung gar nicht frei; es bleibt ihnen unter Umständen aufgrund von Entscheidungen durch eine international agierende Konzernführung keine Wahl bleibt, als diese ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten umzusetzen. Umgekehrt kommt es ohne Zweifel auch dann zu einem Konflikt, wenn die Übernahme sozialer Verantwortung durch eine Unternehmensführung auf Kosten der wirtschaftlichen Notwendigkeiten geschieht; zu Recht wird man gegen ein solches Verhalten einwenden, dass soziale Verantwortung wirtschaftsverträglich gestaltet sein muss, wenn sie von einem Unternehmen dauerhaft wahrgenommen werden soll. Man sieht daran: Pauschalurteile verbieten sich ebenso wie Pauschalverurteilungen. Ethische Kriterien werden auch nicht jeden Konfliktfall aus dem Wege räumen. Aber dass ethisches Nachdenken über unternehmerische Verantwortung notwendig ist, haben diese Überlegungen wohl bereits verdeutlicht. Nach dem evangelischen Beitrag zu diesem ethischen Nachdenken wollen wir nun fragen. 

II.

Der Protestantismus hat sich immer wieder als ein wichtiger Motor wirtschaftlichen Engagements erwiesen. Die protestantische Ethik hat zum Feld ökonomischer Vernunft von ihrer Tradition her ein besonderes Verhältnis. Denn die Reformation stieß das Tor auf zur entschiedenen Bejahung der weltgestaltenden Verantwortung der Christen einerseits, zur allein Gott rechenschaftspflichtigen Glaubensfreiheit andererseits. Die Reformation zielte auf den inneren Zusammenhang zwischen Glaubensgewissheit und verantwortlicher Tat. Das Handeln aus Glauben wurde gerade als Folge des Glaubens selbst auf neue Weise ernst genommen. Zugleich wurde es befreit von der Vorstellung, es sei ein Mittel zum Erwerb des Heils; es wurde vielmehr klar und unzweideutig als eine Frucht des Glaubens selbst verstanden.

Von Anfang an hat dies zu einer engagierten Betätigung gerade auch evangelischer Christen in der Wirtschaft, in Bildung und Ausbildung, aber ebenso auch in der Politik geführt. Christen sind zur Selbstverantwortung und eben deshalb auch zur Mitverantwortung für das Ganze berufen – gerade weil sie nicht nur für sich allein, sondern für den Nächsten und darin für Gott leben, der der Herr der ganzen Welt ist. Die christliche Grundüberzeugung, in der sich Gottvertrauen und der Einsatz für den Nächsten miteinander verbinden, gewann eine kulturprägende Bedeutung.

Grundlegend dafür ist die Rede vom „Beruf“ eines Menschen. Sie ist im Neuen Testament verwurzelt und wurde in der Reformation neu belebt. Im ersten Korintherbrief des Apostels Paulus heißt es: „Nur soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gott einen jeden berufen hat ... Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“ (1. Kor. 7, 17.20). Aus diesem Bibelabschnitt entwickelte Martin Luther seine Vorstellung von Beruf und Berufung. Der Beruf eines Menschen ist nicht nur ein Job, sondern er beruht auf einer Berufung durch Gott. Für Luther war klar: Jeder Einzelne erfährt eine solche Berufung Gottes, jeder hat ganz besondere Qualitäten und Fähigkeiten. Diese Berufung kommt auch in der alltäglichen weltlichen Arbeit zum Ausdruck. Auch in einem solchen äußeren Beruf liegt eine innere Berufung: die Berufung nämlich zum Dienst am Nächsten und darin für Gott. Kein Beruf ist davon ausgenommen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Stallmagd – so heißt eines von Luthers Lieblingsbeispielen – dem Fürsten absolut gleich.
 
Damit ist jeder Vorrang einer religiösen Berufung vor weltlichen Tätigkeiten ausgeräumt. Aber auch weltliche Tätigkeiten – seien sie politischer, unternehmerischer oder sonstiger Art – haben aus dieser Perspektive keinen höheren Rang als andere Aufgaben. Man muss jedoch hinzufügen: Sie haben auch keinen geringeren Rang. Der Einsatz der Eltern für ihre Kinder ist aus einer solchen Warte ebenso ein „Beruf“ wie das ehrenamtliche Wirken für den Nächsten. Jegliche Berufserfüllung im engeren wie in diesem weiteren Sinn wird von Luther als Gottesdienst verstanden. So gewaltig die historischen Auswirkungen dieser Auffassung auch waren, so leicht wird sie doch auch immer wieder verdrängt. Das geschieht beispielsweise durch die Meinung, nur die bezahlte Arbeit sei ein Beruf, oder durch den Gedanken, es handle sich in Wahrheit nur um einen Job, für den allein der Eigennutz oder – vornehmer – die Eigenverantwortung als Maßstab gilt.
 
Die Folgen eines solchen Berufsverständnisses reichen weit. Wer sich durch Gott berufen und befähigt weiß, eine ganz besondere Rolle in der Gestaltung der Welt und im Miteinander der Menschen zu spielen, der wird seine Tätigkeit – wie immer sie auch aussehen mag – eher als erfüllend und sinnstiftend erleben und wird sich gefordert fühlen, Eigenverantwortung in seinem Bereich zu übernehmen. Diese Verantwortungsbereitschaft wirkte sich in der Ausbildung des neuzeitlichen Wirtschaftssystems auch auf höchst handgreifliche Weise aus.

Als entscheidender Motor der Entwicklung wirtschaftlichen Denken und Handelns erwies sich die durch die Reformation beförderte Idee, wirtschaftlichen Gewinn nicht einfach selber zu verbrauchen, sondern ihn wiederum einzusetzen, also Kapital zu akkumulieren und zu reinvestieren. Dazu musste man auf den Verbrauch des Gewinns verzichten. In diesem Sinn galt: Gewinn entsteht durch die Kunst des Verzichts. Die wirtschaftliche Dynamik der Neuzeit ist ohne diese reformatorischen Impulse nicht zu verstehen. Entscheidend ist dabei, dass nicht Profitinteresse als solches, erst recht nicht Gier oder Neid im Kern des Wirtschaftens angelegt waren; es kam und kommt vielmehr auf Sparsamkeit, Ehrbarkeit und Leistungsbereitschaft  an.

Doch diese Entwicklung führte zugleich zum Konflikt zwischen der Nächstenliebe und der Rationalität wirtschaftlicher Effizienz. Dadurch wurde das Engagement von Christen angesichts der ungelösten sozialen Frage im 19. Jahrhundert hervorgerufen. Die damaligen Wortführer entwickelten in der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Kapitalismus, der rapiden Industrialisierung und dann später auch der Demokratisierung Antworten, die, deutlich erkennbar, bis heute in wichtigen Grundelementen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in Deutschland fortleben. An einem reinen Wirtschaftsliberalismus, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern vorzufinden glaubte, wurde Kritik geübt; die Notwendigkeit eines verantwortlichen und gestaltenden Staates wurde betont. Mir erscheint es nicht als richtig, diese Haltung pauschal als sozialromantischen Antikapitalismus zu beschreiben – wenn dies auch als ein Element in diesem Prozess durchaus wahrzunehmen ist. Aber im Kern ging es um Sicherheiten gegenüber den sozialen Risiken, damit die Menschen über ihre unmittelbare Notsituation hinausblicken und sich als selbstbewusste Staatsbürger begreifen konnten. Der keimende Sozialstaat wurde so zur Grundlage wirklicher Freiheit für alle – was die marktwirtschaftliche Ordnung allein nicht gewährleisten konnte.

Inmitten der menschenverachtenden, mörderischen Herrschaft des Nationalsozialismus entwickelten einige Protestanten, die Gelegenheit und Mut hatten, über die Diktatur hinaus zu denken, neue Ideen und Konzepte für eine verantwortliche Wirtschafts- und Sozialordnung, die das Interesse der Menschen, Wohlstand zu erwerben, mit sozialem Ausgleich verband. Die 1943 im Freiburger Kreis entstandenen Entwürfe für eine Neuordnung von Staat und Wirtschaft und die Weiterentwicklung dieser Ideen zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft messen zudem den Grundrechten des Einzelnen zentrale Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist auch das von Alfred Müller-Armack zur Beschreibung der Sozialen Marktwirtschaft geprägte Begriffspaar „Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ zu sehen: Freiheit ist hier weit mehr als nur eine unternehmerische Freiheit, sie ist als die Freiheit des Individuums gemeint. Und um sie zu sichern, braucht es nicht nur die freiheitliche politische Ordnung, sondern auch eine Ordnung der Wirtschaft, die den Wettbewerb sichert und stärkt und damit Macht kontrolliert. Soziale Gerechtigkeit ist hier weit mehr als die Garantie, dass alle ihr Auskommen haben; vielmehr funktioniert sie als Gestaltungskriterium für die Ordnung der Wirtschaft: Die Forderungen nach Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer leiten sich daraus ab.

Die zu Grunde liegende Einsicht gilt auch heute. Ohne die Selbststeuerung der Wirtschaft durch Markt und Wettbewerb geht es nicht. Es braucht freie Märkte. Aber Märkte sind keine Naturereignisse, sondern Institutionen und Konventionen, die vielfältige kulturelle Vorraussetzungen haben und einer sensiblen Regelung bedürfen. In der Wahl derjenigen gesellschaftlichen Bereiche, die der Marktlogik unterworfen werden, und in der Rahmensetzung für diese Märkte werden Wertentscheidungen - und keineswegs nur Machtverhältnisse - ausgedrückt. Die Funktion des Staates als Korrektiv und Verkörperung des Allgemeinwohls in diesen Prozessen darf nicht aufgegeben werden.

Die zugrunde liegende Freiheit ist weder durch Beziehungslosigkeit noch durch Willkür angemessen beschrieben. Hinter uns liegt eine Entwicklung, in der die westlichen Gesellschaften die Freiheit als Unabhängigkeit von Fremdbestimmung nicht nur zu verstehen gelernt, sondern auch erobert haben. Auch die innere oder äußere Distanzierung von einer Bestimmungsmacht – des Staates, der Kirchen, ja selbst gesamtgesellschaftlicher Ansprüche – gehört in diesen Zusammenhang. Heute geht es darum, Menschen, die sich ihrer Freiheit bewusst sind, neu dafür zu gewinnen, dass sie Bindungen eingehen und darin den Sinn ihrer Freiheit erkennen. Denn in einer evangelischen Perspektive vollzieht sich Freiheit in Verantwortung. Die Freiheit des Geschöpfes antwortet auf die Freiheit des Schöpfers; gerade darin ist der Mensch das dem Schöpfer entsprechende, nämlich in Freiheit antwortende Geschöpf. Das reformatorische Freiheitsverständnis richtet sich auf die im Glauben begründete und in der Liebe verantwortete Tat. Die so verstandene Freiheit sondert die Menschen nicht voneinander ab, sondern ordnet sie einander zu. Sie ist nicht ein Zustand, den man im Zweifelsfalle gegen andere verteidigt. Christliche Ethik in ihrer evangelischen Gestalt hat so ebenso wie die katholische Soziallehre einen maßgeblichen Einfluss auf Konzeption und Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. „Verantwortete Freiheit“ – so lässt sich der Impuls bezeichnen, den die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens in die ethische Begründung wirtschaftlichen Handelns eingebracht hat.

III.

Neue Untersuchungen bestätigen, dass dieser Impuls von aktueller Bedeutung ist. Sie zeigen nämlich, dass die Lebenshaltung von Christen sich von anderen Lebenseinstellungen durch Verantwortungsbereitschaft und Zuversicht auszeichnet. Menschen, die von Gott auch im Angesicht von Schwierigkeiten Gutes erwarten, stellen sich zuversichtlicher auf die Zukunft ein als diejenigen, für die der Mensch das Maß aller Dinge ist. Menschen, die sich an die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst gebunden wissen, beziehen in ihre Überlegungen auch das Wohl des Nächsten und nicht nur das eigene Wohl ein. Menschen, denen bewusst ist, dass sie für ihr Leben im Letzten Gott Rechenschaft schulden, werden Anstand und Fairness auch dann gelten lassen, wenn die Verletzung dieser Regeln ihnen einen Vorteil bringen würde. Menschen, die aus der Zusage von Vergebung und Rechtfertigung leben, werden in jedem Menschen mehr sehen, als er selbst aus sich macht, und auch den Menschen in seiner Würde achten, der vor den Anforderungen der Leistungsgesellschaft versagt.

Ich sehe in diesem Zusammenhang zwei Entwicklungen, die ein wieder erwachtes Bewusstsein für die Werte, die unsere Gesellschaft prägen, für die Wurzeln, aus denen heraus sie zu wachsen vermag, zum Ausdruck bringen.

Widerspruch wird heute laut, wo es nur noch darum geht, die Umsatzchancen des Handels zu steigern und Menschen nur als Konsumenten wahrgenommen werden. Solches geschieht, wenn die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage beständig erweitert wird und dabei auch die Adventssonntage einbezogen sind. Damit wird der besondere Schutz des Sonntags in sein Gegenteil verkehrt, den das Grundgesetz als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ beschreibt. Menschen sind interessiert an einer Neuausrichtung ihres Lebens nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Nützlichkeit. Ich rate deshalb sehr dazu, die soziale Institution des arbeitsfreien Sonntags zu erhalten und mit ihr pfleglich umzugehen. Und den Christen rate ich, dadurch einen deutlichen Beitrag zur Sonntagskultur zu leisten, dass sie zeigen, was das bedeutet: „Du sollst den Feiertag heiligen.“

Die zweite Entwicklung, die sich beobachten lässt, ist eine neue Wertschätzung der Familie. Jungen Menschen ist heutzutage der Zusammenhalt in der Familie und unter Freunden genauso wichtig wie ein vertrautes Umfeld, in dem sie sich geborgen und geschützt fühlen. In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in besonderer Weise hervorzuheben. Sowohl im Blick auf die Berufstätigkeit von Frauen als auch im Blick auf die wachsende Teilhabe von Männern an der Familienarbeit sollte diese Vereinbarkeit zu einem vorrangigen Kriterium für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen gemacht werden. Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen an die Politik im Blick auf familienunterstützende Maßnahmen; vielmehr verbinden sich damit auch Erwartungen an die Wirtschaft – und ebenso auch an alle öffentlichen und kirchlichen Arbeitgeber. Im Übrigen gilt die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur für Eltern mit Blick auf ihre Kinder; sondern genauso umgekehrt für erwachsene Kinder mit Blick auf ihre alt gewordenen Eltern. Auch die Frage, wie mit älteren Arbeitnehmern umgegangen wird, muss in diesem Zusammenhang diskutiert werden.

IV.

Die neue Sensibilität für die Werte, die das eigene Leben prägen, trifft auf eine Situation fortschreitender Globalisierung. Die Spannung zwischen den Erfordernissen der Globalisierung und dem Bemühen um eine neue Wertorientierung sind offenkundig. Wie sich beides miteinander verbinden lässt, ist die große Herausforderung unserer Zeit. Mit der Globalisierung stellen sich neue wirtschaftliche und soziale Fragen, die mutige Entscheidungen erfordern. Technologische Entwicklungen haben Zeit und Raum in nie gekannter Weise schrumpfen lassen. Wir leben nicht länger in geschlossenen Häusern, in denen wir unseren Geschäften nachgehen können. Fenster und Türen stehen offen und der Wind weht herein. Entscheidungen, die irgendwo am anderen Ende der Welt getroffen werden, beeinflussen nachhaltig unser Leben.

Die Globalisierung hat viele Facetten. Sie schlägt sich in einem erheblich gesteigerten Wettbewerb der Unternehmen nieder – und sie findet auch statt als ein Wettbewerb der Regionen samt ihrer jeweiligen Bevölkerungen; ein Wettbewerb der Gemeinwesen. Unternehmen sind hier die Nachfrager, die über ihre Standortentscheidungen Beschäftigung, Einkommen und Steueraufkommen großen Einfluss auf die internationale Verteilung von Ressourcen ausüben. Angesichts der zunehmenden globalen Vernetzung industrieller Produktionsprozesse und der sich ähnlich schnell verändernden Spielräume nationalstaatlicher Politik ist der Anpassungsdruck auf bestehende Strukturen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft spürbar. Es handelt sich um einen neuen Wettbewerb unter dem Vorzeichen wirtschaftlicher Effizienz. Im Gegensatz zum Kalten Krieg ist das Ziel aber nicht mehr eine Systemlegitimation durch ökonomische und soziale Befriedung, sondern etwas, was man als „systemische Produktivität“ bezeichnen kann, die an der Bereitstellung leistungsfähiger Infrastruktur, funktionierender Märkte und qualifizierter Arbeitskräfte gemessen wird. Es gibt nicht mehr den großen Gegensatz zwischen der „freien Marktwirtschaft“ und den Planwirtschaften, sondern eine Vielfalt von unterschiedlichen Kapitalismen und damit verbundenen wirtschafts- und sozialpolitischen Pfaden in die Zukunft. Dabei kommt es zu einem verschärften Benchmarking. Welcher Weg – in Europa: der skandinavische, der angelsächsische, der südeuropäische oder der mitteleuropäische und deutsche Weg – erreicht einen hohen und gut verteilten Wohlstand für alle? Welcher Weg sichert den inneren Frieden und bietet Chancen auf Teilhabe für möglichst viele seiner Bürger? Darüber gehen die Diskussionen.

In dieser Situation stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit neu. Es ist vor allem die Erfahrung, in neuer Weise den Mechanismen der weltweiten Finanzmärkte ausgeliefert zu sein, die uns in den letzten Jahren in Deutschland – aber auch anderswo – zu schaffen gemacht hat. Früher wurden die im Inland erwirtschafteten Überschüsse auch wieder reinvestiert und sorgten so für den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Vielleicht war die Einkommens- und Vermögensverteilung nie wirklich gerecht, aber die meisten Menschen hatten genug zum Leben und wurden zu Teilhabern des gesellschaftlichen Ergebnisses. Heute kann man unter dem Einfluss des globalen Marktes, überall auf der Welt investieren. So aber koppelt sich die Erzeugung von Überschüssen von der realen Produktion ab. Es wird den Finanzmärkten überlassen, wo verdient – aber auch wo  bisweilen wieder verloren wird. Profiteure dieser Entwicklung sind die Anleger großer Vermögen. Die Möglichkeiten des globalen Marktes treiben die Gewinnerwartungen hoch und lassen auch deutsche Unternehmen in einer früher nicht gekannten Weise Renditemaximierung betreiben. Die Produzenten selbst gehören allzu oft eher zu den Verlierern dieser Entwicklung. So geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auf – in einem Tempo, das den sozialen Frieden bedroht. Aus dem evangelischen Leitgedanke der „verantworteten Freiheit“ ergibt sich in diesem Zusammenhang die Forderung nach Transparenz in allen Bereichen unternehmerischen Handelns – auch und gerade auf den Finanzmärkten. Deshalb ist insbesondere auch international agierenden Hedge-Fonds und Private-Equity-Fonds Transparenz und Rechenschaftspflicht abzuverlangen. Spekulative Finanzinteressen dürfen sich nicht hinter dem Rücken der Verantwortlichen so durchsetzen, dass sie produktive Möglichkeiten wirtschaftlichen Handelns zerstören, statt ihre Entfaltung zu fördern.

Stärker als bisher sollte unser Land auf eine effiziente Regulierung auch der internationalen Finanzmärkte hinwirken. Hier muss ein hohes Maß an Transparenz zur Steuerung eines fairen Wettbewerbs mit der verstärkten Abschöpfung von spekulativen Gewinnen einhergehen. Es gilt dann auch, ethische Maßstäbe auch für das Verhalten an der Börse zu entwickeln und ihre Einhaltung zu kontrollieren.

In der deutschen Tradition sind Unternehmen nie nur den Shareholdern, sondern auch den Mitarbeitenden verpflichtet und tragen Verantwortung für das Gemeinwohl. Statt den Standort Deutschland in dieser Hinsicht schlecht zu reden, sollten wir würdigen und festhalten, dass es hier in der Sozialpolitik – und nicht zu vergessen auch in Traditionen des Arbeitsrechts – immer schon eine Option für die Schwächeren gegeben hat.

Das ist auch nötig bei der Gestaltung und Führung von Unternehmen selbst. Die Veröffentlichung von Eigentumsverhältnissen eines Unternehmens, die damit verbundenen Interessen oder auch die Führungsstruktur eines Unternehmens lassen deutlich werden, in welchen Verantwortungshorizont ein Unternehmen die eigene wirtschaftliche Freiheit einzeichnet. Zu der hier notwendigen Transparenz gehört auch die Durchsichtigkeit der Bezüge von Managern und die Deckelung ihres Wachstums. Zwar stimmt es, dass insbesondere in Dax-Unternehmen die Verweildauer von Spitzenmangern in ihren Vorstandspositionen immer kürzer wird. Doch auch dieser Hinweis vermag es nicht zu rechtfertigen, dass deren Einkünfte sprunghaft nach oben steigen, während die Arbeitnehmereinkünfte unter Verweis auf Kostengründe sehr oft nicht einmal mit dem Kaufkraftverlust Schritt halten. Auch im Blick auf Managergehälter und Abfindungen muss Transparenz in eine oft emotional geführte Debatte gebracht werden.

Eine klare ethische Orientierung ist insbesondere bei eigentümergeführten Unternehmen wahrzunehmen. In vielen mittelständischen Unternehmen ist die Bindung der Unternehmensführung nicht nur an die eigenen Gewinninteressen, sondern ebenso an das Wohl der Belegschaft deutlich ein starkes Handlungsmotiv. Entsprechende Erwartungen sind aber auch an international agierende Großunternehmen zu richten; unternehmerisches Handeln ist auch in diesem Fall daran zu messen, welche Konsequenzen es für die Fragen von Arbeit und Arbeitslosigkeit hat.

Die Synode der EKD in Würzburg im November 2006 hat zu diesen Fragen festgehalten, dass Reichtum in einer Gesellschaft zur Sicherung des allgemeinen Wohlstandes herangezogen werden muss, um Unsicherheiten, Unfreiheiten und Beeinträchtigungen für alle zu reduzieren. Dies gilt auch weltweit: Wird Reichtum zu einem angemessenen Teil dazu eingesetzt, Maßstäbe weltweiter Gerechtigkeit zu erreichen? Oder aber kommt er überhaupt nur durch die ungerechte Ausnutzung der Armen zustande? Mit diesen Fragen knüpfen wir an die überkommenen Überzeugungen von einer dem Leben und den Menschen dienenden Wirtschaftsordnung an. Davon werden wir nicht abrücken: Die Wirtschaft ist nicht um ihrer selbst willen da – sie hat einen Platz in der Schöpfung Gottes – aber eben in ihr – nicht ihr gegenüber.

V.

Intensiver noch als bisher muss die Frage erörtert werden, ob die Art und Weise, in der Unternehmen auf die Erfordernisse der Globalisierung reagieren, mit elementaren Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit vereinbar ist oder nicht. Inwiefern wird ein Unternehmen seiner sozialen Verantwortung im Unternehmen selbst gerecht?

Soziale Gerechtigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf die jetzige Generation. Sondern sie bezieht sich genauso auf die Generation unserer Kinder. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert uns mit der Frage, ob wir den nach uns Kommenden die gleiche Freiheit zuerkennen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Sie nötigt uns dazu zu prüfen, ob wir ihnen die gleichen Handlungsmöglichkeiten offen halten, von denen wir so selbstverständlich Gebrauch machen. Schon das Wissen darum, dass die Ressourcen begrenzter sind, als wir vor Generationen gedacht haben, nötigt dazu, mit ihnen sinnvoll, und das heißt schonend, umzugehen. Nur dann haben wir eine gemeinsame Zukunft auf diesem Planeten. Allein schon von dieser Einsicht her sind Rationalität und Effizienz im Umgang mit den Ressourcen geboten – aus Nächstenliebe, aus Liebe für die nächste Generation und aus ökonomischer Einsicht. Nachhaltigkeit wird deshalb zu einem Imperativ wirtschaftlichen Handelns. Der Klimawandel ist dafür die große Herausforderung. Wirtschaftliche Antworten auf diesen Wandel können sich nicht, wie man inzwischen manchmal hören kann, auf das Ziel der Anpassung an den angeblich ohnehin unvermeidlichen Klimawandel beschränken. Sie müssen vielmehr vorrangig auf die Mäßigung schädlicher Emissionen – das heißt insbesondere des CO2-Ausstoßes – ausgerichtet sein. Die Debatte, ob diese Mäßigung als Ziel wirtschaftlichen Handelns akzeptiert wird, steht uns in erheblichem Umfang erst noch bevor. Akzeptiert wird sie häufig nur insoweit, als sie durch die Kostenentwicklung erzwungen wird. Will die Wirtschaft jedoch wirksam gegen die Vertrauenserosion vorgehen, der sie gerade in solchen Fragen ausgesetzt ist, wird man mehr von ihr erwarten müssen.

Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, dann darf man nicht alles und jedes unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, dann muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind deshalb Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Straßenrand liegen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen. Der Wärmestrom der Solidarität darf nicht versiegen.

Soziale Gerechtigkeit hat es nicht nur mit der Frage der Verteilungsgerechtigkeit zu tun, sondern sie muss zugleich als Beteiligungsgerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit verstanden werden. Beteiligungsgerechtigkeit meint dabei, den Menschen zu ermöglichen, das Ihre aktiv in die Gesellschaft einzubringen; Befähigungsgerechtigkeit meint, dass die Menschen im Prozess von Bildung und Ausbildung die Möglichkeit erhalten, ihre Gaben, ihre Begabungen so zu entwickeln, dass sie das Ihre auch selber tun können. Bildungspolitik ist insofern der Dreh- und Angelpunkt sozialer Gerechtigkeit. Die Gesellschaft ist gut beraten, durch Bildung sowie durch die Eröffnung von entsprechenden Beteiligungsmöglichkeiten die Menschen zu so viel Selbstverantwortung wie nur möglich zu befähigen. Wer Jugendliche nicht beteiligt, wer ihnen keine Möglichkeit zur Ausbildung und danach zu eigener Erwerbstätigkeit eröffnet, rührt an den Kern der sozialen Gerechtigkeit; wer die Jugendhilfe unbedacht kürzt, der geht an den Nerv des Sozialstaats. Er wird übrigens damit keine Kosten sparen; sondern die versäumte, vielleicht noch rechtzeitige Hilfe, die Beteiligung eröffnet, wird an anderer Stelle neue, vielleicht weit höhere Kosten hervorrufen.
 
Vorrangig sollten wir unsere Bemühungen auf die Aufgabe richten, die Vererbung von Armut in Deutschland zu bekämpfen, also Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen in besonderer Weise zu fördern. Denn gegenwärtig wird Bildungsferne und in der Folge davon auch soziale Armut vererbt. Kinder, die in Armut aufwachsen, erben die  Verhaltensmuster der Eltern; sie wachsen in ihren Familien in eine „Deutungsgemeinschaft“ hinein, die die erlebte Perspektivlosigkeit als unabänderlich ansieht. Menschen in Armut – und Familien sind hier eben nicht ausgenommen – bestätigen einander in der Hoffnungslosigkeit, eine Veränderung für ihre Situation erreichen zu können. Deshalb muss versucht werden, durch Bildungsanstrengungen die Vererbung von Armut zu verhindern. Das schließt die Berufsausbildung im dualen System ein. Insofern ergibt sich aus dem im christlichen Glauben verankerten Ansatz der „gerechten Teilhabe“ eine unmittelbare Folge für wirtschaftliches Handeln. Zu ihr gehört auch, dass wirtschaftliches Handeln, das auf die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen gerichtet ist, in besonderer Weise als ethisch vorzugswürdig zu gelten hat. Als evangelische Kirche haben wir das dadurch unterstrichen, dass wir die Initiative „Arbeit plus“ geschaffen haben. Sie geht auf einen Anstoß zurück, den Rainer Meusel als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Leipzig 1997 gegeben hat. Inzwischen ist aus der Verleihung des Arbeitsplatzsiegels „Arbeit plus“ eine feste Tradition geworden, durch die wir die Bedeutung einer vorbildlichen Arbeitsplatzpolitik hervorheben.

Damit wird ein Grundmotiv christlicher und evangelischer Ethik aufgenommen. „Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“; so heißt ein wichtiger Satz der christlichen Tradition, der sich in dieser Form zum ersten Mal bei Martin Luther findet. Schon die biblische Tradition entwickelt in völlig klarer Weise den Grundsatz, dass jeder Mensch die ihm von Gott gegebenen Gaben und Talente entfalten soll, um seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu leisten.

Deutlich ist allerdings auch, dass eine Überforderung der Menschen und eine einseitige Bevorzugung der besonders Leistungsfähigen vermieden werden muss. Der Arbeit sind durch den Sonntag und durch andere Regelungen Grenzen gesetzt, die zum Wohle des Menschen einzuhalten sind. Und es ist auch deutlich, dass die Arbeit, eben weil sie eine so hohe Wertschätzung in der christlichen Tradition erfährt, so zu organisieren ist, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Wirtschaft soll mit allen betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die notwendigerweise den Leistungsfähigeren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren, darf nur so groß sein, dass durch die dadurch gesteigerte Produktivität auch den Schwächeren ein würdiges Leben, das vollen Anteil an der Gesellschaft eröffnet, möglich gemacht wird. Dafür ist es notwendig, dass die Situation des einzelnen in zureichendem Maß berücksichtigt wird. Motivieren, befähigen, beteiligen kann man nur einen Menschen, wenn man ihn in seiner besonderen Situation ernst nimmt, wenn man ihn als Individuum wahrnimmt, wenn man ihm in diesem Sinne mit Liebe begegnet.

VI.

Neben die soziale Verantwortung im Unternehmen tritt die soziale Verantwortung für das Gemeinwohl. Neben die „Corporate Social Responsibility“, tritt die „Corporate Citizenship“. Dieser Bereich hat in jüngster Zeit deutlich an Gewicht und Bedeutung gewonnen. Empirische Untersuchungen mahnen allerdings zur Vorsicht. So weit eine gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers anerkannt wird, wird diese von kleinen und mittleren Unternehmen nachhaltiger wahrgenommen. Vielerorts ist der Mittelstand das Rückrat einer Region nicht nur in wirtschaftlicher Perspektive, sondern genauso im Bereich der Kultur, des Sports, in Bildung und Wissenschaft, im schonenden Umgang mit Ressourcen.

Weit deutlicher als mittelständische Unternehmen setzen große Konzerne „Corporate Citizenship“ zur Image-Pflege ein. „Image Construction“ wird zu einem erkennbaren Ziel der neuen Konzepte von „Corporate Social Responsibility“. Damit zeigt sich „Corporate Citizenship“ einerseits als eine verbreitete Strategie zur Immunisierung gegenüber der Kritik an der Führung großer Unternehmen. Das World Economic Forum hat unlängst festgestellt, dass seit dem Beginn entsprechender Erhebungen große Unternehmen noch nie auf so wenig Vertrauen stießen wie heute. Andererseits können nur global operierende Großunternehmen auch länderübergreifend im Sinne einer „Corporate Citizenship“ tätig sein. Deshalb muss die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in den Unternehmen weiter gestärkt werden.

Wo „Corporate Citizenship“ freilich allein zur Imagepflege genutzt wird, erleben wir eine gravierende semantische Verschiebung des Begriffs der Verantwortung. Nicht mehr die Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl oder die Rechenschaftspflicht gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestimmt dann diesen Begriff; soziale Verantwortung wird vielmehr als eine freiwillige Leistung verstanden, die so weit erbracht wird, wie sie für das Gewinninteresse des Unternehmens als nützlich erscheint.

Dem muss klar entgegengehalten werden: So sehr gesellschaftliche Verantwortung mit wirtschaftlicher Effizienz verbunden werden muss, so wenig reicht es, gesellschaftliche Verantwortung allein unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Das wird auch in der Öffentlichkeit sehr sensibel wahrgenommen; diese Ambivalenz prägt dann auch das öffentliche Bild eines Unternehmens.

Manche Berichterstattung ist auch von stereotypen Wahrnehmungen entstellt, hinter denen menschliche Züge zurücktreten. Es mangelt häufig an selbstverständlicher Anerkennung gegenüber jenen, die sich aus der Umklammerung der Rahmenbedingungen freimachen, mutig einen Weg auch gegen Widerstände gehen, Chancen nutzen und Risiken kontrollieren. Wer sich traut, Unternehmer zu sein und die Fähigkeiten dazu hat, verdient alle Anerkennung und Unterstützung.

Deshalb liegt mir sehr daran, unternehmerisches Handeln unter dem Gesichtspunkt zu sehen, wie sich unternehmerischer Geist zum Wohle aller zur Geltung bringt. Es lässt sich doch schwerlich behaupten, dass wir einen Überschuss an solchem Geist und an „unternehmerischen Kraftfeldern“ in unserer Gesellschaft hätten. Denn unternehmerisches Handeln ist nach der klassischen These von Josef Schumpeter durch den Versuch gekennzeichnet, produktive Strukturen dadurch zu bewahren, dass sie beständig erneuert werden. Unternehmerisches Handeln ist strukturinnovativ. Diese Bereitschaft, nicht am Gewohnten und Bekannten festzuhalten, sondern Veränderungsprozesse zuzulassen, ist ein wesentliches Element auch für die Entwicklung einer Gesellschaft. Hier sehe ich einen wesentlichen Beitrag von Unternehmerinnen und Unternehmer zu bürgerschaftlicher Verantwortung. Freilich wäre es in sich widersprüchlich, Veränderungsprozesse nicht in einem nachhaltigen Sinne anzulegen, weil dies gerade zu einer Verminderung sowohl des unternehmerischen als auch des gesellschaftlichen Wertes führen würde.

VII.

Transparency International hat unlängst festgestellt, dass protestantisch geprägte Länder die niedrigste Korruptionsrate in unserer Welt aufweisen. Als ich das las, hoffte ich, dass unser Land noch möglichst lang protestantisch geprägt bleibt – oder auch: dass es wieder protestantisch geprägt wird. Die kritisch-konstruktive Bedeutung des christlichen Glaubens für wirtschaftliches Handeln hat offenbar damit zu tun, dass der Glaube dem Menschen nicht nur eine starke Identität, sondern zugleich auch den notwendigen Abstand von sich selbst verleiht. Er hilft ihm dabei, noch einmal innezuhalten, bevor auf Biegen und Brechen ein Vorgehen gewählt wird, das vermeintlich im persönlichen Interesse oder im Interesse des eigenen Unternehmens ist – auch wenn es gegebenenfalls gegen Recht und Moral verstößt. Die These, die ich damit verbinde, heißt: Langfristig ist es auch im wirtschaftlichen Interesse eines Unternehmens, dass es als verlässlich und vertrauenswürdig gilt. Deshalb zahlen sich Korruption und Untreue auf Dauer wirtschaftlich nicht aus. Fairness enthält verglichen damit einen deutlichen Mehrwert. Fairness ist vorzugswürdig.

Es liegt auf der Hand, dass eine Wirtschaft, die nur noch von den Gedanken an Eigennutz und Gewinnsteigerung angetrieben ist, ohne wirklichen Sinn und Zweck in die Zukunft hinein operiert. Eine Gesellschaft, die das Eigeninteresse bis zum Exzess kultiviert, zehrt die Ressourcen auf, auf die das gemeinsame Leben – insbesondere in den Bereichen von Familie, Kultur und Glaube – angewiesen bleibt.  Aber auch wirtschaftliches Handeln selbst – die tägliche Zusammenarbeit im Betrieb zeigt das – kommt ohne Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, ja Empathie nicht aus. Kein Unternehmen in der Welt hat eine gute Zukunft, wenn es alle schlechten Charaktereigenschaften der Menschen in sich selbst freisetzt oder gar noch kultiviert. Vielmehr zerfällt es, weil sich das Vertrauen zersetzt, das für alle dauerhafte Arbeit unabdingbar ist. Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf der Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen, geraten schnell auf die Verliererseite.

Wir müssen dahin kommen, dass wirtschaftliches Handeln wieder als kulturelles Handeln begriffen wird. Nur wenn weiterhin nach dem Sinn wirtschaftlichen Handelns gefragt wird, können wir auch unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft das uns Mögliche tun, um dem Leitbild einer sozial verantworteten Wirtschaft, die im Kern auf persönlicher Zurechenbarkeit von Verantwortung beruht, eine Zukunft zu geben. Dazu ist es nötig, dass sich die Effizienz des Wirtschaftens mit einer klaren Wertorientierung verbindet. Wir brauchen eine neue Synthese von Effizienz und Sinn. Das wird nicht nur langfristig klug, sondern auch für alle von Vorteil sein.